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Heute, in einer Zeit, in der die Analysen des Historischen Materialismus meist »undercover« und fast nie unter ihrem richtigen Namen betrieben werden und in der die theologische Dimension in Gestalt des postsäkularen Denkens eine neue Wendung genommen hat, ist es an der Zeit, die erste von Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte umzukehren: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man >Theologie< nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den Historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der bekanntlich heute klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« Die Puppe und der Zwerg erkundet die konkreten Formen dieser merkwürdigen Koexistenz. Zu Beginn steht eine Analyse des fundamentalen Bruchs zwischen dem abendländischen kosmisch-holistischen Weltbild und dem jüdisch-christlichen. Weiter geht das Buch der Spannung zwischen dem perversen Funktionieren des »realexistierenden Christentums« und dem subversiven Kern der christlichen Erfahrung nach. Schließlich versucht es, diesen subversiven Kern in der gegenwärtigen Ideologie der Hegemonie zu verorten, deren Koordinaten durch die nietzscheanische Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Nihilismus vorgegeben sind.
Einleitung: Die Puppe namens Theologie
Heute, da sich die historisch-materialistische Analyse auf dem Rückzug befindet, sozusagen nur noch im verborgenen praktiziert und selten bei ihrem richtigen Namen genannt wird, während die theologische Dimension in Gestalt der »postsäkularen« messianischen Wende der Dekonstruktion neuen Schwung erhält, ist es an der Zeit, Walter Benjamins erste geschichtsphilosophische These umzukehren: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man >Theologie< nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«
Eine der möglichen Definitionen der Moderne lautet: Jene gesellschaftliche Ordnung, in der die Religion nicht mehr in eine bestimmte kulturelle Lebensform integriert ist und mit dieser identifiziert wird, sondern autonom geworden ist, so daß sie als dieselbe Religion in verschiedenen Kulturen überleben kann. Diese Extraktion ermöglicht es der Religion, global zu werden, und ist die Ursache dafür, daß es heute überall Christen, Moslems und Buddhisten gibt. Doch dafür muß die Religion den Preis entrichten, daß sie infolge der säkularen Funktionsweise der gesellschaftlichen Totalität auf ein Randphänomen reduziert wird. In dieser neuen globalen Ordnung hat die Religion zwei mögliche Rollen zur Auswahl, eine therapeutische oder eine kritische. Entweder hilft sie den Menschen dabei, im Rahmen der existierenden Ordnung besser zu funktionieren, oder sie versucht, sich als kritische Institution zu etablieren, die das, was mit der Ordnung an sich nicht stimmt, zur Sprache bringt und einen Raum für abweichende, kritische Stimmen bietet. Im zweiten Fall tendiert die Religion als solche dazu, die Rolle der Häresie zu spielen.
In unserer Epoche der politischen Korrektheit empfiehlt es sich immer, mit all den ungeschriebenen Verboten zu beginnen, die festlegen, welche Positionen man einnehmen darf. Zunächst gilt es, im Hinblick auf religiöse Fragen festzustellen, daß der Verweis auf »tiefe Spiritualität« wieder ausgesprochen »in« ist. Der Materialismus hingegen ist »out«. Statt dessen wird dringend empfohlen, sich die Offenheit für eine radikale Andersheit jenseits des onto-theologischen Gottes zu bewahren. Wenn man heute einen Intellektuellen mit der Frage »Also gut, lassen wir das ganze Getue und kommen gleich zum Wesentlichen: Glauben Sie an irgendeine Form des Göttlichen oder nicht?« konfrontiert, ist die erste Reaktion ein peinlich berührtes Zurückweichen, so als sei diese Frage zu intim, zu persönlich. In der Regel wird dieses Zurückweichen dann »theoretisch« begründet: »Das ist die falsche Frage! Es geht nicht darum, ob man glaubt oder nicht, sondern es geht um eine bestimmte radikale Erfahrung, um die Fähigkeit, sich für eine bestimmte, unerhörte Dimension zu öffnen, um die Art und Weise, wie es uns unsere Offenheit gegenüber der radikalen Andersheit ermöglicht, einen bestimmten ethischen Standpunkt zu beziehen und eine überwältigende Form des Genießens zu erleben ...« Wir haben es heute mit einer Art »suspendiertem« Glauben zu tun, einem Glauben, der sich nur dann entfalten kann, wenn er (in der Öffentlichkeit) nicht vollständig eingestanden wird, sondern ein privates obszönes Geheimnis bleibt. Im Widerspruch zu dieser Haltung sollte man jedoch mehr denn je zuvor darauf beharren, daß die »vulgäre« Frage »Glauben Sie wirklich oder nicht?« von entscheidender Bedeutung ist und zwar möglicherweise mehr denn je zuvor. Ich behaupte damit nicht nur, daß ich durch und durch Materialist bin und daß man zum subversiven Kern des Christentums auch mittels eines materialistischen Ansatzes Zugang hat, sondern meine These ist wesentlich weitreichender. Ich behaupte, daß man nur mittels eines materialistischen Ansatzes Zugang zu diesem Kern hat und vice versa: Um ein wahrer dialektischer Materialist zu werden, muß man die christliche Erfahrung durchlaufen.
Aber gab es eigentlich überhaupt je eine Zeit, in der die Menschen »wirklich glaubten«? Wie Robert Pfaller in Die Illusionen der Anderen1 gezeigt hat, ist der direkte Glaube an eine Wahrheit, von der man subjektiv völlig überzeugt ist (»Hier stehe ich!«), ein modernes Phänomen, das einen Gegensatz zu traditionellen, auf einer gewissen Distanzierung beruhenden Verhaltensweisen wie Höflichkeit oder bestimmten Ritualen bildet. Vormoderne Gesellschaften glaubten nicht unmittelbar, sondern vermittels einer gewissen Distanznahme, und eben dies ist auch die Fehldeutung »primitiver« Mythen, etwa durch die Kritiker aus der Zeit der Aufklärung. Zunächst behaupten die Aufklärungsphilosophen, der Ursprung eines Stammes gehe auf den unmittelbaren direkten Glauben an einen Fisch oder Vogel zurück, und dann weisen sie diesen Glauben als töricht, »fetischistisch« und naiv zurück. Auf diese Weise stülpen sie dem von ihnen zum Primitiven erklärten Anderen ihren eigenen Glaubensbegriff über. (Und ist dies nicht auch das Paradox von Wartons The Age of Innocence? Newtons Frau glaubte nicht auf naive [»unschuldige«] Weise an die Treue ihres Mannes, sondern sie wußte von seiner leidenschaftlichen Liebe zur Gräfin Olenska, ignorierte diese jedoch höflicherweise und tat so, als glaube sie an seine Treue ...) Pfaller hat recht, wenn er betont, daß wir heute mehr denn je zuvor glauben. Die skeptischste Haltung, die der Dekonstruktion, beruht auf der Figur eines Anderen, der »wirklich glaubt«; das postmoderne Bedürfnis, ständig irgendwelche ironischen Distanzierungssignale wie Anführungszeichen usw. einzusetzen, verrät die Furcht, daß der Glaube ohne diese Signale direkt und unmittelbar wäre, so als ob es sich um einen unmittelbar angenommenen Glauben handelt, wenn ich »Ich liebe dich« sage, statt des ironisch verbrämten »Wie der Dichter sagen würde: >Ich liebe dich<«, das heißt so, als ob die Distanzierung nicht bereits in der Aussage »Ich liebe dich« vorhanden wäre.
Und vielleicht steht ja genau dies bei der heutigen Bezugnahme auf die »Kultur« als zentraler lebensweltlicher Kategorie auf dem Spiel. Im Hinblick auf die Religion »glauben wir also nicht mehr wirklich«, sondern befolgen einfach einige der religiösen Rituale und Sitten aus Rücksicht auf den »Lebensstil« der Gemeinschaft, der wir angehören (nichtgläubige Juden befolgen die Regel, nur koschere Speisen zu sich zu nehmen, »aus Achtung vor der Tradition« usw.). Die Aussage »Ich glaube nicht wirklich daran, aber es ist ein Teil meiner Kultur« scheint die vorherrschende Form des für unsere Zeit charakteristischen geleugneten/verschobenen Glaubens zu veranschaulichen. Denn was anderes ist denn ein kulturell bestimmter Lebensstil, wenn nicht die Tatsache, daß jedes Jahr im Dezember in jedem Haus und sogar an öffentlichen Plätzen ein Weihnachtsbaum steht, obwohl niemand von uns an den Weihnachtsmann glaubt? Vielleicht ist also der »nichtfundamentalistische« Begriff der »Kultur« im Unterschied zur »wirklichen« Religion, Kunst usw. im Grunde der Name für das Feld der nicht anerkannten/unpersönlichen Glaubensüberzeugungen - »Kultur« ist der Name für all jene Dinge, die wir tun, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne sie »ernstzunehmen«. Und ist die Wissenschaft nicht genau deshalb kein Teil dieses Kulturbegriffs, weil sie zu real ist? Und verurteilen wir nicht auch deshalb fundamentalistische Gläubige als »Barbaren«, als Feinde und als Bedrohung der Kultur, weil sie es wagen, ihre Glaubensüberzeugungen zu ernst zu nehmen? Man erinnere sich an die allgemeine Entrüstung, als die Taliban vor zwei Jahren die alten Buddhastatuen in Bamiyan zerstörten. Obwohl keiner von uns aufgeklärten Westlern an die göttliche Natur Buddhas glaubt, waren wir so empört, weil die Taliban-Moslems dem »kulturellen Erbe« ihres eigenen Landes und der gesamten Menschheit nicht den nötigen Respekt entgegenbrachten. Statt vermittels des anderen zu glauben wie alle kultivierten Menschen, glaubten die Taliban tatsächlich an ihre eigene Religion und besaßen daher kein ausgeprägtes Gespür für den kulturellen Wert von Monumenten anderer Religionen. Für sie waren die Buddhastatuen einfach nur falsche Götzenbilder und keine »kulturellen Schätze«.
Innerhalb dieses Rahmens des suspendierten Glaubens gibt es drei sogenannte »postsäkulare« Optionen: Entweder man preist den Reichtum an polytheistischen vormodernen Religionen, der durch das jüdisch-christliche patriarchalische Erbe unterdrückt wurde, oder man hält, im Gegensatz zum Christentum, an der Einzigartigkeit des jüdischen Erbes, an seiner Treue zu der Begegnung mit der radikalen Andersheit fest. Um aber jeglichem Mißverständnis vorzubeugen: Ich bin nicht der...
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