WOCHE 1
ANREISE (SONNTAG)
Lektion des Tages: Das Ende der Schulzeit ist nicht das Ende des Lebens
18:00 Uhr
Heute beginnt sie: die große Reise nach dem Abi. Endlich kein Stress mehr und keine Organisation mehr. Eine ganze Jahrgangsstufe und einen Schulabschluss zu meistern sowie einen Ball zu organisieren, ist mit 18 Jahren echt kräftezehrend. Die nächsten Wochen werde ich erst einmal ganz allein die afrikanische Welt in Namibia erkunden. Gestern habe ich noch mit dem Abiball das Ende meiner Schulzeit bis zum Sonnenaufgang gefeiert, jetzt ist es Zeit für das nächste Kapitel meines Lebens. Doch bevor im August mit der Ausbildung zur tiermedizinischen Fachangestellten beginnt, genieße ich vorher nochmal so richtig das Leben. Ohman! Wie das klingt! Als hätte ich danach nie wieder die Chance, das Leben zu genießen. Eigentlich sollten das Abi und die Arbeit danach ja nicht das Ende des Lebens bedeuten!! Trotzdem. Ein Stück Freiheit wird dann sicherlich weg sein. Ist meine Entscheidung denn die richtige? Und wie kann ich heute schon wissen, was ich mein Leben lang machen möchte?! Auf jeden Fall nichts mit Mathe. Und noch weniger etwas mit Chemie. Das habe ich glorreich abgewählt. Oder soll ich sagen chlorreich. Doch eines weiß ich ganz genau: Seit Jahren wollte ich ab in die Wüste, mit Wildpferden arbeiten, Kühe treiben und Zäune reparieren. Ganz wie bei McLeod's Töchter. Diese Serie aus dem australischen Outback liebe ich einfach so sehr. Jetzt werde ich mir endlich meinen Lebenstraum erfüllen! Durch einen Zufall wurde es allerdings Namibia und nicht Australien. Eigentlich wollte ich ja nach Down Under, doch da will jetzt jeder hin. Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, darauf zu sparen, war Australien noch etwas Besonderes. Doch seit den letzten ein, zwei Jahren wurde das ein solcher Hype. Und wenn da jeder hin will. Dann will ich eben woanders hin. Australien kann ja jeder. Und wer war schon mal in Afrika? Genauer gesagt in Namibia?!
19:30 Uhr
»Helmut and Karin Voegele. Please proceed to Gate D8. Boarding is closing.« Zum dritten Mal werden die beiden nun aufgerufen. Ich verstehe nicht, wieso Menschen nicht einfach erscheinen können, wenn sie aufgerufen werden. Das ist ja hier schließlich kein Busbahnhof, wo man auf der Straße noch hinterherrennen kann. Es ist alles gut organisiert, auf jedem Ticket und Bildschirm steht, wann man wo zu sein hat - und trotzdem schaffen es Menschen, noch unpünktlich oder überfordert zu sein. Ist es wirklich so schwer, Leute zu finden, die mitdenken? Genau das hat mich in den letzten Wochen schon ganz schön Nerven gekostet.
Naja, vielleicht ist es ja die erste Flugreise für sie. Das ist dann doch besonders aufregend. Dann könnte man es vielleicht noch irgendwie verstehen.
19:50 Uhr
Doch bevor ich mir darüber so richtig Gedanken machen kann, bin ich schon an der Reihe und halte der netten Flugbegleiterin meinen Pass entgegen, bevor ich die Stufen erklimme.
Verkatert und müde setze ich mich in den Flieger. Ich kuschele mich gerade in meinen Sitz am Fenster und freue mich, dass der Platz neben mir frei bleibt. Das Boarding ist fast beendet. Mensch, habe ich Dusel. So kann ich mich gemütlich ausbreiten und habe super viel Platz auf dem langen Flug. Zehn Stunden sind schließlich nicht ohne!
20:00 Uhr
Während ich nebenbei das Media-Angebot der Airline durchklicke, werden die letzten Passagiere aufgerufen, Helmut und Karin Vögele. Schon wieder diese zwei. Sag mal, die beiden haben es wirklich nicht verstanden, dass ein Flugzeug kein Bus ist und nur mitreisen darf, wer pünktlich da ist. Doch wer hätte es gedacht: Sie schaffen es noch in den Flieger, bevor die Türen geschlossen werden.
Schon während die beiden das Flugzeug betreten, wird mir klar, dass eines ihrer liebsten Hobbies wahrscheinlich kulinarisch verankert ist. Denn die zwei sind unübersehbar - im wahrsten Sinne des Wortes.
Wobei ich dabei nicht unfreundlich sein möchte. Soo breit sind die beiden dann doch wieder nicht. Mir fällt außerdem gleich auf, dass sie schwäbische Wurzeln haben. Was heißt »mir«? Uns! Alle Passagiere, die des Deutschen mächtig sind, bemerken das sofort. »Heilix Blechle. Des isch aber a großer Flieger. Mensch, Karin, mir müssed noch 25 Reihen hinter.« - »Jaja, no ned hudla. Der Vogel hebt ned ab, bevor mir ned sitze.« - »Ha noi, Karin, ha noi.« Im Wechsel bleiben Helmut und Karin mit ihren Körpern und Rucksäcken an den Sitzreihen hängen »Tschuldigung. Tschuldigung«. Bei jedem »Tschuldigung«, das Helmut ausspricht, dreht er sich zum betroffenen Passagier um. Bei jeder Umdrehung zurück in die eigentliche Laufrichtung rammt er erneut seinen viel zu großen Rucksack einem Passagier, dieses Mal auf der anderen Seite des Ganges, ins Gesicht. Daraufhin entschuldigt er sich wieder, was zur Folge hat, dass ein Passagier auf der anderen Seite den Rucksack wieder im Gesicht hat. Es ist ein Teufelskreis. »Zum Glück habe ich einen Fensterplatz«, denke ich mir. Dann brauche ich keine Angst vor den beiden und ihren Rucksäcken zu haben. Ich klappe besser jetzt einfach meinen Laptop zu und schließe schnell meine Augen, kuschele mich auf meine beiden Sitze und döse vor mich hin. Es ist ja nicht mein Job, dass die beiden ihren Platz finden und erreichen - und so gut wie fast alle sind an Bord.
20:05 Uhr
So war zumindest mein Plan. Bis eben.
Denn auf einmal werden meine Füße mit einem unsanften Ruck weggeschoben und mit einem lauten Pflatsch fällt jemand in den Sitz neben mir. »Achtung. S Vögele kommt«, erschrocken reiße ich meine Augen auf und erblicke einen breit grinsenden Schwaben. Besser gesagt: Ich spüre ihn. Ok, ich schau nochmal genau hin und muss mich zu meinem Gedanken vorhin korrigieren. Er ist doch breit. Sehr breit. Helmut Vögele fläzt sich mit seinem Allerwertesten im Sitz neben mir hin und her. Kein Wunder, dass er sich so auf die Reise freut. Er scheint sich extra vorbereitet zu haben. Seinem Körper nach zu urteilen hat er sich den Big Five (also den fünf großen Tieren aus Afrika: Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard) bereits gut angenähert, vor allem dem Elefanten. Auch der Lautstärke nach macht er einem Elefanten Konkurrenz. Denn die beiden unterhalten nicht nur sich, sondern den ganzen Flieger.
»Mensch, Karin. Etz geht's los. Sitzsch du gud?«, fragt mein Sitznachbar Helmut seine Karin, die am Gangplatz sitzt, als er sich nochmal nach rechts und links dreht. Mein Körper ist seinem unfreiwillig nahe. Soweit es geht, rücke ich ans Fenster, doch mehr Platz ist da nicht. Ich kann nicht weiter weg. Unsere Körper berühren sich und dabei schüttet meiner ganz und gar kein Oxytocin, also dieses berühmt-berüchtigte Kuschelhormon, sondern viel eher Ekel aus. Mich beschleicht der unschöne Verdacht, dass wir die nächsten zehn Stunden weiterhin intensiven Kontakt haben werden. Ob ich will oder nicht. »Ha ja, geht scho. Ausm oizwickte Arsch kommt koi fröhlicher Furz. Aber ich sollt mich jetzt auf dem Flug eh zurückhalten, mir sin ja ned unter uns«, antwortet die schwäbische Urlauberin auf dem Gangplatz ihrem Ehemann. Beide brechen in schallendes Gelächter aus. Ein leiser Flug scheint es nicht zu werden. Ohje. Goodbye, Nachtruhe.
Ich versuche es mit Verdrängung. Vielleicht klappt es ja, die beiden Schwaben neben mir zu ignorieren.
20:13 Uhr
Einen Versuch war es zumindest wert gewesen. Da stupst mich Helmut in die Seite: »Tschuldigung. Wussted Sie, dass man so früh in den Flieger einsteigen muss? Ich dachte, des isch wie im Bus. Fünf Minuten vorher da sein, reicht. Und dann haben die da vorhin so einen Stress gemacht.« Ich muss mich zusammennehmen höflich zu antworten und meine Augen nicht zu verdrehen. Helmut kann ja nicht ahnen, dass ich gerade mein Abitur hinter mir habe, das nicht meine erste Flugreise ist und ich - im Gegensatz zu ihnen - sehr müde und eventuell noch dezent alkoholisiert bin. Daher antworte ich meinem Sitznachbar freundlich, dass man bei Langstreckenflügen am besten eine Stunde vorher am Gate sein sollte. Das verwundert ihn und er bedankt sich für die Info. Immerhin sind die beiden nicht unfreundlich. Das macht die Kuschelstunde ein klitzekleines bisschen erträglicher.
Ach und übrigens:
Meine nächste Lektion: Verkatert fliegen ist keine so gute Idee. Ok, um genau zu sein: eine richtig doofe Idee. Als würde das Fliegen selbst nicht schon eine wackelige Angelegenheit sein, so dreht sich mein Kopf immer weiter und das, obwohl wir noch nicht einmal abgehoben haben. Dieser Abiball hängt mir in den Knochen. Was sag ich: Im Kopf! Im Magen! Kein Schlaf, viel Party, viel Alkohol. Was ich die nächsten Wochen brauchen werde? Viel frische Luft, viele Pferde und definitiv keinen Alkohol. Einfach Zeit für mich, um herauszufinden, was ich denn nun mit meinem Leben anfangen möchte.
20:25 Uhr
Pünktlich startet der Flieger (ein Airbus von Air Namibia) von Terminal 2, Gate D8 in Frankfurt. Der Start verläuft gut, die Flugangst, die mich seit meinem letzten Flug plagt, ist wie weggeblasen. Einen so schlimmen Flug wie wenige Monate zuvor von Dubai nach Hause habe ich noch nie erlebt. Gerüttelt und geschüttelt. Getränke ausgeschüttet. Die Brötchen flogen durchs Flugzeug. Schrecklich! Hoffentlich wird dieser Flug heute besser. Seit Tagen konnte ich schon nicht mehr schlafen! Erst die Anspannung vor den...