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Ich kam nie an, suchte kein Endziel,
blieb unterwegs, bin es immer noch
Der 18-jährige >prisoner of war< mag bei seiner Entlassung im April 1946 eines schon geahnt haben - in diesem >neuen<, westlich verorteten Vaterland musste man mit dem Fremden als andauernder Erfahrung rechnen. Gehörte nicht auch er zu der Generation »ohne Jugend [.], ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied«, die Wolfgang Borchert damals beklagt? Noch Jahrzehnte später wird Günter Grass das Empfinden von Ankunftlosigkeit und Unaufgehobenheit begleiten, als Alltagsproblem und als intellektuelle Herausforderung. Denn schon am Ende der Kriegskatastrophe war der Danziger Junge in ein Niemandsland zwischen zwei antagonistischen Welt(un)ordnungen geraten. Zuinnerst aufgewühlt von Gewalttraumata und ideologischem Massenterror ist er in dieser Zeit, entrissen jeder persönlichen und kulturellen Vertrautheit und bald misstrauisch gegenüber allem, was sich als zukunftsverheißend ausgeben will. Derweil hat die Nation der Deutschen ringsum nur Ruinenfelder und bloodlands, nichts als Moralwüsten zu gewärtigen. Verlassen scheint sie von allem abendländischen Humanismus, selbst noch vom Heiligen Geist. Und so sind es bohrende Erinnerungen an Nazi-Wahn und Menschenvernichtung, zunehmend auch persönliche Schuldgefühle, die dem ehemals zwangsrekrutierten Waffen-SSler auf der Seele liegen. Währenddessen droht die unwirtliche >Republik ohne Leitbild< mehr und mehr dem Verdrängungssyndrom der >Stunde Null< zu verfallen. Dem gebrannten, halbkaschubischen Kriegs- und Flüchtlingskind aber wird sein lern- und kunstbegieriges Ich viel später noch als ortlos und unstet erscheinen, ja unheilbar auf Widerspruch gestimmt. Und schon früh dürfte ihm klargeworden sein, dass besonders den Fremden und Heimatlosen die Horizonte weiter gespannt [sind] als den Bewohnern kleiner und größerer Erbgrundstücke. Günter Grass habe in seiner Zeit zum >Künstler der Ungewissheit< werden müssen, sollte der Migrant Salman Rushdie einmal sagen.
Grass' Romandebüt >Die Blechtrommel< (1959), dieses seit je kaum vergleichbare Erzählmonstrum, brachte es angesichts der Jahrhundertkatastrophen in Deutschland und Europa zu einer Art literarischem Vulkanausbruch. Das Buch verfolgte eine maßgebliche Intention, es wollte dem »abgefeimten Konformismus« (Theodor W. Adorno) der neuen deutschen Bürgermentalität in grotesker Manier widerstreiten. Nach Jahrzehnten der Wesensvergötzung und Machtperversion des Nationalen war es dieser 32-jährige Autor, der ein durch Nazi-Wahn, Krieg und Holocaust ruiniertes Land zu jenem Ausnüchterungs-Epos modellierte, das dem Ungeist von Beschweigen und falscher Versöhnung das Höllengelächter eines kleinbürgerlichen Schuld-Syndroms entgegenhielt. Dem Erzählimpetus der >Blechtrommel< zufolge durfte das künftige Selbstverständnis der Deutschen nicht länger in Gestalt kunstgeweihter Nationalmythen daherkommen, sondern musste als historisches Projekt einer alltagsgrauen Sühnepflicht erkennbar werden. So waren es die in der jungen Republik umstrittenen Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Verantwortung gegenüber sozialer Dekadenz, Menschenmord und Weltkriegsinferno, die als moralischer Reflexionskern der >Danziger Trilogie< artistische Erzählfunken schlugen. Der Dämonie des Nationalsozialismus samt seiner ideologischen Nachhut will der junge Grass mit kaltem Gelächter den verlogenen Schauer zersetzen.
Vielen in der linken Intelligenz, von Hans Magnus Enzensberger bis Ulrike Meinhof, wurde damals klar, dass es sich bei dem misswüchsigen Blechtrommler Oskar Matzerath um mehr als einen literarischen Schelm, sondern um das Vexierbild eines bundesdeutschen Oppositionshabitus handelte: »Oskar ist unser«. Das sei zum ersten Mal »unsere Stimme« gewesen, hat Jürgen Habermas Jahrzehnte später noch über die >Blechtrommel< gesagt. Deren ungestalte und stigmatisierte, so aufsässige wie gewitzte Anti-Heldenfigur stellte nicht weniger dar als eine fiktionale Ausgeburt des desaströsen 20. Jahrhunderts. Nur ein diabolisch diskursgewandter Homunkulus, der so unterkühlt und genau zu erzählen vermochte, schien fähig, der Bestialität, der Infantilität und der Verbrechen des Nazitums dezidiert gegenwartskritisch beizukommen. Dieser irritierende Roman konnte im Adenauer-Deutschland der Sechzigerjahre nur einen Skandal auslösen: Bürgerschreck, Prostituiertenjargon, kindhafte Regression, Revolte des Schwachsinns, klinische Phantasmagorie, krude Geschlechtlichkeit, Kirchenschändung, ja ein episches Crescendo des Absurden und Abstoßenden, so lauteten einige der hysterischen Verdikte gegen das erfolgreiche Buch und seinen Verfasser. Dieses Werk eines Nihilisten dürfe man niemals jungen Menschen in die Hand geben, es heile nicht, sondern verletze nur. Denn nicht allein die dekadente Sucht nach der Entwertung aller Werte tobe sich in dem Machwerk aus, sondern der Mensch als solcher werde durch seine »zoologische Auffassung« zutiefst diffamiert. Das Buch zeige nichts als die verkehrte Seelenentfaltung von Individuen, ja es propagiere den Absturz aller Autoritäten, zumal derjenigen des väterlichen Leitbildes. Und so musste der Anti-Grass-Kanzelton im rechten Milieu des Politikspektrums, besonders bei den Ost-Vertriebenen, höchst diffamierend ausfallen. Vom »Groß-Verzichtler auf urdeutsches Land«, von einem »Bastard« war hier die Rede, der »erbbiologisch wie auch visuell alle Merkmale eines kaschubischen Mischlings« zeige.
Intellektueller Enthusiasmus und Aufschreie der blanken Empörung in der frühen Bundesrepublik, ein avantgardistischer Roman als Massenlektüre - das hatte es in deutschen Landen nur äußerst selten einmal gegeben. Enervierender noch, die >Blechtrommel< machte in kurzer Zeit auch international Furore. In ganz Europa und in Amerika erschienen bald die ersten Übersetzungen dieser »creation of a hilarious, unsentimental [.] and unforgettable satire on the Third Reich [.] and on Mankind«. Der US-Kritiker Richard Kluger schrieb, >The Tin Drum< stamme von einem der bedeutendsten Epiker des 20. Jahrhunderts. Für Enzensberger war die bundesrepublikanische Literatur mit diesem Werk geradezu am »Klassenziel der Weltkultur« angekommen. In der Tat befand sich Günter Grass zu Anfang der Sechzigerjahre bereits auf dem ersten Höhengrat seines Dichterruhms. Ein Monolith exquisiter Literatur der aufgeklärten Moderne war mit der >Blechtrommel< in die Welt gekommen, und das aus dem Land der abenddämmrigen Politik-Mythen und schwerblütigen Romantizismen. So oder ähnlich lauteten die überraschten Erfahrungen im Ausland. Grass wurde zum Inbegriff einer sich wandelnden Eigenwahrnehmung des einstigen Nazi->Tätervolks<. Jenseits der deutschen Grenzen galt der (selbst-)kritische Schuld-Diskurs bei diesem Schriftsteller als unverkennbar.1
Es war der so fremdartig wie vertraut wirkende Künstler-Autor aus dem verlorenen Danzig, schon früh eine Berühmtheit der >Gruppe 47<, der in den Sechzigerjahren zur Ikone einer neuen, umstrittenen literarischen Opposition in der Bundesrepublik werden sollte. Mit seinem außergewöhnlichen Symbolkapital prägte Grass seit 1961 auch die Diskussionen und Verhandlungen mit den SPD-Größen um Willy Brandt. Der einstige Emigrant und charismatische Sozialdemokrat wurde für den Dichter zur Leit- und Vaterfigur, Brandt zog ihn in die Nähe der Parteiräson und vermittelte seiner Politikauffassung, seinem aufgeklärten Revisionismus, manche Inspiration. Vor allem deshalb sollte Günter Grass im eigenen Kollegenkreis immer wieder als eine ebenso illustre wie beargwöhnte Figur erscheinen, die Beziehung zur Sozialdemokratie wird sich in den intellektuellen Fraktions- und Autonomie-Kämpfen künftig noch oft genug als Ferment und als Scheidelinie erweisen. Dass sich ein Schriftsteller als Bürger in die parteipolitische Tretmühle begab, war im historischen Wahrnehmungsspektrum (linker) deutscher Intellektualität bis dato nicht vorgesehen.
Doch wenn Grass die Werbetrommel für die SPD schlug, tat er dies aus staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein wie auch mit dem Mut des unabhängigen Geistes. Er wollte mehr sein als ein »ehrwürdiger Neinsager«, den Martin Walser damals beklagte, er warb um das pragmatische Engagement der Intellektuellen, er forderte Sachkompetenz, parteiorientierte Streitbarkeit und dennoch jede Freiheit zur geistigen Selbstentfaltung. Der Autor der >Blechtrommel<, von >Katz und Maus< und >Hundejahre< wurde zum Duz-Freund Willy Brandts, zum prominenten wie berüchtigten Wahlredner, zum Politik-Vordenker...
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