Schweitzer Fachinformationen
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Leor Zmigrod gilt mit nur 29 Jahren als Begründerin eines neuen Wissenschaftsfelds: der politischen Neurobiologie. Darin erforscht sie den Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen und der Biologie unseres Gehirns. Sie zeigt, dass unsere Überzeugungen nicht als flüchtige Gedanken losgelöst von unseren Körpern existieren. Vielmehr verändern Ideologien unser Gehirn. Und zur gleichen Zeit macht eine bestimmte neurobiologische Veranlagung empfänglich für gewisse Glaubenssätze. Weshalb sie mit einem einfachen Kartensortier-Experiment beispielsweise in der Lage ist, erschreckend akkurat auf die Weltsicht ihrer Probanden zu schließen. In zahlreichen weiteren Experimenten beweist sie den Konnex zwischen extremen politischen Positionen und unserem Gehirn und revolutioniert damit unsere Vorstellungen von Radikalisierung, Extremismus, demokratischer Meinungsbildung.
Das ideologische Gehirn leistet unverzichtbare Aufklärung in Zeiten maximaler Polarisierung. Die Wissenschaftlerin und Pionierin der politischen Neurobiologie Leor Zmigrod etabliert ein neues Verständnis davon, wie unsere Überzeugungen entstehen und was wirklich helfen kann, im Kampf gegen das, was unsere Demokratie grundlegend gefährdet.
Prolog
Wir müssen nur überzeugt sein. Überzeugungen geben uns Gewissheit oder zumindest den Anschein von Gewissheit, wenn wir eigentlich unsicher sind. Überzeugungen verraten, wofür wir brennen - oder bieten uns etwas, für das wir brennen können. Überzeugungen verbinden Menschen in einer geteilten Absicht, schweißen fremde Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen. Wie schön! Wenn all diese Überzeugungen zu einer Weltanschauung verschmelzen, die einigermaßen kohärent ist, können wir jubelnd erklären, dass wir es mit einer Ideologie zu tun haben: eine Ansammlung von Wahrheiten und moralischen Prinzipien, nach denen wir uns richten und die wir mit anderen teilen. Es ist so einfach!
Wir brauchen Überzeugungen. Ob unsere ideologische Mission alt oder neu ist, religiös oder säkular, konservativ oder reaktionär, digital oder persönlich kommuniziert: Sie helfen uns, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, zwischen gut und böse, zwischen ethisch begründet und dumm oder egoistisch. Unter der weisen Führung einer Autorität erschaffen wir den Himmel auf Erden und entwerfen Strategien, um drohende Desaster und moralische Katastrophen zu verhindern. Wir scharen uns um Symbole, folgen einer neuen Mode, fügen uns in eine neue Familie ein, nehmen an faszinierend dunklen Ritualen teil, spüren das ekstatische Eintauchen in ein Kollektiv, das uns mit offenen Armen empfängt. Unser Gehirn - unser Gehirn ist entzückt von unserer neuen ideologischen Heimat.
Was soll daran falsch sein?
*
Ich saß in einem abgedunkelten Labor, einem kleinen Raum mit schwarzen Wänden. Normalerweise wurde das Labor von Schlafforscherinnen benutzt, die die Gehirnaktivitäten ihrer Studienteilnehmer messen, wenn sie in den Schlaf gleiten. Mich hingegen interessierte das genaue Gegenteil von Schlaf: Ich wollte die neuronale Signatur der Wahl entdecken, des freien Willens. Einen ganzen Sommer lang verkabelte ich den Schädel von Studienteilnehmerinnen und beobachtete den Tanz ihrer Gehirnwellen auf dem Monitor, unruhige Linien, die anstiegen und absackten und dabei unsichtbare Prozesse sichtbar machten. Bei diesen Experimenten erforschte ich, was in einem Gehirn vor sich geht, das Befehlen gehorcht, im Vergleich zu einem Gehirn, das eine freie, spontane Entscheidung trifft. Mit Hilfe der Neurowissenschaft fand ich heraus, dass Akte des Gehorsams neuronale Muster erzeugen, die sich von Akten des freien Willens markant unterscheiden.
Damals war ich Studentin der Psychologie an der University of Cambridge und interessierte mich für sensorische Wahrnehmung und die Neurowissenschaft des freien Willens. Ich erkannte, dass die Neurowissenschaft das Potenzial hatte, grundlegende Fragen des menschlichen Bewusstseins zu beantworten - wie fühlt es sich an, wenn man sich einer Empfindung bewusst ist oder nicht, wie entstehen unbewusste Eindrücke -, also meldete ich mich freiwillig, um an Wochenenden und Feiertagen bei den Forschungsprojekten meines Professors zu assistieren.
Ich verbrachte die sonnigen Sommernachmittage in einem kleinen, fensterlosen Raum, klebte Sensoren mit einer gallertartigen Substanz auf die Haut, befestigte ein Netz aus metallischen Scheiben und Kabeln auf den Köpfen der Teilnehmer. Abends wertete ich die Ergebnisse aus, zoomte mich an die kleinste Einheit der Neurowissenschaft heran: das Aktionspotenzial, das jeder Bewegung, ob freiwillig oder erzwungen, vorausgeht. Hinter den leuchtenden Pixeln neuronaler Impulse suchte ich nach den unbewussten Markern der menschlichen Willensfreiheit.
Aber es war das Jahr 2015, und draußen in der Welt hatte eine neue Form von Fundamentalismus Gestalt angenommen. Als ich hörte, dass junge britische Frauen nach Syrien aufbrachen, um sich dem IS anzuschließen, stellte sich mir die Frage: Warum fühlten sich speziell diese jungen Frauen vom Extremismus angezogen? Viele Kommentatoren verwiesen auf demografische Faktoren und die Gefahren des Internets: die Naivität der Jugend, die illiberale Erziehung, den Mangel an Bildung, die finanziell prekären Umstände. Doch diese Erklärungen schienen allesamt ungenügend. Viele Menschen müssen mit schwierigen sozioökonomischen Bedingungen und neuartigen technologischen Risiken umgehen. Demografie ist kein Schicksal. Wieso also zogen speziell diese Frauen in einen ideologischen Krieg, der sie zu Heimatlosen machte und ihrer Freiheit ein Ende setzte? Warum sie und nicht andere? Vielleicht ergaben Demografie und Küchenpsychologie kein vollständiges Bild, vielleicht war da noch etwas anderes, das diese jungen Menschen verführbar machte, etwas an ihrem Gehirn?
Ich fragte mich, ob ich kognitive und neurowissenschaftliche Methoden so miteinander verbinden konnte, dass sie auf Politik anwendbar waren, auf das Thema Ideologie. War die Neigung zu extremistischen Ansichten auf Eigenarten in der Kognition und Biologie zurückzuführen? Veränderte sich das menschliche Bewusstsein grundlegend, wenn es einer dogmatischen Ideologie anhing?
Ich nahm meine Experimente in den turbulenten Monaten des Brexit-Referendums und kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 auf und gehörte zu der ersten Welle von Wissenschaftlern, die kognitive und neurowissenschaftliche Methoden anwandten, um die Ursprünge und Auswirkungen von ideologischem Denken zu erforschen. Dafür rekrutierte ich Teilnehmer aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit allen möglichen politischen Ansichten von traditionell bis ultraprogressiv: von radikalen Aktivistinnen, die für rechte Plattformen schrieben, über deutsche Jugendliche aus Berlin bis zu Rentnern in abgelegenen britischen Ortschaften. Ich nutzte neue Methoden, bei denen Tausende von Teilnehmerinnen die Experimente bequem zu Hause durchführen konnten, und arbeitete weltweit mit Kollegen zusammen, um in Uni-Laboren Gehirn-Scans und genetische Samples zu sammeln.
Ich war mit meinem Ansatz, Methoden der Kognitionswissenschaften und Gehirn-Scans zur Erforschung von Ideologie zu kombinieren, ein ziemlicher Paradiesvogel. Nur eine Handvoll Forscherteams weltweit hatte überhaupt ein Interesse daran, Biologie und Politikwissenschaften zusammenzuführen. Es war eine hochriskante Strategie, die aber auch eine hohe Belohnung versprach. Und sie zahlte sich aus.
Mit modernen wissenschaftlichen Techniken sind wir inzwischen in der Lage, näher bestimmen zu können, wie tief ideologische Systeme sich in der Architektur des menschlichen Gehirns festsetzen, wie tief Indoktrination in Körper und Geist eindringen können. Wir fanden heraus, dass ein ideologisch geschultes Gehirn ein lohnender Forschungsgegenstand ist. Eine detaillierte Studie konnte zeigen, was Ideologien in unserem Körper anrichten und wie rigide Moralvorstellungen bis in die hintersten Winkel des menschlichen Bewusstseins vordringen können. Sie bot auch neue Erkenntnisse darüber, wer zu Extremismus neigt und warum manche Gehirne besonders anfällig sind, während andere sich als flexibel und resilient erweisen.
Die britischen Jugendlichen, die sich zu Hause, bei Freunden und auf ihren Smartphones radikalisierten, waren außergewöhnliche Beispiele für gewöhnliche Prozesse, Prozesse, für die jedes Gehirn empfänglich ist, aber manche Gehirne mehr als andere. Wie sehr wir gefährdet sind, hängt von unseren Zellen, unseren Körpern und unseren persönlichen Narrativen ab.
Ein dogmatisches Umfeld erzeugt Gewohnheiten und Zwänge, die von außen betrachtet passiv und automatisiert zu sein scheinen - geradezu gedankenlos -, doch wenn wir das ideologische Gehirn näher untersuchen, sehen wir, dass im Inneren komplexe und dynamische Prozesse ablaufen. Neuronen feuern synchron und aktivieren Aktionspotenziale. Ideologische Überzeugungen entstehen in unseren Körpern, und auch die Auswirkungen dieser ideologischen Überzeugungen können in unseren Körpern sichtbar gemacht werden.
Dieses Buch verknüpft Neurowissenschaft, Politik und Philosophie, um besser zu verstehen, was es heißt, als Mensch in einem Meer von Dogmen zu treiben und sich im Sturm der Orthodoxien über Wasser zu halten. Anwendbar ist dieser Ansatz auf alle möglichen Ideologien - nationalistische Bewegungen, religiöse Ideologien, rassistische Weltanschauungen, verschwörungstheoretische Kulte, »rechtsextreme« und »linksextreme« Ideologien.
Auch wenn...
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