1. Kapitel
Sophie saß auf ihrem Bett und blickte mit ausdruckslosem Gesicht zum Fenster hinaus. In ihren zitternden Händen hielt sie den letzten Brief ihres Mannes. Es war noch keine Woche her, seit ihr vor ihrer Tür eine Polizistin mit einfühlsamen Worten die Nachricht überbracht hatte, dass ihr Mann bei einem Unfall auf der Autobahn Richtung Flughafen ums Leben gekommen sei. Er war mit einer Arbeitskollegin in seinem Geschäftsauto unterwegs gewesen, als ein achtzigjähriger Geisterfahrer ihrer beider Leben abrupt beendet hatte. Von einem Moment auf den anderen wurde Sophies Welt aus den Angeln gehoben. Sie hatte die Polizistin ungläubig angesehen und ihr versichert, es müsse sich um einen Irrtum handeln, denn ihr Mann käme in einer halben Stunde nach Hause, so wie jeden Abend. Er hätte zudem am Nachmittag eine Sitzung gehabt und könne unmöglich unterwegs gewesen sein. Die Polizistin hatte sie ins Innere des Hauses zum Sofa begleitet, sich neben sie gesetzt und ihr dann den blutverschmierten Führerschein ihres Mannes gezeigt. »Es tut mir sehr leid, Frau Steiner, aber das ist doch Ihr Mann, oder?«
Sophie glaubte, ihr würde die Kehle zugeschnürt. Sie hatte kein Wort herausgebracht und nur genickt.
»Gibt es irgendjemanden, den ich für Sie verständigen soll? Der sich um Sie kümmern könnte?«, hatte sich die Polizistin einfühlsam erkundigt. An diesem Tag war ihre Schwägerin Barbara bei ihr eingezogen und hat ihr seither geholfen, sich um all die mühsamen bürokratischen Dinge zu kümmern, die bei einem Todesfall anstehen. Sophie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und fühlte sich mit der kleinsten Aufgabe überfordert. Jürgen und sie waren erst drei Jahre verheiratet gewesen. Sie hatten sich auf einer Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes kennengelernt, waren ein paar Mal miteinander ausgegangen, dann folgte eine stürmische Beziehung, und bereits nach kurzer Zeit waren sie zusammengezogen. Fünf Jahre hatten sie zusammengelebt, bis Jürgen ihr auf einer Ferienreise in Portugal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Kurz nach der Hochzeit zogen sie in ein Haus und Sophie erfüllte sich ihren Herzenswunsch, indem sie aus dem Tierheim den jungen Kater Pepe holte. Mit Kindern haben sie sich noch Zeit lassen wollen, da sie ihre Unabhängigkeit noch etwas ausleben wollten.
Und nun war die Seifenblase geplatzt, sie saß allein auf dem großen Bett, den Brief in der Hand und Pepe zu ihren Füßen. Der Kater war in den letzten Tagen kaum von ihrer Seite gewichen, als spürte er ihre Trauer. Morgen sollte die Beerdigung von Jürgen und seiner Arbeitskollegin sein, und Sophie hatte keine Ahnung, wie sie diesen Tag überstehen sollte, vor allem nicht nach diesem Brief. Die Polizei hatte ihr gestern seine restlichen Kleider und privaten Dinge, die sich im Auto befunden hatten, vorbeigebracht. Verwirrt hatte sie Jürgens Koffer und Aktenkoffer entgegengenommen. Sie hatte nichts von einer Geschäftsreise gewusst und schon gar nicht mitbekommen, dass er einen Koffer gepackt hatte. Anscheinend war er am Unglücksmorgen nochmal zurückgekommen, als sie bereits bei der Arbeit war.
Sie hatte dem Polizisten gedankt, dass er ihr die Sachen gebracht hatte. Doch erst an diesem Morgen hatte sie dann die Kraft gefunden, Jürgens Sachen durchzusehen. In seinem Aktenkoffer fand sie seinen Reisepass, Geld, ein paar persönliche Dokumente und einen Umschlag, der an sie adressiert war. Mit zitternden Fingern hatte sie ihn geöffnet. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie da gelesen hatte, und überflog die Zeilen nochmals:
Sophie,
diese Zeilen hier schreibe ich mit meinem größten Bedauern, da ich weiß, wie sehr ich Dich verletzen werde. Wenn Du diesen Brief liest, bin ich bereits auf dem Weg in mein neues Leben. Ich hatte das alles gar nicht beabsichtigt, aber Du weißt ja, wie das mit der Liebe ist: Wenn sie einen erwischt, ist man völlig machtlos. Und glaube mir, ich habe wirklich versucht, gegen meine Gefühle anzukämpfen, aber ich liebe Jeannette aus tiefstem Herzen. Wir haben beschlossen, gemeinsam einen Neustart in einem anderen Land zu wagen.
Natürlich kannst Du vorerst in unserem Haus wohnen bleiben, aber ich wäre froh, wenn wir es gegen Ende des Jahres verkaufen könnten, so dass jeder die Hälfte des Erlöses für sich beanspruchen kann. Selbstverständlich werde ich bei der Scheidung die Schuld auf mich nehmen. Wenn wir uns eingerichtet haben, werde ich Kontakt mit einem Anwalt aufnehmen und die notwendigen Schritte veranlassen, so dass Du Dich um nichts kümmern musst.
Sophie, es tut mir wirklich leid, aber ich denke, auf Dauer wäre es nicht gut gegangen mit unserer Ehe. Ich wünsche Dir alles Gute und danke Dir für die schöne Zeit.
Jürgen
Sophies Hände zitterten noch immer, als sie den Brief auf die Bettdecke legte. Wie hatte sie nur so blind sein können!? Sie fragte sich, wie lange die Beziehung zwischen Jeannette und Jürgen bereits gedauert hatte. Hatten sich die beiden womöglich sogar über sie lustig gemacht, wie dämlich sie doch wäre und wie langweilig? Ihr wurde so kalt, dass sie sich eine Fleecejacke überzog, obwohl draußen die Frühlingssonne schien. Doch auch die Jacke wärmte sie nicht, denn die Kälte kam aus dem Inneren ihres Körpers.
Sie hatte Jürgen geliebt - das hatte sie doch, oder? Gut, ihre Beziehung war im letzten Jahr etwas abgeflaut, es fehlte die Leidenschaft, aber das war doch verständlich nach acht Jahren. Beziehungen verändern sich doch andauernd. Mal ist man sich etwas näher und mal eher etwas fremder. Man gewöhnt sich aneinander und der Alltag hält Einzug. Jürgen war die Karriereleiter in der Bank nach oben gestolpert und hatte immer häufiger Auswärtstermine. Langsam begann Sophie, daran zu zweifeln, dass diese Auswärtstermine stets geschäftlicher Natur gewesen waren. Sie selbst arbeitete im Büro eines großen Kaufhauses, und da viele ihrer Arbeitskollegen und -kolleginnen mit ihren Familien während der Osterferien verreist waren, war für sie mehr Arbeit angefallen, so dass sie Überstunden machen musste. In letzter Zeit arbeitete sie häufig auch samstags und Jürgen wiederum wollte an den Sonntagen nicht auf sein Golfen verzichten. Ihr hatte die gemeinsame Zeit mit ihm gefehlt, sie hatte sich aber vorgenommen, sich spätestens Ende April wieder mehr um ihr Liebesleben zu kümmern. Doch dazu würde es nun nicht mehr kommen. Jetzt war alles vorbei.
Wieder blickte sie zum Fenster hinaus und sah, wie eine dunkle Wolke sich vor die Sonne schob. Was sollte sie nur tun? Wie sollte es weitergehen?
Pepe sprang aufs Bett und schlich sich auf ihren Schoß. Völlig mit ihren Gedanken beschäftigt streichelte sie unbewusst über das dicke, hellrot getigerte Fell des Katers, der leise zu schnurren begann.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufblicken, ihre Schwägerin Barbara trat ein. Ob sie es wohl gewusst hatte? Hatte auch sie über ihre Naivität und ihre Dummheit gelacht? Sie wandte ihren Blick von ihr ab, sie wollte es gar nicht wissen.
»Sophie, ich habe uns was gekocht. Komm doch rüber ins Esszimmer zum Abendessen.«
Sophie schüttelte nur den Kopf und brachte kein Wort heraus.
»Du hast die letzten Tage schon kaum etwas gegessen.« Sie setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Jürgen würde das gar nicht gefallen, wenn du so vom Fleisch fällst. Du darfst dich jetzt nicht so hängen lassen. Nun komm schon.« Sanft strich sie ihr eine braune Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht.
Bei der Erwähnung von Jürgens Namen kroch der kalte Schauer weiter in ihr hoch. Sie fühlte sich, als wäre sie innerlich völlig erstarrt, als hätte sich eine Eisschicht um ihr Herz gelegt.
»Na gut, wenn du nicht willst«, seufzte Barbara und stand auf. »Ich stelle dir einen Teller in die Küche. Wenn du später Hunger hast, kannst du dir das Essen ja in der Mikrowelle warm machen.« Als sie bei der Tür war, drehte sie sich nochmals zu Sophie um. »Sag mal, wollte Jürgen eigentlich verreisen? Ich war völlig erstaunt, als gestern die Polizei seinen Koffer brachte.«
Sophie nickte nur und legte sich mit ihrem Kater aufs Bett, um Barbara anzudeuten, dass sie nun schlafen wollte. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um den Brief, die Affäre ihres Mannes und den Unfall. Sie war völlig durcheinander vor Trauer, Wut und Hilflosigkeit. Und dennoch vermisste sie ihn ganz schrecklich. Wie dumm sie nur war! Sie hätte so gerne mit ihm darüber gesprochen, warum und wieso er denn von ihr weg wollte. Sie hätte alles getan, um ihre Ehe zu retten, aber diese Chance hatte er ihr nicht mehr gegeben.
Die Beerdigung fand bei strahlendem Sonnenschein statt, was Sophie völlig unpassend vorkam. Wie konnte der Himmel lachen, wenn die Menschen so voller Trauer waren? Ihr Blick wanderte durch die versammelten Menschen. Jürgens Mutter schniefte in ein Taschentuch, ihr Mann stand links neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt. Auch er war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Barbara stand mit ihrem Mann auf der anderen Seite ihrer Mutter, sie versuchte ihre Tränen unter Kontrolle zu halten, was ihr aber nicht...