1 Einführung
In einer Zeit der zunehmenden Einsicht, dass die Industrialisierung und damit auch die Motorisierung der Zivilisation ein lebensgefährdendes Ausmaß angenommen hat, mag es anachronistisch erscheinen, sich mit dem Motorrad und dessen Fahrer auseinanderzusetzen. Aber die Verbindung Mensch und Technik fasziniert besonders dann, wenn die Technik scheinbar zweckentfremdet nur oder fast nur dem ausschließlichen Vergnügen dient. Was ist das Faszinierende daran und weshalb zieht ein Motorrad immer wieder Menschen in den Bann, so dass sie ihm verfallen, das Motorrad im Leben dieser Menschen eine Wichtigkeit bekommt, die so ausschließlich sein kann, dass darob Beziehungen zerbrechen oder Berufskarrieren einbrechen können? Es scheint sie zu geben, die «Motorradsucht», doch davon soll das Buch nicht handeln; vielmehr geht es darum, zu sehen, wie das Motorrad als «Gegenstand» die Wahrnehmung, das Handeln, die Motivation des Menschen beein?usst und gestaltet.
Dies soll aus verschiedenen Perspektiven geschehen. Zuallererst aus der Sicht des Fahrers, also der Person, die mit dem Motorrad eine zeitweilige Verbindung eingegangen ist, deren Zweck es ist, die natürlichen Grenzen der menschlichen Kapazität zu erweitern und damit dem Fahrer einen Zustand der «Transzendenz» zu vermitteln. Woraus diese Erweiterung der Möglichkeiten und die daraus entstehende «Bewusstseinserweiterung» besteht, wird Gegenstand dieser Auseinandersetzung sein. Dann aus der Sicht weiterer Beteiligter, die nicht unmittelbar Gegenstand dieser Verbindung Mensch-Motorrad sind, diese aber ermöglichen, ausweiten, eingrenzen oder verhindern. Ich spreche hier einerseits von Manufakturen oder industriellen Herstellern, die den Gegenstand Motorrad entwickeln, konstruieren, verbessern, ihn den Anforderungen des Fahrers, aber auch den jeweiligen gesetzlichen Vorlagen anpassen. Das wird geschehen, indem kurz auf gewisse technische Voraussetzungen eingegangen wird, so dass auch die Leser, die sich bis jetzt nicht mit diesem Gegenstand auseinandergesetzt haben, das notwendige (nicht unbedingt das hinreichende) Verständnis für das Motorrad erarbeiten können.
Die Evolution ?ndet auch in der technischen Entwicklung statt: In der Anfangsphase einer solchen Entwicklung gibt es einerseits krasse Fehlentwicklungen, die nach kurzer Zeit aufgegeben werden, und andererseits werden Konzepte, die sich bewährt haben, fortlaufend verfeinert und dem jeweiligen Ökosystem angepasst. Das Ökosystem bildet wiederum einerseits die Gemeinschaft der verschiedenen Fahrertypen, andererseits die weitere Gesellschaft mit grundsätzlichen Anliegen wie möglichst weitgehende Ruhe in Erholungsgebieten und der ebenso grundsätzlichen Forderung nach einem sparsamen Umgang mit Ressourcen, was auch den Verlust von menschlichen Ressourcen einschließt. Den Herstellern von Motorrädern stellt sich also eine komplexe Aufgabe, die sie dank Konkurrenz und ökologischem Druck insgesamt aber so gut meistern, dass der durchschnittliche Lebenszyklus von Motorrädern nur wenige Jahre beträgt und der technische Fortschritt rasant weitergeht, so dass besonders technisch orientierte Motorradfahrer sich schon auf einem zweijährigen Motorrad hoffnungslos im Rückstand sehen und sich fortwährend gezwungen sehen, technisch «aufzurüsten».
Neben den Herstellern gibt es weitere Gruppierungen von Menschen, die sich eng an den Bedürfnissen der Motorradfahrer orientieren. Heute gibt es ganze Industrien, die sich mit Fahrerausrüstungen und Fahrerausbildungen ihr Geld verdienen. Für fast jedes Bedürfnis existieren Gegenstände und Angebote, die der Verbindung Mensch-Motorrad gewidmet sind und außerhalb dieser Verbindung wenig Sinn machen, obwohl manchmal die «Mode» Gegenstände davon zweckentfremdend einsetzt, um bestimmte Assoziationen oder Werte besser transportieren zu können. Die eng geschnittene Lederjacke wäre ein Beispiel für einen solchen erweiterten Einsatz. In gewisser Weise ist auch die Existenz von Menschen von der Verbindung Mensch-Motorrad betroffen, die damit gar nichts zu tun haben wollen, die aber den gesellschaftlichen Auftrag haben, das Tun dieser Verbindung einzugrenzen; die Rede ist hier vom Gesetzgeber und der Exekutive, welche diese Gesetze auf der Straße und im Amt durchzusetzen haben. Es gibt ein eingrenzendes Moment, das auf die Verbindung Fahrer-Motorrad in Form von Straßenverkehrsgesetzen einwirkt und entsprechende technische Auflagen bereitstellt, die wiederum von den Herstellern aufgenommen werden. Die Auswirkungen von Geschwindigkeitskontrollen und anderen Maßnahmen werden aus der Perspektive des Fahrers als behindernd wahrgenommen. Weshalb das so ist, ist nur nachvollziehbar, wenn die Psychologie der Verbindung Mensch-Motorrad in ihrer Gesamtheit betrachtet wird.
Und schließlich gibt es weitere Betroffene, die mehr oder weniger freiwillig Kosten und Nutzen der Verbindung Mensch-Motorrad mittragen; ich spreche von Angehörigen, die als Mitfahrende oder Mitbegeisterte die Faszination teilen und ich spreche von Angehörigen, welche dieser Verbindung Skepsis, wenn nicht sogar Angst entgegenbringen. Angst, die sich nährt aus dem Wissen möglicher Folgen dieses Tuns, dass nämlich diese Verbindung Mensch-Motorrad auch mit Risiken verbunden ist, nicht nur ökologischer Art, sondern auch mit dem Risiko von Unfällen, von Verletzungen oder gar Tod. Die Hybris der Bewussteins- und Kapazitätserweiterung hat einen hohen Preis, manche bezahlen diesen Preis mit ihrem Leben, die meisten jedoch mit dem Preis fortwährender Anstrengung zur Weiterentwicklung ihrer eigenen Fähigkeiten und dem ökonomischen Aufwand, den sie bereit sind, für diese Verbindung zu zahlen.
Während dieses Buch entsteht, sitze ich «amputiert» ohne Motorrad in einer äußerst abgelegenen Berghütte, weit abgelegen von der restlichen Zivilisation, und versuche zu re?ektieren, weshalb mir und all den anderen «Gaskranken», die ich kenne, diese Verbindung so wichtig ist und weshalb wir trotz der Kosten, die diese Verbindung zweifellos hat, daran festhalten.
Diese zeitweise Amputation war notwendig, hatte ich mir doch schon vor einem Jahr vorgenommen, etwas zur Psychologie des Motorrads zu schreiben, war aber vor lauter Motorradfahren und den Vorbereitungen dazu - neben meinen sonstigen Tätigkeiten - einfach nicht dazu gekommen. Dies zeigt, wie stark das Motorrad meine Gedanken und Gefühle beein?usst, wie stark es mich in den Bann zieht und wie sehr ich meine sogenannte Freizeit dazu benütze, mir die symbiotische Verbindung mit dem Motorrad immer wieder zuzuführen, mich immer wieder daran zu messen, wie gut ich mit dem Motorrad eins werden kann in der Auseinandersetzung mit Straße, Gelände und den anderen Verkehrsteilnehmern, die ich - zugegeben - nicht anders wahrnehme als weitere Charakteristika der spezi?schen Motorradwelt, als Teil der Anforderungen, die sich mir im Moment des Fahrens stellen, die ich als Aufforderung sehe, mich im Umgang damit zu messen und als symbiotische Einheit mit dem Motorrad und dessen wundersamen Funktionen gemeinsam zu meistern.
Sehe ich das Motorrad zu emotional? Nein, ich glaube, es ist höchste Zeit, sich mit diesem «Gegenstand» psychologisch auseinanderzusetzen. Zu viele tun dies aus einer rein technischen Motivation heraus. Viele rufen nach Beschränkungen, um das Motorradfahren weniger attraktiv zu machen, sie meinen aber den Esel, wenn sie auf den Sack schlagen. Weshalb ist das Motorradfahren attraktiv? Nicht nur wegen seiner technischen Aspekte, sondern weil uns das Motorrad die Möglichkeit gibt, über unsere natürlichen Begrenzungen hinaus zu handeln. Es ist damit ähnlich wie ein Flugzeug (wenn es nicht zum reinen Personentransporter verkommt) oder ein Musikinstrument, das uns in unseren Möglichkeiten, etwas auszudrücken, unterstützt und erweitert. Das Motorrad ist aber günstiger als ein Flugzeug, es ist ?exibler einsetzbar als ein Paar Skis, und es ist ergonomisch soweit entwickelt, dass die Bedienung - obwohl anspruchsvoll - jedem gelingt, der seine Gliedmaßen unter Kontrolle hat und ein gesundes Maß an Koordinationsfähigkeiten aufweist. Es braucht (vermeintlich) auch nicht soviel Training wie z.B. Gleitschirm?iegen, Tauchen oder Felsklettern. Das Motorrad erfüllt dazu einige Bedürfnisse an Selbst- und Fremddarstellung wie wenig andere Fortbewegungsmittel und ist als Leidenschaft ausbaufähiger, als viele annehmen würden.
Mit anderen Worten, das Motorrad erfüllt potentiell viele Bedürfnisse und kanalisiert auf diese Weise die Wahrnehmung, indem es nicht motorradrelevante Information aus?ltert und Handlungen motiviert, die mit dem Gegenstand oder mit dem Motorrad assoziierten weiteren Gegenständen und Personen zu tun haben. Kurt Lewin (1917) hat in einem Aufsatz beschrieben, was aus einer Landschaft im Kriegszustand wird: Sie transformiert sich in eine «Kriegslandschaft», Häuser werden zu Festungen, natürliche Gräben zu Stellungen, Hügel werden zu wichtigen strategischen Aussichtspunkten. Lewin hat in seinem Aufsatz eine allgemeine psychologische Theorie begründet, die Feldtheorie. Je nach Motivation und Bedürfnis ändert sich die Wahrnehmungsmatrix, das eigene Handeln wird dadurch bestimmt, das Handeln von anderen Personen bekommt eine neue Bedeutung. In einer Kriegslandschaft ist nichts mehr wie vorher. In ähnlicher Weise bestimmt das Motorrad die Wahrnehmung und das Handeln des Fahrers, auch wenn dieser gerade nicht mit dem Motorrad unterwegs ist. Der Soldat nimmt auch fern der Front Landschaften anders wahr, er ist immer noch im Krieg, auch im Urlaub. Das ist die Psychologie des Motorrads: Das Motorrad bestimmt das Handeln und die Wahrnehmung auf eine ganzheitliche Weise, es ruft in den Betroffenen eine eigentümliche, antrainierte Matrix des...