Prolog
März 2017
Die Sonne schaffte es kaum, sich durch die dicke Wolkendecke zu kämpfen, die über London lag. Dennoch war es außergewöhnlich mild für die Jahreszeit. Parker richtete ihre Kamera auf den Korrespondenten Ray, hinter dessen Schultern das altehrwürdige Gebäude des Westminsterpalasts zu erkennen war. Sie hatten heute vom Sender den Auftrag erhalten, einen Bericht für die Abendnachrichten aufzunehmen, in dem es um einen angeblich korrupten Minister ging. Wie immer herrschte auf der Westminster Bridge ein Gewimmel aus Touristen und Geschäftsleuten. Doch die Gespräche und das Lachen, sowie den Lärm des Verkehrs, nahm Parker nur als entferntes Rauschen im Hintergrund wahr. Ihr Fokus war ganz auf Ray gerichtet, um ihn perfekt ins Bild zu setzen. Nur an seinen plötzlich schreckensweit geöffneten Augen und dem weit aufgerissenen Mund bemerkte sie, dass sich hinter ihr irgendwas Außergewöhnliches abspielen musste. Erst da drangen auch die entsetzten Schreie an ihr Ohr. Sie drehte sich herum, um zu sehen, was da los war, als ein Wagen in mörderischem Tempo an ihnen vorbeipreschte. Aber nicht etwa auf der Straße, nein, der dunkelgraue Geländewagen raste über den gegenüberliegenden Gehsteig und mähte alles nieder, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Wie in Trance hörte sie Ray rufen: »Halt drauf, Parker! Halt drauf!« Doch sie war unfähig, sich zu rühren. Zu geschockt von dem, was sich vor ihr gerade abspielte. Menschen rannten in Panik schreiend umher. Andere, die einen kühleren Kopf bewahrten, versuchten, ruhig zu bleiben und zu schauen, ob noch von irgendwoher weitere Gefahr drohte. Ein lautes Krachen ließ Parker wieder in die andere Richtung herumschnellen. Es schien, als wäre der Raser weiter vorne irgendwo hineingeknallt. Sehen konnte sie das Fahrzeug allerdings nicht mehr. Ein Stöhnen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine ältere Dame, die vor der Brückenbrüstung am Boden lag. Ihre Beine lagen in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ausgestreckt da. Wie ein todbringender Lavastrom floss aus ihrer Nase dunkelrotes Blut. Es bahnte sich einen Weg über die hellrosa geschminkten Lippen, den schiefen Mundwinkel und weiter hinab über leichenblasse Haut, bis es auf den Asphalt tropfte. Zwei Schüsse hallten von irgendwoher und ließen die Menschen voller Angst aufkreischen. Parker klopfte das Herz bis zum Hals, dennoch bekämpfte sie den Drang, einfach kopflos davonzurennen. Panik war noch nie sonderlich hilfreich gewesen. Bleib ruhig, Parker, befahl sie sich stattdessen stumm.
»Die Schüsse müssen vom Parlamentsgebäude kommen. Los, Parker, da müssen wir hin!« Ray wollte sie am Arm mit sich ziehen, aber Parker bewegte sich keinen Millimeter. Ihr Blick haftete erneut an der verletzten Frau auf der anderen Straßenseite. Sie atmete stoßweise und schaute Parker dabei unverwandt an. In der Hand hielt sie eine Hundeleine fest umklammert. Ohne zu zögern, befreite sich Parker aus Rays Griff und legte die Kamera auf den Boden.
»Hey, Parker, was wird das jetzt?!«
Parker ignorierte ihn und rannte über die Straße zu der Verletzten. Während sie sich neben ihr auf den Gehsteig kniete, versuchte sie sich verzweifelt an ihren Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, der schon Jahre zurücklag. Sollte sie die Frau in die stabile Seitenlage bringen? Aber was, wenn sie eine Rückenverletzung erlitten hatte? Zudem war sie ja bei Bewusstsein. Bevor Parker zu einer Entscheidung kam, wie sie helfen konnte, reckte die Frau mühsam ihren Arm hoch und drückte ihr die Hundeleine in die Finger. »Bitte .«, stieß sie kraftlos hervor. »Mein Hund .«
»Gehen Sie zur Seite, ich bin Arzt!« Ein junger Mann mit herrischer Stimme verschaffte sich Durchlass und begann sich gleich um die Verletzte zu kümmern. Er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke mit Nieten und einem Emblem einer Motorradgang. Trotzdem sah er so aus, als wüsste er, was er tat. Mit zitternden Knien stand Parker auf. Ihre Augen wanderten dabei an das andere Ende der Hundeleine. Ein kleiner weißer struppiger Jack Russell Terrier lag neben den verdrehten Beinen seiner Besitzerin und versuchte erfolglos, sich aufzurappeln. Bei einem seiner Hinterbeinchen ragte ein Knochen tief aus dem Fleisch. Er winselte und jaulte kläglich.
»Parker! Jetzt komm schon, wir haben einen Job zu erledigen!«, drängte Ray auf der anderen Straßenseite. Hin- und hergerissen starrte Parker auf die dunkelblaue Hundeleine in ihrer Hand. Die Frau, die mittlerweile nicht mehr bei Bewusstsein war, hatte auf sie gezählt, als sie ihr die Leine übergeben hatte. Sie konnte sie nicht einfach im Stich lassen.
»Verdammt!«, fluchte der Arzt leise. »Schaffen Sie den Hund beiseite, ich muss die Frau auf den Rücken drehen.« Noch während sie den Terrier so vorsichtig wie möglich hochhob, drehte der Arzt seine Patientin herum und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Geschockt trat Parker ein paar Schritte zurück.
»Herrgott noch mal, Parker! Komm endlich«, forderte Ray am Ende seiner Geduld. Mit energischen Schritten und ihrer Kamera in der Hand wechselte auch er die Straßenseite. »Noch sind wir das einzige Nachrichtenteam hier. Das ist unsere Chance!«
»Siehst du denn nicht, was hier los ist, Ray?! Ich kann jetzt nicht weg. Ich muss auf den Hund dieser Frau aufpassen.« Ihr war klar, dass sie ihren Job riskierte, wenn sie nicht mit Ray mitging. Doch wie könnte sie die Bitte der Halterin in dieser Situation ignorieren? So abgebrüht war sie nun mal nicht.
»Wenn Sie wollen, dass es zumindest einer der beiden schafft, bringen Sie ihn besser gleich zu einem Tierarzt«, keuchte der Arzt, der weiter das Herz seiner Patientin bearbeitete. Wie um die Worte zu unterstreichen, jaulte der Kleine auf ihren Armen.
»Oh, okay, und wo finde ich die Dame danach wieder?«
»Rufen Sie mich später in der Praxis an. James Whitby . Allgemeinmediziner. Sie finden mich . im Netz.«
Den lauthals schimpfenden Ray hinter sich lassend, rannte Parker los. Dabei hielt sie den Hund so behutsam wie möglich an sich gedrückt. Es war nicht leicht, in dem Gewusel voranzukommen. Immer wieder versperrten ihr herumirrende und unter Schock stehende Menschen den Weg. Sich selbst gestattete sie es nicht, darüber nachzudenken, was da gerade eben geschehen war, ansonsten wäre sie komplett durchgedreht. Aus der Ferne hörte sie die Sirenen der Rettungswagen. Hoffentlich kam die Hilfe für die alte Dame nicht zu spät. Leicht außer Atem erreichte sie die Hauptstraße entlang der Themse, wo sie sich ein Taxi heranwinkte. Der beleibte Fahrer hielt am Straßenrand und ließ das Fenster herunter. »Wohin soll's denn gehen?«
»Können Sie uns bitte zum nächsten Tierarzt fahren? Der Hund wurde von einem Auto angefahren.«
»Klar«, entgegnete er tiefenentspannt. Allem Anschein nach hatte er noch nichts von dem schrecklichen Vorfall auf der Brücke gehört. »Im Kofferraum hat es eine Decke, in die Sie ihn einwickeln können. Nicht dass er mir die Sitze vollblutet.« Er stieg noch nicht mal aus, um ihr zu helfen, sondern wartete ab, bis sie es irgendwie auf den Rücksitz geschafft und die Tür zugezogen hatte. Egal, sie sollte dankbar sein, dass er sie mit dem verletzten Tier überhaupt mitnahm. Geschickt fädelte der Fahrer sich wieder in den Londoner Verkehr ein, wobei er sich über die vielen Rettungsfahrzeuge wunderte, die in die entgegengesetzte Richtung rasten. Vor der Tierklinik angekommen, verlangte er ein völlig überteuertes Fahrgeld. Immerhin müsse er die Decke wieder reinigen lassen, war seine Ausrede. Normalerweise würde Parker sich so etwas nicht bieten lassen, aber ihr blieb keine Zeit, um sich mit dem Fahrer zu streiten. Der Hund ging jetzt vor. Knurrend drückte Parker ihm das Geld in die wurstigen Finger.
»Viel Glück«, rief der Taxifahrer ihr mit einem zufriedenen Grinsen hinterher. Ja, das konnten sowohl der Hund als auch sie gebrauchen. Vermutlich würde sie nach dieser Aktion ihren Job als Kamerafrau an den Nagel hängen können. Doch eines war Parker heute Nachmittag klar geworden: Sie wollte nicht sensationslüstern die Kamera auf das Leid anderer richten. Und schon gar nicht, wenn sie stattdessen helfen konnte.
In den wenigen Monaten, die sie für das Nachrichtenteam nun schon arbeitete, war sie nie vor die Wahl gestellt worden, zu filmen oder einzugreifen. Das war das erste und - wie zu befürchten war - auch das letzte Mal gewesen. Aber sie sollte sich jetzt keine Sorgen um ihren Job machen, sondern um den kleinen Kerl auf ihren Armen.
In der Tierklinik stellte sich heraus, dass das rechte Hinterbein des Hundes vollständig zertrümmert war und vermutlich nicht gerettet werden konnte. So einen schlimmen Bruch habe er noch nie gesehen, meinte der Tierarzt. Bis die Halterin über das weitere Schicksal des Tieres entscheiden könne, würde er eine Erstversorgung vornehmen und ihm Schmerzmittel verabreichen. Mehr könne er im Moment ohne deren Einwilligung nicht tun. Parker hinterließ am Empfang die Angaben von Dr. Whitby, aber auch ihre eigene Nummer. Sollte es wider Erwarten Probleme geben, die Besitzerin zu erreichen, konnte die Klinik...