Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Radikale Veränderungen, nicht Mitgefühl
Pia Klemp, die Kapitänin des Seenotrettungsschiffs Iuventa, schloss ihre Erklärung, warum sie die Médaille Grand Vermeil, die höchste Auszeichnung der Stadt Paris, nicht annahm, mit der Parole: "Papiere und Unterkünfte, Freizügigkeit und Bleiberecht für alle!"1 Um es kurz zu machen: Wenn damit gemeint ist, dass jeder Mensch das Recht haben soll, in ein Land seiner Wahl zu gehen, und dass dieses Land dann die Pflicht hat, ihm das Bleiben zu ermöglichen, dann haben wir es mit einer abstrakten Vorstellung im strengen Hegel'schen Sinne zu tun, welche den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang in seiner Komplexität ignoriert. Auf dieser Ebene lässt sich das Problem unmöglich lösen. Die einzig wahre Lösung besteht darin, das weltweite Wirtschaftssystem zu ändern, welches Menschen erst in die Flucht treibt. Es gilt also, von der unmittelbaren Kritik einen Schritt zurückzugehen und sich der Analyse der antagonistischen Widersprüche zuzuwenden, von denen die Welt geprägt ist. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage stehen, inwiefern unsere kritische Position selbst Teil des Phänomens ist, das sie kritisiert.
Wenn Konservative im Sinne von Margaret Thatcher die Ansicht vertreten, dass man es mit der Nächstenliebe auch übertreiben kann, und entsprechend verlangen, sie auf vernünftige Weise einzuschränken, dann tasten sie das Gebot der Nächstenliebe nicht einfach nur ein bisschen an - nein, sie verändern seinen Status vielmehr radikal. Die "unmögliche" Forderung, seinen Nächsten zu lieben, die im Sinne von Kants "Du kannst, denn du sollst" unbedingt zu gelten hat, verkehrt sich in die Aussage: "Du sollst nur das tun, was du tun kannst, ohne dass dadurch dein hart erarbeiteter Lebensstandard ernsthaft beeinträchtigt wird." Auf diese Weise wird aus dem Gebot der Nächstenliebe eine "realistische" strategische Überlegung. Ich für meinen Teil trete hier keineswegs für eine solche pragmatische "Mäßigung" ein, sondern im Gegenteil für eine grundlegendere Verschärfung des Gebots. Um den Not leidenden Nächsten wirkliche Liebe entgegenzubringen, reicht es nicht, ihnen großzügig zu überlassen, was vom eigenen reich gedeckten Tisch herunterfällt. Man muss vielmehr die Bedingungen beseitigen, die ihrer Not zugrunde liegen.
Bei einer öffentlichen Veranstaltung vor ein paar Jahren hat Gregor Gysi einen bemerkenswerten Satz gesagt. Ein Teilnehmer der Diskussion pochte darauf, dass er für das Elend und die Armut in der Dritten Welt nicht verantwortlich sei. Statt anderen Ländern zu helfen, sollte sich der Staat besser um das Wohlergehen seiner eigenen Bürger kümmern. Darauf erwiderte Gysi: Wenn wir keine Verantwortung für die Armen in der Dritten Welt übernehmen (und entsprechend handeln), dann werden diese Armen zu uns kommen (und genau dagegen wehren sich die Einwanderungsgegner vehement). Das mag für manche Ohren zynisch und unmoralisch klingen, dennoch ist diese Ansicht der Situation viel angemessener als der abstrakte Humanitarismus. Dieser appelliert an unsere Großzügigkeit und unser Gewissen ("Wir sollten den Migranten unser Herz öffnen, zumal doch die eigentliche Ursache für ihr Leiden europäischer Rassismus und Kolonialisierung sind"). Dieser Appell wiederum verbindet sich oft mit einer seltsamen ökonomischen Argumentation ("Europa ist auf Einwanderung angewiesen, damit es wirtschaftlich weiter expandieren kann") und einer Bevölkerungsrhetorik, die man eher von der Rechten erwarten würde ("Bei uns werden immer weniger Kinder geboren, und dadurch büßen wir zunehmend unsere Vitalität ein"). Worum es dabei aber eigentlich geht, ist offensichtlich: Öffnen wir uns für die Migranten - aber nur in dem verzweifelten Versuch, den radikalen Wandel, an dem in Wahrheit kein Weg vorbeiführt, doch irgendwie zu vermeiden und unsere liberal-kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Gysi argumentierte bei der besagten Veranstaltung genau entgegengesetzt: Wenn wir unsere Identität, unsere Art zu leben, wirklich schützen wollen, dann brauchen wir einen grundlegenden sozioökonomischen Wandel.
Das symptomatische Merkmal der "globalen Linken", wie sie sich derzeit darstellt, ist eine Art Doppelstandard: Einerseits lehnt sie es ab, überhaupt von "unserer Art zu leben" oder von kulturellen Unterschieden zu sprechen, und sieht darin eine reaktionäre Haltung à la Huntington, welche die grundlegende Gleichheit (oder besser gesagt Gleichmachung) aller Menschen im globalen Kapitalismus verschleiert. Im selben Zug aber fordert sie, dass wir die jeweilige kulturelle Identität der Einwanderer respektieren und ihnen nicht unsere eigenen kulturellen Normen aufzwingen sollen. Dahinter steht offensichtlich der Vorwurf, dass "unsere Art" und "ihre Art" zu leben nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen, da unsere Lebensweise auf Vorherrschaft ausgelegt ist. Das ist zwar an sich richtig, geht jedoch am Kern des Problems vorbei: dem Status der Allgemeinheit beim Kampf um die Emanzipation. Es stimmt, dass der geflüchtete Mensch in vielerlei Hinsicht der "Nächste" schlechthin ist, der Nächste im streng biblischen Sinne: der Andere in seiner bloßen, nackten Präsenz. Damit, dass sie nichts besitzen, kein Zuhause haben und keinen festen Platz in der Gesellschaft, stehen Geflüchtete für das Allgemeinmenschliche. Und darum sagt die Haltung, die wir ihnen gegenüber einnehmen, auch sehr viel darüber aus, wie wir es mit dem Menschlichen an sich halten. Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, unterscheiden sich von uns nicht nur so, wie sich alle Menschengruppen voneinander unterscheiden; sie sind in gewisser Hinsicht der Unterschied an sich. Hegelianisch betrachtet aber fallen hier Allgemeinheit und Besonderheit zusammen. Geflüchtete kommen als nur materiell Nackte und Mittellose, und darum scheint es uns, als klammerten sie sich umso mehr an ihre jeweilige kulturelle Identität. Sie werden als eine Allgemeinheit wahrgenommen: als Wurzellose, gleichzeitig aber auch als Menschen, die in ihrer besonderen Identität verhaftet sind.
Nomadische Einwanderer sind keine Proletarier - trotz der gegenteiligen Behauptungen von Alain Badiou und anderen, die im "nomadischen Proletarier" die exemplarische Gestalt des heutigen Proletariats sehen wollen. Was Proletarier zu Proletariern macht, ist die Tatsache, dass sie ausgebeutet werden; sie bilden das zentrale Moment der Kapitalverwertung; ihre Arbeit schafft Mehrwert. Ganz anders verhält es sich bei den nomadischen Flüchtlingen, die nicht nur als wertlos betrachtet werden, sondern die als wertloser Rest des globalen Kapitals buchstäblich "ohne Wert" sind: Die Mehrheit von ihnen ist nicht in den Prozess der Kapitalverwertung einbezogen. Linke wie Kapitalisten träumen davon, die mit der neuen Einwanderungswelle kommenden Migranten in die kapitalistische Maschinerie einzugliedern, wie es in den 1960er-Jahren in Deutschland und dann in Frankreich gemacht wurde. Europa, so sagen sie, "braucht Einwanderung". Das Problem ist nur, dass es diesmal nicht funktioniert; die Einwanderer werden gesellschaftlich weitgehend nicht integriert und der Großteil von ihnen bleibt "außen vor". Dies macht die Situation der einwandernden Flüchtlinge noch viel tragischer - sie sind in einer Art sozialem Schwebezustand gefangen, einer Sackgasse, aus welcher der Fundamentalismus einen falschen Ausweg bietet. In Bezug auf die globale Kapitalzirkulation befinden sich die Flüchtlinge in einer Position der menschlichen Überflüssigkeit, der spiegelbildlichen Verkehrung des Mehrwerts, und keine humanitäre Hilfe und Offenheit kann diese Spannung auflösen; das lässt sich nur durch eine Umstrukturierung des gesamten internationalen Gefüges erreichen.
Dass es in erster Linie darauf ankommt, die Ursachen zu bekämpfen, aufgrund derer Menschen ihre Heimat verlassen, wird von linksliberaler Seite häufig als vorgeschobenes Argument zurückgewiesen. Sie sieht darin bloß eine (nicht sonderlich) subtile Ausrede, um Flüchtlinge davon abzuhalten, zu uns zu kommen. Dieser Vorwurf lässt sich aber mit mindestens der gleichen Berechtigung entsprechend zurückgeben: Den vor Krieg und Armut fliehenden Menschen "unser Herz zu öffnen" stellt eine (nicht sonderlich) subtile Möglichkeit dar, eben nichts zu unternehmen, um die globalen Bedingungen zu ändern, die zuallererst zu den Fluchtbewegungen führen.
Der Humanitarismus begeht den gleichen Irrtum, dem auch die sogenannte deep ecology unterliegt - deren "tiefenökologisch" motivierte Ablehnung des Anthropozentrismus ist nicht weniger heuchlerisch. Das ganze Gerede, dass wir, die Menschheit, eine Bedrohung für sämtliches Leben auf der Erde darstellen, ist letztlich nur Ausdruck der Sorge um unser eigenes Schicksal. Die Erde an sich tangiert das nicht. Selbst wenn wir alles Leben auf ihr vernichten, wird dies nur eine Katastrophe sein, die ihr widerfährt - und nicht einmal die größte. Wenn wir uns um die Umwelt sorgen, so geht es uns dabei um unsere eigene...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.