"DER HOF ALS LEBENSSCHULE"
für mich und meine persönliche Entwicklung außerordentlich wichtig war. Hier war ich mit Gleichaltrigen, Jüngeren oder Älteren zusammen und musste mir meinen Rang und meine Position suchen. Zu meiner Zeit waren praktisch alle Buben ab einem gewissen Alter in irgendeiner Bande, die sich meistens um einen Reichenauer Rattler herum gebildet hat. Der "Bandenboss" scharte dann ein paar jüngere Bewunderer, Mitläufer und Speichellecker um sich, die ihm völlig ergeben waren und seinen Anweisungen strikt Folge leisteten. Später haben wir diese Typen "Schas-Aufklauber" genannt. Aber die Schas-Aufklauber waren mitunter die Gefährlichsten, denn am ehesten konnte man in einer Bande durch besondere Brutalität aufsteigen. Und so hast du dir manchmal von so einem Typen ein paar Watschen eingefangen, obwohl er dir sonst - ohne seine Bande unterwegs - sofort aus dem Weg gegangen wäre. In der Gruppe waren sie dann stark, das kennt man ja. Aber das hat damals ganz einfach zum Aufwachsen in der Reichenau dazugehört, die Alternative wäre gewesen, ein Stubenhocker zu sein. Dann aber lieber draußen spielen, auch auf die Gefahr hin, dass man zwischendurch einmal der falschen Gruppe Jugendlicher in die Quere kommt. Das waren, wie man sich leicht vorstellen kann, oft ziemlich schmerzhafte Momente und ich möchte trotzdem keine der Erfahrungen von damals missen. Auch wenn das Stehen in einem Blecheimer voller Brennnesseln keine sonderlich schöne Erinnerung darstellt. Aber als Mutprobe und als Aufnahmeritual in die Bande war es unverzichtbar und nur das zählte.
Zwischen den Häuserblocks der Radetzky- und der Wörndlestraße standen eine ganze Reihe von Teppichklopfstangen. Die dienten uns Kindern als Klettergerüst, als Fußballtor, als Marterpfahl oder als Zielobjekt beim Steinewerfen, aber natürlich waren sie in erster Linie zum Teppichklopfen und Wäscheaufhängen gedacht. Arbeiten, die ausschließlich von Frauen erledigt wurden, ein Mann an der Wäscheleine und mit Kluppen in der Hand wäre damals schlicht undenkbar gewesen. Zumindest in dem Umfeld, in welchem ich aufgewachsen bin. Ich habe während meiner ganzen Kindheit nie von einem Mann gehört, der daheim im Haushalt mitgeholfen hätte. Einzige Ausnahme - Fred Feuerstein. Die Comic-Figur hat in mindestens einer Folge Hausarbeit verrichtet, ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er am Bügelbrett steht. Das hat mir den Fred Feuerstein noch lächerlicher gemacht, als er ohnehin schon dargestellt wurde. Hausarbeit als Mann, na geh bitte . Das passte einfach nicht ins gesellschaftliche Konzept und hätte ich meinen Vater mit dem Geschirrtuch in der Hand "ertappt", dann wäre ich wohl nachhaltig traumatisiert gewesen ob dieses tiefen Risses im Rahmen meines Weltbildes.
Im Hof war immer etwas los, es waren immer Kinder oder Halbwüchsige unterwegs, es gab immer etwas zu beobachten, zu spielen oder vor irgendetwas oder irgendjemand davonzulaufen. Oft auch vor Erwachsenen, denn zu jener Zeit war es normal, dass freche Kinder auch von Unbekannten auf offener Straße abgewatscht oder mit einem Fußtritt verjagt wurden. Darüber hat sich von den anderen Erwachsenen nie jemand aufgeregt, damit hatten wir selber klarzukommen. Wir kleinen Rattler mussten uns also in jeder einzelnen Minute behaupten, Schwächen wurden als "weibisch" bezeichnet, ein Indianer kennt keinen Schmerz.
Als Dreikäsehoch mit ca. sieben Jahren.
Das hat schon als ganz Kleiner begonnen, als ungefähr 8-Jähriger wollte ich mich einmal mit einer Wahnsinnsaktion in den Vordergrund spielen: Als Kind war ich eine ausgewiesene Wasserratte, bei jeder Gelegenheit im Tivoli, und an eine Zeit als Nichtschwimmer habe ich keinerlei Erinnerung. Ich traute mich schon früh vom 10-Meter-Turm zu springen (für ein Cornetto!), vom Einser-Trampolin und vom Beckenrand drehte ich Rückwärtssaltos ins Wasser. Und genau so einen feschen Salto wollte ich im Hof vorführen, von einer gut eineinhalb Meter hohen Mauer und natürlich ohne ein Wasserbecken. Ich bin flach am Rücken auf der harten Wiese aufgeprallt und auch eineinhalb Meter Höhe genügen, dass die Luft vollständig aus den Lungen gepresst wird und für geraume Zeit wegbleibt. Nach dem ersten erfolgreichen Japsen nach Luft habe ich dann die kommenden Minuten damit verbracht, mir möglichst nichts von meinen Schmerzen anmerken zu lassen.
Dafür habe ich mich beim "Bienenpflücken" um einiges geschickter angestellt. Die Herausforderung war, die fleißigen Honigsammler mit Daumen und Zeigefinger direkt von den Hagebuttenblüten zu pflücken, an ihren Flügeln. Man hat beide Flügelchen zugleich erwischen müssen, sonst hätte sich die Biene wohl mit einem Stich für das Eindringen in ihren Intimbereich gewehrt. Ich bin nie gestochen worden und im Gegensatz zu so manchem Mitspieler habe ich die Bienen anschließend nicht zu Boden geschmissen und zertreten, sondern hoch in die Luft hinaufgeworfen. Das hat immer lässig ausgeschaut, wenn die armen Immen sich zuerst wild überschlagen haben und dann aus dem Taumeln heraus kontrolliert weggeflogen sind. Die Hagebuttensträucher dienten uns auch für eine besonders "witzige" Gemeinheit. Hat man nämlich die Kapseln der Früchte aufgebrochen, war man mit etwas wirklich Wertvollem ausgestattet - mit erstklassigem Juckpulver. Sogar hochwertiger und damit wirkungsvoller als jenes, welches es während des Faschings in den einschlägigen Geschäften und Tabaktrafiken zu kaufen gegeben hat. Eine kleine Portion Hagebutten-Juckpulver in den Hemdkragen geschüttet und du hast nach einer Dusche gebettelt, anders ist das Zeugs nicht zu bändigen gewesen. Ein ganz besonders lustiger Rattler soll einmal sogar das Toilettenpapier in der Wörndle-Schule mit Juckpulver behandelt haben, aber das war Hörensagen und wahrscheinlich nur eine Legende. Aber allein die Vorstellung, er könnte es getan haben, hatte was für sich .
Meine ersten Versuche, mit dem Fahrrad zu fahren, hab ich in einer Hauseinfahrt der Wörndlestraße unternommen. Ich bin gefühlte tausendmal umgefallen, meine Knie hatten kaum noch unversehrte Haut aufzuweisen und ich wäre dennoch nicht auf den Gedanken gekommen, aufzuhören. Denn als Radfahrer hatte ich mich schon mal über die reinen Tretrollerfahrer erhoben und es hat nebenbei auch meinen Aktionsradius beträchtlich erhöht. Ich entdeckte die Burkhard-Breitner-Straße, die Klappholzstraße, die Andechsstraße, die Reut-Nicolussi-Straße oder die Wopfnerstraße und wagte mich bis an das westliche Ende der Reichenau heran, an den Dotterbichl. Denn das tägliche "Ich geh jetzt in den Hof" war natürlich nicht auf den Hof selbst beschränkt, es war vielmehr ein "Bin dann mal weg". Kaum ein Kind wurde von den Eltern kontrolliert, ob es sich auch wirklich im Hof aufhält. Und wenn, dann wurden diese Kinder natürlich deswegen gehänselt und rutschten in der Rangfolge automatisch leicht nach unten. Ein richtiger Rattler hat auch nicht zu einer bestimmten Zeit daheim sein müssen, wenn er zu spät gekommen ist, dann ist er halt ohne Essen ins Bett gegangen. So einfach war das. Das ist mir übrigens nicht nur einmal passiert und es hat mir sehr dabei geholfen, lebenslang ein pünktlicher Mensch zu sein. Trotzdem bin ich für die freie Hand meiner Oma und später meiner Mutter sehr dankbar, denn auch das hat mir geholfen, früh ein selbständiger Mensch zu werden. Ich habe auch ohne Diskussionen und jederzeit bei Freunden übernachten dürfen - natürlich auch umgekehrt -, das war ein unbezahlbares Privileg, vor allem während meiner Pubertät .
Auf unseren Streifzügen durch den Hof und seine Umgebung waren wir also ohne jegliche Aufsicht und natürlich haben wir dementsprechend auch so manchen Blödsinn aufgeführt. Einiges war sicher grenzwertig und es wird hier noch viel davon zu lesen sein. Vielleicht haben wir manchmal schon mit einem Fuß ein Gesetz übertreten - aber niemand von den vielen Leuten, die ich aus der Reichenau kenne und die ich (auch ungefragt) zu den echten Rattlern zähle, war jemals kriminell. Wir haben (praktisch) nie etwas gestohlen, niemals irgendetwas aufgebrochen oder gar wo eingebrochen - solche Leute habe ich nie näher kennengelernt. Klar, ein paarmal, wenn es halt einer unbedingt wissen hat wollen, dann wird schon ein Nasenbein geknackst und das eine oder andere Zähnlein gewackelt haben, dafür kriegt man bekanntlich auch keine Auszeichnung. Vor allem als Reichenauer Rattler nicht. Aber mit kriminell hat das rein gar nichts zu tun und ich sage es gerne noch einmal - um dieses Milieu haben wir alle den größtmöglichen Bogen gemacht. Gekannt haben wir solche Leute natürlich, man geht ja mit offenen Ohren durchs Leben. Aber das war irgendwie deren Privatsache und ist mich nichts angegangen, auf die Idee, die Polizei über vages Hörensagen zu informieren, wäre ich jedenfalls nie gekommen.
Und was mir noch einfällt - wir haben nie etwas mit Drogen zu tun gehabt. Während meiner ganzen Jugendjahre in der Reichenau bin ich nie mit Haschisch oder anderen Rauschgiften in Berührung gekommen. Keiner von uns. Natürlich ist auch damals schon gekifft worden in Innsbruck, aber Haschisch war etwas für die Hippies, die Langhaarigen und Gammler - wir haben sie kurzerhand "Giftler" genannt. Auch in der Reichenau hat es diese "Giftler" gegeben, die langhaarigen Gammlertypen waren automatisch verdächtig und wenn einer noch das Peace-Zeichen an einer Kette über dem indischen Baumwollhemd getragen hat, dann war für uns alles klar. Wir haben die paar Hippies damals höchstens ausgelacht und verspottet, zu tun gehabt haben wir mit solchen Leuten aber nie etwas. Es trennten uns gleich mehrere Welten...