Schweitzer Fachinformationen
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Berghaus hatte den mumifizierten Finger zusammen mit dem Brief bei Laura Licht, der Rechtsmedizinerin in Annaberg, abgegeben. Sie wollte versuchen, einen Fingerabdruck oder ein DNA-Extrakt zu generieren, und hatte die Aufgabe mit leuchtenden Augen angenommen.
Es war halb sieben, als er wieder zu Hause ankam, und Anne Keller war weit und breit nicht in Sicht. Berghaus zog sich mit seinem Laptop in seine sonnendurchflutete Küche zurück und begann, in verschiedenen Datenbanken nach »4Z5« zu suchen, während er das Abendessen zubereitete - gedünstetes Gemüse, Babykartoffeln und in dünne Speckscheiben gewickelten Lachs.
Zuerst poppte eine Luftfahrtkarte auf, der zufolge »4Z5« die Ortsangabe für den Flughafen Horsfeld war, etwa vierhundert Meilen östlich von Anchorage, Alaska.
Berghaus schaute auf ein vergrößertes Foto des Fingers, das Laura für ihn ausgedruckt hatte. »Ich bezweifle, dass du von dort kommst«, murmelte er.
Das zweite Ergebnis führte ihn zu einer Protein-Datenbank, wo sich eine bunte, makromolekulare 3D-Struktur auf dem Bildschirm drehte und wendete wie ein Regenbogenwurm. Der vollständige Name von »4Z5« war über drei Zeilen lang, und es handelte sich um ein Nicht-Polymer. Berghaus schloss schnell das Suchfenster, bevor sich seine Augen im Takt mitdrehten.
Er zog eine Kopie des Briefes zu sich heran. »Ich weiß, was damals wirklich passiert ist. Gehen Sie zu?4Z5.« Er beschloss, dass das, was wirklich passiert war, nichts mit einer chemischen Komponente zu tun hatte. Oder hatte die Person auf diese Weise den Finger verloren?
»4Z5« war auch Teil verschiedener Postleitzahlen im Vereinigten Königreich, den USA und Kanada, aber Berghaus bezweifelte, dass der Finger so weit gereist war. Nein, dieser Finger hatte das Erzgebirge nie verlassen.
Entmutigt verließ er die Küche und gönnte sich ein Glas Bushmills, sein neuer irischer Lieblingswhiskey, der mit dem Slogan »Dunkler Charakter mit Tiefe« warb - irgendwie passend für seinen neuen Fall. Mit Zeichenblock und Bleistift bewaffnet, ließ er sich auf seiner Couch nieder. Berghaus leerte das Glas in einem Zug, schloss die Augen und genoss die sich von der Magengrube in seinem ganzen Körper ausbreitende Wärme. Ein vertrauter süßer und gleichzeitig rauchiger Geschmack setzte sich in seinem Mund fest und ließ seine Geschmacksknospen tanzen. Er holte tief Luft und begann zu zeichnen.
Seine Gedanken schweiften abermals zu seiner Kindheit ab. Die ständigen Schikanen seines Vaters. Die hasserfüllten Blicke seines Halbbruders Jan. Die Teilnahmslosigkeit seiner Mutter. Sein Vater war Kriminalbeamter in Dresden gewesen, und Berghaus hatte sich geschworen, niemals so zu werden wie er.
Niemals Polizeibeamter zu werden.
Niemals eine Waffe zu besitzen.
Niemals eine Marke zu tragen.
Draußen kam ein roter Mini Cooper zum Stehen. Musik plärrte aus den Boxen. Berghaus schaute auf das, was seine Hand gezeichnet hatte. Das sanfte schwarz-weiße Gesicht eines gut aussehenden Mannes mittleren Alters blickte zu ihm auf. Er hatte einen zurückweichenden Haaransatz oberhalb der Schläfen und ein Glitzern in den Augen, das es unmöglich machte, seine Gedanken zu lesen. Der Mund stand halb offen, als sei er mitten in einem Satz gefangen.
Wut überkam Berghaus. Er riss das Papier vom Block, knüllte es zusammen und stopfte es in seine Hosentasche.
Erstickende Wärme schlug ihm entgegen, als er die Haustür öffnete, um Anne Keller zu begrüßen. Die langsam untergehende Sonne hatte nicht an Kraft eingebüßt - die Luft, die nach süßen Sommerdüften und Gegrilltem roch, war nicht einen Hauch kühler. Ein magisches, intensives Licht lag golden über Baumkronen und Hausdächern. Anne Keller kletterte aus ihrem Auto, nahm einen Rucksack vom Beifahrersitz und schritt selbstbewusst auf Berghaus zu. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Berghaus öffnete zögerlich die Arme und bot Keller eine Umarmung an, machte aber gleichzeitig einen Schritt zurück. Bei Keller wusste er nie, was er zu erwarten hatte. Sie war für ihn unlesbar.
Seit dem letzten gemeinsamen Fall hatten sie sich mehrmals außerhalb der Arbeit getroffen und einander besser kennengelernt. Sie hatten sich geküsst und waren in den Armen des anderen eingeschlafen, aber Berghaus hatte schnell gelernt, dass dies bei Keller nicht jedes Mal selbstverständlich war. Es gab Tage, an denen wollte sie überhaupt nicht berührt werden. Auf die Frage nach dem Warum wollte oder konnte sie keine Antwort geben, und Berghaus vermutete, dass sie den Grund meistens selbst nicht kannte. Er hatte versprochen, ihr alle Zeit der Welt zu geben.
Keller trug noch ihre Uniform; offenbar war sie von der Anhörung direkt nach Crottendorf gekommen. Tief ausatmend fiel sie in seine Arme und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Berghaus küsste ihren Kopf und sog lächelnd den fruchtigen Duft ihres Markenparfüms ein: Delicious Apple. Erst als sie aufsah, wurde ihm bewusst, wie sehr er in den letzten Wochen jeden einzelnen Teil von ihr vermisst hatte: ihre katzengrünen Augen, ihre makellose Haut, ihre ebenmäßigen Wangenknochen. Und ihren Mund. Einen Mund, der für viele Jahre keinen Grund zum Lächeln gehabt hatte.
»Wie siehst du denn aus?« Keller zog die Stirn in Falten und blickte missbilligend zu ihm auf.
»Freut mich auch, dich wiederzusehen. Das«, antwortete Berghaus und deutete auf sein linkes Auge, »ist ein hartnäckiges Gerstenkorn, das ich einfach nicht loswerde.«
Keller musterte prüfend die rote Schwellung an seinem oberen Augenlid. »Hast du versucht, das aufzudrücken?«
»Hm.«
»Wie eklig.« Angewidert trat sie einen Schritt zurück. »Du solltest zum Arzt gehen. Das sieht nicht gut aus.«
»Sag bloß, du hast Angst vorm Augenarzt?« Sie grinste.
»Wie war die Anhörung?«, gab er grinsend zurück.
»Ich will nicht darüber reden.« Bockig ließ sie ihren Rucksack neben der Eingangstür fallen.
»Hunger?«
»Die erste anständige Frage des Tages. Ja. Es riecht fischig.« Sie plumpste auf die Couch, während Berghaus zwei Bier aus dem Kühlschrank holte.
»Du zeichnest wieder?«, fragte Keller und nickte in Richtung des Blocks.
»Du weißt doch, dass ich gern zeichne.«
»Vor allem, wenn ein leeres Whiskeyglas auf dem Zeichenblock steht. Welche harte Wahrheit bevorzugst du dieses Mal lieber zu ignorieren?«, stichelte sie weiter.
»Essen ist fertig«, antwortete Berghaus und balancierte zwei Teller mit dampfendem Lachs in Richtung Garten. Keller stand auf und hielt fragend ein zerknittertes Stück Papier hoch.
Berghaus rollte die Augen. »Was?« Die Zeichnung musste ihm aus der Hosentasche gefallen sein.
»Wer ist das?«, fragte Keller.
»Ich . arbeite an meinen Gesichtstechniken.«
»Er lächelt, sieht glücklich aus«, antwortete sie und drehte das Papier um, um es zu betrachten.
»Wirf es bitte in den Mülleimer.« Berghaus ging ohne einen weiteren Blick an ihr vorbei.
Sie aßen schweigend, aber nicht in Stille. Mit der untergehenden Sonne hatte sich das Summen und Brummen von unzähligen Mücken, Fliegen, Marienkäfern und anderen geflügelten Kreaturen zu einem fast kopfschmerzauslösenden Crescendo gesteigert, als würden unendlich viele winzige Motoren gleichzeitig surren. Vögel zischten über ihre Köpfe hinweg, um ihre Jungen zu füttern, während die Nachbarskatze faul unter Berghaus' fruchtlosem Pflaumenbaum döste. Aus den Gärten ringsum wehten Kinderlachen und leise Musik herüber.
»Warum bin ich hier?«, fragte Keller neugierig, legte Messer und Gabel auf ihren leeren Teller und lehnte sich zurück.
»Das hatte ich heute in der Post. Was hältst du davon?« Berghaus gab ihr den Brief und das Foto des Fingers.
Sie zog kurz die Augenbrauen zusammen. »Geschichte war noch nie mein Lieblingsthema.« Doch ihr Gesicht wurde ernst, als sie die Details betrachtete.
»Der Absender muss wissen, dass du bei der Polizei arbeitest. Vielleicht ist es sogar jemand, den du kennst. Jemand, der Angst hat oder sich schämt, persönlich mit dir zu sprechen. Hat dir in letzter Zeit jemand heimlich etwas sagen wollen?«
Berghaus zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«
»Feingefühl ist nicht gerade deine Stärke.« Sie schüttelte den Kopf und boxte ihn spielerisch in die Seite. »Aber warum jetzt? Ich meine, der Finger ist doch nicht erst gestern abgefallen.«
»Irgendein kürzliches Ereignis muss ein schlechtes Gewissen geweckt und den Absender veranlasst haben, sich zu melden.«
»>Ich weiß, was damals wirklich passiert ist<«, las Keller laut vor. »Das Wort >wirklich< ist das, was es interessant macht. Es ist etwas passiert, das jeder bis heute für die Wahrheit hält, aber derjenige, der diesen Brief geschrieben hat, kennt eine andere Version der Geschichte.«
»Leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wonach ich suchen soll. Unfall? Überfall? Vermisstenfall?«
Keller hob die Hände. »Ich bin erst vor einer Stunde angekommen. Du hattest doch den halben Tag Zeit zur Recherche. Also, Herr Hauptkommissar, lassen Sie mal hören.« Sie lehnte sich nach vorn, stützte die Arme auf den Tisch und nuckelte mit großen Augen an ihrer Bierflasche.
Berghaus schmunzelte und erklärte, was er bisher über »4Z5« herausgefunden hatte. »Es ist offensichtlich kein Flughafen in Alaska!«
Keller sah ihn an, als wäre er dumm. »Du hättest dich auf dieses Gebiet konzentrieren sollen.«
»Das habe ich. Es sind keine Koordinaten. Allerdings haben viele Hausnummern in Crottendorf einen Buchstaben am Ende, und...
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