Schweitzer Fachinformationen
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Es ist noch früh am Morgen, als mich Alessias Stimme aus dem Schlaf reißt und mir mitteilt, dass unser Vater verschwunden ist.
Warum lässt sie mich nicht in Ruhe?
Am liebsten würde ich ihr das Telefon ins Gesicht schleudern. Im Grunde interessiert es mich nicht. Ich kratze mich an der Nase und denke darüber nach, dass nicht jeder das Glück hat, genau zu wissen, wann die Kinderzeit zu Ende ist. Meine Schwester jedenfalls weiß es nicht, ich dagegen schon.
Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich einen Lattenzaun vor mir. Um ihn zu überwinden, brauchte man lange Beine. Und die hatte ich, und das erlaubte mir immer wieder, von zu Hause wegzulaufen.
Es ist Sonntag früh, ein Blick auf den Wecker sagt mir, dass es gerade mal acht ist. Vorgestern habe ich meinen Job gekündigt, das dritte Mal in diesem Jahr. Während ich aus dem Bett klettere, das Ohr noch immer an das Smartphone gepresst, sehne ich mich nach einem Kaffee. Und ich frage mich, wo der Alte sein könnte. Hatte er in seinem grenzenlosen Egoismus wieder mal vergessen, seiner Frau und seiner Tochter Bescheid zu sagen, und ist einfach abgehauen? Zutrauen würde ich es ihm.
»Mira, du musst uns helfen.«
Diese weinerliche Kinderstimme, die nicht zu einer jungen Frau passen will.
»Wie bitte?«, frage ich, während ich in einem Berg Klamotten, der auf dem Stuhl liegt, nach einer Unterhose suche, ohne eine zu finden.
»Von uns kann keiner nach ihm suchen, Mama hat einen hysterischen Anfall nach dem anderen. Und ich, also Miranda, ich bin ein bisschen schwanger.«
»Du bist was? Verdammt, wie alt bist du eigentlich?« Ich versuche krampfhaft, den Altersunterschied zwischen uns zu ermitteln. »Vierzehn vielleicht?«
»Einundzwanzig, Mira«, gibt sie beleidigt zurück. »Und ich habe letztes Jahr geheiratet, du hast sogar eine Einladung bekommen.«
Stimmt, den Umschlag habe ich ungeöffnet in den Mülleimer geworfen, erinnere ich mich.
»Könnt ihr denn nicht die Polizei rufen? Einen Privatdetektiv engagieren? Meinst du etwa, ich hätte ein spezielles Radar für verloren gegangene Väter, die ich kaum noch kenne?«
»Tut mir leid, wenn ich nicht lache. Unser Vater ist verschwunden, verdammt! Ist dir das wirklich egal, Schwesterherz?«
Allmählich werde ich sauer, aber ich beherrsche mich und schweige. Alessia weiß offensichtlich nichts von dem, was zwischen uns vorgefallen ist.
Endlich stoße ich bei meiner Wühlerei auf einen Slip, den ich mir auf einem Bein stehend überstreife, während ich mit der freien Hand die Küchentür öffne.
Ich traue meinen Augen nicht. Da sitzt jemand.
»Wer zum Teufel bist du?«
Was macht dieser Typ hier? Ein Mann, ein Wesen aus Fleisch und Blut. Mit Schultern, Hüften, Unterleib, Beinen. Und etwas Unaussprechlichem, das allerdings gerade durch eines meiner Handtücher verdeckt wird.
Meine Schwester redet weiter, sie hat gar nicht mitbekommen, dass ich einen fremden Gast habe.
»Papa war bereits seit Tagen so komisch, er hat die Sachen von Nonna Gemma sortiert, die seit Langem in Kisten und Kartons auf dem Speicher stehen. Angeblich, um sie irgendwann der Gemeinde zu geben.«
Der Name meiner Großmutter jagt mir einen Schauer über den Rücken.
»Alles okay?«
Der nackte Kerl schaut mich von oben bis unten an. Seine Augen sind so strahlend blau, wie ich es noch nie gesehen habe. Beim Versuch, die Küchentür wieder zuzumachen, klemme ich mir den großen Zeh ein und fluche.
»Mira, alles in Ordnung bei dir?«, höre ich Alessias Stimme, die etwas verstört klingt.
»Ja, ja, der Fernseher läuft.«
Ich habe seit Jahren keinen Fernseher mehr, doch das weiß sie ja nicht, schließlich hatte ich seit zwölf Jahren keinen Kontakt mehr mit der Familie. Meine Telefonnummer haben sie sich allerdings notiert, für den Fall der Fälle.
Nach der Uni bin ich sofort zu Hause ausgezogen. Auch davor habe ich alles getan, um möglichst weit weg vom Schuss zu sein, war sogar einige Zeit im Ausland. Danach habe ich mir alle möglichen Jobs gesucht, egal was, Hauptsache nicht in ihrer Nähe. Übersetzungen, Nachhilfe, Italienischkurse für Ausländer. Oder ich war Verkäuferin für Strümpfe, Bücher, Mascara, ökologisch angebaute Sonnenblumenkerne, Schlagbohrmaschinen . Zurück wollte ich nie. Zurück nach Hause, meine ich. Nicht mal der Gedanke an eine feste Anstellung lockte mich, dabei hätte mein Vater als angesehener Professor für englische Literatur sicher etwas für mich tun können.
Doch wollte das überhaupt einer von uns zu jener Zeit wirklich?
Vermutlich nicht, denn niemand hat den ersten Schritt gemacht, um den Bruch zu kitten. Das hatte nicht zuletzt mit Großmutter zu tun, der Mutter meines Vaters, der Heiligen. Ich war immer das verwöhnte Töchterchen, das angeblich nichts verstand.
»Hör mal, das wäre . Nein, das ist die Gelegenheit, dich mit Papa zu versöhnen. Ich weiß natürlich, wie schwer dir das fällt. Nur wie lange willst du das noch durchziehen? Unser Vater ist über achtzig!«
Ich seufze und umklammere den Türgriff. Der Typ auf der anderen Seite hingegen versucht die Tür zu öffnen.
»Wie lange ist er denn weg?«
»Seit drei Tagen, sein Telefon ist ausgeschaltet. Es ist bestimmt etwas passiert .« Ihre Stimme bricht. »Ich spüre es. O nein, ich darf nicht weinen, das ist nicht gut für das Baby.«
Sie zieht die Nase hoch.
»Mädchen oder Junge?«
»Ein Junge«, antwortet sie, und es hört sich an, als würde sie lächeln.
»Freut mich, dass du glücklich bist.«
Das meine ich wirklich so und wünsche ihr, dass sie sich den richtigen Mann ausgesucht hat. Schluss mit dem Lotterleben, sie wird Mutter. Dabei ist sie bloß halb so alt wie ich, gefühlt zumindest, ganz so schlimm ist es nicht. Ich war elf, als sie geboren wurde. Irgendwie komme ich mir uralt vor. Und blöd dazu wegen dem Unbekannten in der Küche.
Eigentlich nehme ich nie jemanden mit nach Hause, erst recht nicht in meine Küche, dort herrscht das blanke Chaos. Mich wundert, dass er nicht längst abgehauen ist, nachdem er den Saustall bei Tageslicht gesehen hat.
»Übrigens, Mira, wenn du Papa nach Hause bringst, liegt hier ein Scheck für dich.« Sofort bin ich hellwach und warte, was noch kommt. »Nicht dass es besonders viel wäre, aber für mich und Paolo ist es eine hübsche Summe. Wir haben Großmutters Haus und die Möbel verkauft, und sie hat verfügt, dass der Erlös zwischen dir und mir aufgeteilt werden soll.«
Ein Erbe! Leider würde ich es ablehnen müssen, wenn das Geld wirklich von Gemma stammt. Eigentlich. Dabei brauche ich es mehr denn je.
»Wann habt ihr das Haus verkauft?«
»Vor zwei Jahren«, antwortet Alessia zögernd.
»Na prima. Da habt ihr ja etwas in der Hand, um die widerspenstige Miranda bei passender Gelegenheit erpressen zu können, oder was?«
»Erpressen? Jetzt übertreib mal nicht, es geht schließlich um unseren Vater.«
»Und warum habt ihr mir nicht früher davon erzählt?«
»Wir hätten es dir bei unserer Hochzeit gesagt, wenn du nicht etwas Besseres vorgehabt hättest. Du und Papa seid euch so was von ähnlich, weißt du das? Die gleichen Sturköpfe.«
Es stört mich, dass sie das sagt. Er und ich. Natürlich sind wir uns in gewisser Hinsicht ähnlich, er ist immerhin mein Vater. Ich atme tief durch.
»Wir sprechen später noch mal darüber. Okay?«
»In Ordnung.«
»Ich sage dir noch Bescheid, wann ich komme. Bleib ruhig, es wird ihm nichts passiert sein.«
Als ich mich verabschiede, spüre ich Alessias Triumph, dass sie mich reingelegt und mich gezwungen hat, meinen Hintern wieder nach Hause zu bewegen. Und den Alten zu suchen, der mit allem hätte rechnen können außer mit mir, der verlorenen Tochter, die plötzlich und unverhofft auftaucht.
Es geht mir lediglich um das Geld, sage ich mir und versuche den Gedanken zu verdrängen, dass es Großmutters Geld ist. Geld ist Geld, und ich brauche es.
Den unbekannten nächtlichen Gefährten habe ich ganz vergessen. Erst als ich die Küchentür aufreiße, sehe ich, dass er nach wie vor da ist.
»Was willst du noch hier?«
Er lächelt mich an. »Ehrlich gesagt, wollte ich dich zum Frühstück einladen.«
»Nicht nötig. Übrigens, das gehört mir«, sage ich und deute auf das Handtuch.
»Und der mir«, entgegnet er und zeigt auf den Slip, den ich mir übergezogen habe. »Ist ein Männermodell.«
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn wieder auszuziehen und ihn gegen das Handtuch einzutauschen.
»Außerdem wollte ich dir sagen, dass die Klospülung nicht funktioniert, ich könnte mir das mal .«
»Ich weiß. Bestimmt bist du ein begnadeter Installateur, trotzdem danke. Darum kümmere ich mich später selber.«
»Verstanden. Dann gehe ich jetzt.«
»Gute Idee.«
Ich setze mich auf den umgestülpten Wäschekorb neben der Heizung und warte, bis er sich angezogen hat.
Dabei denke ich an meinen Vater. Wo könnte er sich versteckt haben? Im Gegensatz zu meiner Familie halte ich einen Seitensprung bei ihm nicht für ausgeschlossen. Meine Mutter war gerade mal unter der Erde, als er Carola geschwängert und Alessia produziert hat. Natürlich kann sein Verschwinden auch andere Ursachen haben.
»Fertig.«
Mein unbekannter Gast ist angezogen und hat einen Trenchcoat über dem Arm.
»Bist du sicher, dass du nicht mit mir...
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