Paula und die Angstmaus
Als die kleine Schildkröte Paula gerade gemächlich ihren Spaziergang rund um den Teich machen wollte, hörte sie plötzlich immer wieder die piepsenden Rufe: »Timida, Angsthase, Timida, Angsthase.«
Eine Gruppe von kleinen Mäusen rief es einem Mäuslein zu, das ganz verschreckt dasaß. Während die anderen Mäuse, wie eben Mäuse sind, grau waren, hatte Timida ein weißes Fell.
Paula ging etwas schneller als sonst auf die Gruppe zu und rief: »Was soll denn der Unsinn? Diese kleine Maus ist doch nie und nimmer ein Hase. Habt ihr denn keine Augen? Sie ist eine Maus wie ihr, nur dass sie eben weiß ist.«
Die anderen Mäuse ließen sich aber nicht davon beeindrucken und johlten immer wieder: »Timida, Angsthase, Angsthase.«
Die kleine Timida begann zu weinen. Dicke Tränen kullerten ihr über das weiße Fell herunter.
»Jetzt hört endlich auf«, schimpfte Paula, »seht ihr denn nicht, dass die kleine Timida, oder wie sie heißt, ganz verschreckt von eurem dummen Geschrei ist. Außerdem, ich sage es euch noch einmal: Timida ist kein Hase, sondern eine Maus wie ihr.«
»Ach was«, meldete sich jetzt eine vorwitzige graue Maus zu Wort, »sie ist nicht wie wir. Du hättest sie einmal sehen sollen bei unserem Geländespiel. Dann wärst du gleich anderer Meinung. Während wir gesprungen, gelaufen und geklettert sind, hat dieser Angsthase da sich überhaupt nichts getraut. Timida ist und bleibt ein Angsthase, damit basta«, sagte sie.
»Jetzt verschwindet endlich, spielt von mir aus euer Geländespiel weiter. Lasst aber die arme Timida in Ruhe, ich möchte mich mit ihr unterhalten.«
»Das hätten wir ohnehin gemacht«, piepste die freche Maus. »Unterhalte dich ruhig mit ihr, vielleicht kannst du ihre Ängste vertreiben. Du wirst es gleich merken, Timida ist einfach anders als wir. Sie ist keine richtige Maus. Richtige Mäuse sind frech und unternehmungslustig. Timida ist eine lahme Ente.«
»Ja, ja«, besänftigte sie Paula, »erst ist sie ein Hase, jetzt ist sie eine Ente. Ich sage noch einmal: Timida ist eine Maus wie ihr.« Aber das hörten die Mäuse schon nicht mehr, denn sie hatten sich piepsend und quietschend davongemacht und begannen wieder ihr Geländespiel.
Timida weinte noch immer und schluchzte: »Ich weiß es ja, die anderen haben ganz Recht, ich bin wirklich ein Angsthase.«
»Jetzt hör bloß damit auf!«, schimpfte Paula. »Was soll überhaupt dieses dumme Wort >Angsthase<? Mein Freund Benni ist ein Hase, aber er hat überhaupt keine Angst. Im Gegenteil, er ist ein ausgesprochen mutiger Bursche. Und von wegen lahmer Ente, meine Freundin Tanja, die Ente, ist die beste Schwimmerin weit und breit. Sie ist übrigens nicht einmal schlecht auf den Beinen und hat das letzte Mal beim Wettrennen sogar mich geschlagen.«
Timida hatte zu weinen aufgehört. »Aber ich bin ein Versager, gleich, wie man das nennen will, Angsthase oder lahme Ente. Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist. Die anderen Mäuse laufen und springen einfach drauflos, ich aber überlege immer lange, ob mir nichts zustoßen könnte. Dann bekomme ich Angst, dass mir etwas geschieht, und ich bewege mich nicht von der Stelle. Du siehst, ich bin irgendwie anders.«
»Jeder ist anders«, sagte Paula, »und das ist gut so. Es wäre ganz schön langweilig auf dieser Welt, wenn alle gleich wären. Ich finde es beispielsweise sehr schön, dass du anders aussiehst als die Mäusekinder, die ich vorher gesehen habe. Eine weiße Maus, das ist doch etwas Besonderes.«
»Was habe ich denn davon, etwas Besonderes zu sein, wenn mich alle auslachen und ich mich vor mir selber schäme, weil ich so viel Angst habe?«
»Ich finde es schön, dass du du bist, und nicht wer anderer, denn du gefällst mir«, sagte Paula.
»Ich habe schon viele Mäuse kennen gelernt, aber du bist - wie gesagt - eine besondere. So eine wie du ist mir noch nie begegnet.«
Timida schaute zweifelnd: »Willst du damit auch sagen, dass ich keine richtige Maus bin?«
»Natürlich bist du eine richtige Maus. Im Übrigen ist jeder - ob Maus, Hase, Ente oder Schildkröte - etwas ganz Besonderes, Einmaliges. Pass auf, ich will es dir erklären. Du hast doch wie jeder oder jede einen Vater und eine Mutter?«
»Natürlich«, sagte Timida, »mein Vater heißt Tim und meine Mutter Ida. Deswegen haben mich meine Eltern Timida genannt.«
»Jetzt pass gut auf«, sagte Paula und zeichnete irgendetwas in den Sand, »das bist jetzt du, und das da sind deine Eltern, Tim und Ida. Aber dein Vater hat doch auch wieder Eltern gehabt.«
»Ja, ja, meinen Großvater und meine Großmutter«, meinte Timida. »Mein Großvater hat Tom und meine Großmutter Ada geheißen.«
»Und deine Mutter hatte auch Eltern.«
»Selbstverständlich«, sagte das Mäuslein, »mein Großvater hat Ro und meine Großmutter Mia geheißen. Beide sind allerdings schon tot.«
»Das ist traurig«, sagte Paula. »Aber weißt du vielleicht noch, dass dein Großvater Tom wieder Eltern hatte, die Großmutter Ada ebenfalls und die anderen Großeltern Ro und Mia auch.«
»Ja«, meinte Timida, »aber ich weiß nicht mehr, wie sie geheißen haben. Mein Großvater hat mir zwar manchmal von seinen Eltern erzählt, aber ich hab mir die Namen nicht gemerkt.«
»Ist ja gleich«, meinte Paula. »Schau her, ich hab dir jetzt alles aufgezeichnet. Zähl einmal nach. Siehst du, da bist du: Du hast einen Vater und eine Mutter, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, und wenn du jetzt noch weiterschaust, wirst du feststellen, dass du sechzehn Ururgroßeltern hattest. Das ergibt dann schon 32 Urururgroßeltern, und so geht das weiter. Und jetzt überleg dir einmal, Timida, wie viele Ahnen notwendig waren, dass du kleines weißes Mäuschen auf die Welt kommen konntest. Welch ein riesiges Heer, an dem jeder Einzelne beteiligt war, damit du auf die Welt hast kommen können. Und dir fällt nichts Dümmeres ein, als darüber traurig zu sein, dass du lebst. Pass auf, ich sag dir einmal ein Gedicht auf«, sagte Paula und begann:
Was schaust du so traurig?
Was ist denn so schaurig?
Sag, weißt du, mein Guter,
ein Vater, eine Mutter,
zwei Opas, zwei Omas,
und sieh bloß, ja so was;
du musst deinen Stammbaum
in Ruhe mal anschaun:
vier Ur-, acht Urur-, sechzehn Ururur-
Großeltern nicht nur,
viel, viel Ahnen dazu
waren nötig, dass du
ins Leben durftest treten.
All das war vonnöten
für dich nur, mein Kleiner!
Ein Aufwand, ein feiner.
Drum freu dich, mein Lieber,
und lach bitte wieder!
Da lachte Timida das erste Mal.
»Irgendwie hast du ja Recht, Paula«, meinte sie, »und trotzdem wäre ich oft gern wer anderer.«
»Wer wärst du denn beispielsweise gerne?«
»Wer ich gerne wäre?«, fragte Timida. »Ich wäre beispielsweise gerne ein Spatz so wie Toni, da könnte ich überall hinfliegen, vor allem aber davonfliegen, wenn ich Angst hätte.«
In diesem Augenblick hörten sie ein wehleidiges Piepsen: »Hilfe, Hilfe, Hilfe.«
Timida lief, so schnell sie ihre Beine trugen, an die Stelle, woher die Stimme gekommen war. Auch Paula gab sich Mühe, aber bei ihr ging es natürlich wesentlich langsamer.
»Hilfe, Hilfe«, rief es wieder.
Und da sah Timida, was los war. Ausgerechnet Toni, von dem sie gerade noch gesprochen hatte, flatterte wie wild, konnte sich aber offensichtlich nicht von der Stelle bewegen.
»Hilf mir«, rief er, »hilf mir, Timida! Ich bin gefangen. Schau her, Timida, was los ist.«
Das rechte Beinchen von Toni steckte in einer Schlinge und blutete schon von seinen vergeblichen Befreiungsversuchen.
Inzwischen war auch Paula herbeigekrochen.
»Paula«, rief Toni, »hilf mir, sonst sterbe ich hier elend.«
Paula besah sich die Lage. »Ich weiß nicht, ob ich die Schnur abbeißen...