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1. Tochter
Als Sophie Scholl am 9. Mai 1921 in Forchtenberg im Hohenloher Land geboren wurde, befand sich die Partei Adolf Hitlers in einer schweren Krise. Der Agitator hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verlassen, weil er Fusionsverhandlungen mit anderen rechtsnationalen Parteien kategorisch ablehnte. Um ihn zurückzugewinnen, trug ihm der leitende Parteiausschuss am 12. Juli 1921 sämtliche Machtbefugnisse an:
Der Ausschuß ist bereit in Anerkennung ihres ungeheuren Wissens, Ihrer, mit seltener Aufopferung und nur ehrenamtlich geleisteten Verdienste für das Gedeihen der Bewegung, Ihrer seltenen Rednergabe, Ihnen diktatorische Machtbefugnisse einzuräumen und begrüßt es auf das freudigste, wenn Sie [.] die Stelle des ersten Vorsitzenden übernehmen.
Am 29. Juli 1921 stimmten auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in München 553 der 554 Anwesenden für Hitler. Der Beschluss wurde von »nicht endenwollendem Beifall« begrüßt.1
Der Weg Sophie Scholls in den Widerstand und der Aufstieg Hitlers zum Diktator sind untrennbar miteinander verbunden. Ab Herbst 1942 war Sophie Scholl entschlossen, den »Führer« mit allen Mitteln zu beseitigen, er ließ die Studentin 1943 hinrichten.2
Sophia Magdalena Scholl wurde am 10. Juli in der Forchtenberger Michaelskirche - benannt nach dem Schutzpatron Deutschlands - evangelisch getauft. Sie war nach Inge (*1917), Hans (*1918) und Elisabeth (*1920) das vierte Kind von Magdalene (»Lina«, *1881) und Robert Scholl (*1891). 1922 folgten Werner und 1925 Thilde, die aber, an Masern und Lungenentzündung erkrankt, nur neun Monate alt wurde. Roberts uneheliches Kind Ernst Gruele (*1914), dessen leibliche Mutter kurz nach der Geburt starb, war als »Pflegesohn« in der Familie mit dabei, ohne wirklich dazuzugehören.3
Der Verwaltungsfachmann Robert Scholl war seit 1920 Bürgermeister (»Stadtschultheiß«) in dem 850-Seelen-Ort. Davor hatte er ab 1917 in Ingersheim, heute Teil von Crailsheim, als Ortsvorsteher gearbeitet. Dort wurden auch die beiden ältesten Kinder geboren.
Lina Scholl war 1904 in das Diakoniewerk Schwäbisch-Hall eingetreten, um Diakonisse zu werden. Nach fünfjähriger Ausbildung zur Krankenschwester wurde sie 1909 eingesegnet. Was sie damals gelobte, wurde zur Leitlinie ihres Lebens: »Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn Jesu in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!«4 Diese innere Haltung hat sie auch ihren Kindern nahegebracht.
Der Sanitäter Scholl lernte Lina im Frühjahr 1915 im Reservelazarett Ludwigsburg kennen. Dort versah der Waffenverweigerer seinen Militärdienst. In der zehn Jahre älteren Diakonisse fand er nicht zuletzt eine Mutter für seinen kleinen Sohn Ernst.
Mit der Heirat legte Lina ihren Beruf nieder. Fortan waren die Rollen klar verteilt: Die Erziehung der Kinder lag hauptsächlich in den Händen der Mutter, der Vater ging ganz in seinem Beruf auf. Die fröhliche Pietistin gab an ihre Kinder Gottvertrauen und Opferbereitschaft weiter, der skeptische Kulturprotestant lehrte sie politisches Bewusstsein und liberales Denken.
Im Frühjahr 1916 fielen zwei von Roberts Brüdern an der Westfront. Noch im selben Jahr schrieb der überzeugte Pazifist:
Was hat denn der Christengott, das Christentum, mit dem deutschen Sieg zu tun? Sind nicht in allen Ländern wahre Christen? Hätte Christus geantwortet, wenn man ihn gefragt hätte »Was sollen wir tun, wenn uns unsere Regierung - oder unser Vaterland - gegen einen Feind sendet?« Hätte er etwa gesprochen: >Haltet Euch tapfer und tötet möglichst viele Feinde, damit ihr den Sieg davontraget!< Nach meiner Überzeugung hätte er gesagt: »Ihr dürft nicht töten, eher müsst ihr Euch Arme und Beine weghacken lassen, als dass ihr die Waffe gegen jemanden gebraucht.«5
Als politisch denkender Mensch hatte Robert Scholl nicht nur den Hohenloher Boten, sondern auch die Frankfurter Zeitung abonniert.
Die große Politik war in der kleinen Provinz stets präsent. Am Familientisch analysierte der Vater die schwierigen Zeiten: 1921, vier Tage vor Sophies Geburt, belastete eine Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs Deutschland mit der exorbitanten Summe von 132 Milliarden Goldmark. Eine Hyperinflation annullierte die Ersparnisse von Millionen Menschen. Im August wurde rund hundertfünfzig Kilometer südwestlich von Forchtenberg in Bad Griesbach im Schwarzwald der Finanzminister Matthias Erzberger ermordet. Es war der Beginn einer Reihe politisch motivierter Anschläge und Gewaltakte durch Selbstjustiz, sogenannter Fememorde. Im Juni 1922 töteten Nationalsozialisten Außenminister Walther Rathenau. Im Januar 1923 besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet. Im November scheiterte ein blutiger Putschversuch Hitlers in München. Seit 1923 zogen die Nationalsozialisten mit dem antisemitischen, gewaltverherrlichenden und rachsüchtigen Kampflied durch die Straßen: »Deutschland, erwache! Sturm, Sturm, Sturm! [.] Wehe dem Volk, das heute noch träumt, Deutschland, erwache!«6
Das war die Welt, in die Sophie Scholl hineingeboren wurde. In den neun Jahren, in denen sie in Forchtenberg lebte, schloss sie, soweit bekannt, keine engeren Freundschaften. Ihr Leben war - und blieb es im Wesentlichen auch später - auf die Familie konzentriert.
Inge Scholl beschrieb die ersten Jahre in Forchtenberg rückblickend so:
Sophies Kinderlandschaft war das kleine Kocherstädtchen, das am Hang des Kochertales gelegen war, im Norden Württembergs, wo man nicht mehr reines Schwäbisch, sondern Hohenlohisch-Fränkisch spricht. [.] Am Fuss des Städtchens zieht sich der stille, blinkende Fluss träumend hin, der allein schon eine Welt von Herrlichkeiten für ein Kind bietet. Sophie liebte das Wasser so sehr, wie nur ein Kind es lieben kann, und lernte schon mit sechs Jahren schwimmen. [.] Hand in Hand mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Werner unternahm sie die kleinen Streifzüge und Abenteuer in der Welt, ohne viel Aufsehen und Geschrei davon zu machen. Dabei wurde sie in ihrem Spielhöschen mit ihrem glänzend glatthaarigen, dunkelbraunen Pagenkopf, dem ebenmäßigen, stillen Gesichtchen und dem energischen, aufrechten Gang für den Jungen gehalten, während man den vor Übermut und Lebenslust sprühenden, bildhübschen, blonden Lockenkopf ihres Brüderchens für das Mädelchen ansah. [.] Sie] war ein sehr stilles, innerliches Kind. Mit einer starken Intensität versenkte sie sich ins Spiel und ging völlig darin auf.7
Eine Freundschaft, die für Sophie zeitlebens prägend werden sollte, rührte allerdings noch aus frühen Kindertagen her, nämlich die zu Lisa Remppis. Die Familie wohnte im selben Haus, in dem Sophies Tante Elise einen Delikatessenladen führte, im rund fünfzig Kilometer entfernten Städtchen Backnang. Dort lernten sich die beiden Mädchen kennen. Mit elf trug Lisa in Sophies Poesiealbum ein: »Der beste Brand ist sinnlos, wenn er in sich selbst verglüht. Lisa. Ulm, den 16. 4. 35.«8 - Was sie wohl dachte, als sie Jahre später von dem Urteil gegen Sophie hörte? War alles sinnlos geworden?
Obwohl sie immer an verschiedenen Orten wohnten, blieben Sophie und Lisa über viele Jahre eng befreundet. Vor allem Sophie litt unter der räumlichen Trennung. Häufig äußerte sie den Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit: »Manchmal ist mir, besonders wenn ich versuche, an Dich zu schreiben, als lägen nicht nur so und so viel km zwischen uns. Oder macht dieses Gefühl nur die Entfernung aus? Ich habe es bei andern Menschen nicht, vielleicht weil ich nie so nahe mit ihnen gestanden bin.«9 Mit achtzehn sehnte sie sich so sehr nach der Freundin, dass sie den Wunsch verspürte, mit ihr zusammenzuziehen: »Wenn Du fertig bist in der Schule können wir vielleicht eine Zeitlang zusammen studieren.« Sophie suchte bei Lisa Geborgenheit: »Denn das Wesentliche dran ist ja das zusammenleben. Ich wollte das könnten wir.« Ein so offensiv vorgetragenes Bedürfnis nach Nähe findet sich in ihren Briefen sonst nirgends, auch nicht in denen an ihren späteren Freund Fritz Hartnagel.
Deutlich wird die Bedeutung, die Lisa zukam, auch an Sophies Reaktion auf ihre Verlobung: Als die Freundin ihr nur eine gedruckte Verlobungsanzeige ohne persönlichen Gruß schickte, war sie tief gekränkt.10 Die Sehnsucht aber blieb: Noch 1942, mit einundzwanzig Jahren, wünschte sich Sophie, Lisa im Dunkeln bei sich zu haben: »Wenn Du heute nacht bei mir schlafen würdest, das wäre besser.«11 Sophie liebte Lisa und glühte für sie.
Anfang der Zwanzigerjahre hielt in Forchtenberg unter der Leitung des neuen Bürgermeisters Robert Scholl der technische Fortschritt Einzug: Im Frühjahr 1921 löste das Postauto die Pferdekutsche ab, 1922 erhielt der Ort eine Kanalisation, im Juni 1924 wurde die neue Bahnstrecke eingeweiht, und im Herbst 1927 kam Dr. Ferdinand Dietrich - der spätere NSDAP-Kreisleiter und Freund Robert Scholls - als Stadt- und Distriktsarzt nach Forchtenberg.12
Sophie besuchte mit ihrer Schwester Elisabeth (»Liesl«) die Kleinkinderschule, die von einer Diakonieschwester geleitet wurde. Das Erzählen biblischer Geschichten war selbstverständlich. Lina Scholl ging sonntags aus Überzeugung in den Gottesdienst, der Vater...
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