Schweitzer Fachinformationen
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Eine Einleitung
Die Brust wird an einem warmen Tag im Juni zum Politikum. Annähernd 35 Grad. Eine Frau geht mit ihrem sechsjährigen Sohn, einem Freund und dessen kleiner Tochter in den Park. Dort gibt es einen Wasserspielplatz, wo die Kinder durchs Wasser hüpfen und sich abkühlen. Die Frau und der Mann ziehen beide ihr Oberteil aus und sonnen sich mit nacktem Oberkörper. Doch nach kurzer Zeit fordern Sicherheitskräfte die Frau auf, ihren Busen zu bedecken. Der Park sei schließlich kein FKK-Bereich. Sie weigert sich, die Polizei wird gerufen, die kleine Gruppe verlässt mit den verängstigten Kindern den Park.
So geschehen im Sommer 2021 im Berlin. Doch die Frau, der das Entblößen ihres Oberkörpers verboten wurde, die Architektin Gabrielle Lebreton, wollte sich mit dieser Ungleichbehandlung nicht abfinden und klagte vor dem Berliner Landgericht auf Schadensersatz. Ihre Klage wurde in erster Instanz mit der Begründung abgewiesen, eine Diskriminierung sei nicht zu erkennen. Folgenlos war der Gang vor Gericht dennoch nicht, führte er doch dazu, dass die Nutzungsordnung des Wasserspielplatzes geändert wurde. Alle Menschen dürfen sich künftig mit unbekleidetem Oberkörper dort aufhalten. Auf den Münchner Isarwiesen wird dies schon länger praktiziert. Und auch die Stadt Göttingen ging 2022 nach einem Konflikt mit einer Schwimmer*in, die sich weder als männlich noch als weiblich sieht, dazu über, allen das Oben-ohne zu erlauben.1 Zu verdanken ist dies auch dem Einsatz von Gruppen wie dem Aktionsbündnis Gleiche Brust für alle, das die Auseinandersetzungen mit Petitionen und Demos begleitete. So fuhr im Juli 2022 ein Oben-ohne-Radkorso durch Berlin, bei dem Schilder mit Aufschriften wie »boobs have no gender« (»Brüste haben kein Geschlecht«) hochgehalten wurden. Das Bild zur Netzkampagne war eine Karikatur, die die Willkür beim Umgang mit Brüsten auf den Punkt bringt (Abb. 1).
1 »Oh Gott, Helen - so kannst Du unmöglich an den Strand gehen! Das ist obszön!« Mit diesem Cartoon wurden die Internetkampagnen #GleicheBrustfürAlle und #EqualBodyRights bebildert.2
Die anstößige Brust ergibt sich in diesem Bild aus zwei bescheidenen Hinweisen auf das Geschlecht: Frisur und geschminkte Lippen. Die Körperteile aber, um die es geht, sehen völlig identisch aus. Und so forciert der Cartoon Fragen. Wieso eigentlich ist der linke Oberkörper schamlos, der rechte nicht? Wieso hat der linke einen Busen und der rechte nicht?
Dieses Buch will zeigen, dass die Willkür der Zuweisung nicht bedeutet, dass sie zufällig oder wahllos geschieht, oder leicht zu ändern wäre. Die Macht des Busens ist enorm und wird dennoch fortwährend verkannt. Dabei ist allein in den letzten Jahren vor Gericht in so vielen Fällen um den Busen gestritten worden, dass es naiv wäre, ihm seine (gesellschafts-)politische Brisanz abzusprechen.3 Amerikanische Fernsehsender erreichte 2004 eine Bußgeldforderung in Höhe von 550 000 Dollar, nachdem während der Super-Bowl-Übertragung kurzzeitig die Brust der Popsängerin Janet Jackson zu sehen war. In Anlehnung an die Watergate-Affäre, die US-Präsident Nixon das Amt gekostet hatte, wurde das Ereignis als Nipplegate bezeichnet. Die politische Sprengkraft der weiblichen Brustwarze zündete damit zumindest sprachlich. Dabei geht es vor Gericht keineswegs immer nur um ein Verbot der Sichtbarkeit der Brust. 2016 sorgte ein in Frankreich erlassenes, später wieder zurückgenommenes »Burkiniverbot« für Aufregung, das Sicherheitskräfte ermächtigte, muslimische Frauen am Strand zu zwingen, ihren Burkini abzulegen.
Mitnichten also sind die Brüste wirklich private parts, wie es im Englischen heißt, sondern im Gegenteil von großem öffentlichem Interesse. Die Macht der Brust liegt aber nicht in einer >natürlichen< Kraft. Sie wirkt vielmehr in Zuschreibungen, die sie wahlweise gleichzeitig oder einander ausschließend zum Zeichen für Weiblichkeit, Natürlichkeit, Mütterlichkeit oder Sexualität machen. Denn Körperteile sind »nur in der jeweiligen kulturellen Klassifikation und der (imaginären) Bezugnahme auf ein Ganzes existent«, wie die kulturwissenschaftliche Forschung zur Geschichte des Körpers betont.4 Und dieses »Ganze« strahlt in alle gesellschaftlichen Felder aus. Immer wieder kommt es dabei zu Konflikten. Solche, die vor Gericht ausgetragen werden und in Gesetze einfließen. Aber auch solche, in denen in Texten, Bildern, Kleidungsstücken, Ausstellungen, Fotografien, Altarbildern, Happenings und vielem mehr der Busen immer wieder neu erfunden und disputiert wird. Zum Beispiel wenn Theologen des 17. Jahrhunderts in erregten Pamphleten das Dekolleté als »Zünder böser Lüste« verteufelten. Und das, obwohl die mittelalterliche Theologie zuvor dem Busen alles andere als abgeneigt war. Sogar die Gesetzestafeln, die Moses nach dem Alten Testament auf dem Berg Sinai direkt von Gott erhielt, wurden als »Brüste« bezeichnet, aus denen die »Milch« der geistlichen Stärkung gepresst wird (quasi lac de uberibus duarum tabularum expressum).5 Nach dem theologischen, mal aufwertenden, mal abwertenden Blick kam der aufklärerische, der den Busen auf neue gesellschaftliche Felder führte. Er bezog sich auf die Natur, hatte mit Gott nichts mehr zu tun. Und schließlich gab es den Kampf um oder besser gegen das Korsett, der, über hundert Jahre später, auch ein Kampf der Frauenrechtlerinnen war. Die Feministinnen der 1960er Jahre gingen als Bra-Burners, als BH-Verbrennerinnen, in die Geschichte ein. Seit 2008 protestieren Aktivistinnen der in der Ukraine gegründeten Gruppe Femen für ihre politischen Anliegen, indem sie mit blankem Busen in der Öffentlichkeit auftauchen - und meist sofort abgeführt werden.
Das alles ist politisch. Ist Politik des Busens und Indiz für Konfliktlinien, die bis heute relevant sind. Etwa die Fetischisierung des weiblichen Busens als erotisches Objekt, die die Begründung für die Ungleichbehandlung der Nippel liefert. Oder die Abscheu vor der haltlosen Brust, die die Erfindung starrer Einpanzerungen durch das Korsett beförderte und auf die 2019 die Solidaritätsaktion #FreeTheNipple für die Kapitänin und Seenotretterin Carola Rackete reagierte, deren Auftritt ohne BH in der Presse als »Unverschämtheit« bezeichnet wurde. Heutige Auseinandersetzungen um den Busen sind damit Teil der weiter gefassten Debatten über Körper, Geschlecht und Feminismus, wie sie zunehmend im Netz und darüber hinaus geführt werden. Das aus feministischer Perspektive kritisierte Bodyshaming,6 dem Menschen ausgesetzt sind, deren Busen wahlweise mal zu groß, zu klein, zu sichtbar oder zu unsichtbar ist, gehört ebenso dazu wie die anlässlich der #metoo-Debatte diskutierte und dekonstruierte Vorstellung, Frauen seien >selbst schuld< daran, wenn sie sexuell belästigt werden, weil sie sich beispielsweise zu >offenherzig< kleideten. Die Frage dagegen, wie sich ein >positives< Körperbild gewinnen lässt, das sich ohne Foto-Filter und Schönheits-OPs behaupten kann, und ob und unter welchen Umständen dies überhaupt wünschenswert ist, wird seit einiger Zeit durchaus kontrovers unter dem Hashtag #bodypositivity erörtert.7
Die Auswahl der Brustgeschichten, die hier erzählt werden, erklärt sich aus dieser heutigen, politischen Perspektive und der Verwunderung über Aufregungen, Zumutungen, Inkonsistenzen. Dieses Buch ist keine vollständige oder gar weltumspannende Kulturgeschichte der Brust von der Steinzeit bis zum Cyberspace, sondern ein interessegeleiteter Blick auf einen in der westlichen Kultur hochgradig politisierten Körperteil.
Es wird oft so getan, als ob es immer derselbe Körper wäre, um den da gestritten wird. Als wüssten alle, was gemeint ist, wenn vom Busen die Rede ist. Dabei legen schon die vielen unterschiedlichen Einschätzungen zu den genannten Hashtags nahe, dass das nicht sein kann. Um die widerstreitenden Positionen einordnen zu können, braucht es einen historischen Blick und vor allem die Erkenntnis, dass auch der Busen eine Geschichte hat. Deren nahezu einzige Konstante ist, dass aus den so verschiedenen Busendebatten jeweils unmittelbare Rückschlüsse auf die Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse gezogen werden können. Abgesehen davon ist alles im Fluss und der Busen immer wieder ein anderer.
So gab es Momente, als Brüste keine Brüste waren, sondern Waffen, mit denen Feinde in die Flucht geschlagen wurden, wie in der Geschichte der Wikingerheldin Freydís Eiríksdóttir (Kapitel 4). Oder Gelegenheiten, bei denen Ziegeneuter zu Brüsten für die Kinder wurden, deren Mütter lieber »Spazierfahrten mitmachen, Theater und Bälle besuchen«, so ein Arzt 1816 (Kapitel 3). Außerdem gab es Zeiten, in denen Brüste nicht Muttermilch, sondern »Vatermilch« spendeten, wie es in in einem Bericht Alexander von Humboldts 1818 über stillende Männer hieß (Kapitel 3), oder die Brüste sogar zu Organen wurden, aus denen pures Gift floss (Kapitel 3).
Dieses Buch nimmt den Busen ausschnitthaft in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten in den Blick und konzentriert sich auf sein transgressives Potential. Denn dieser augenfällige Körperteil überschreitet Geschlechtergrenzen, Grenzen zwischen dem Natürlichen und Künstlichen, Grenzen zwischen Mensch und Tier, Grenzen zwischen Geografien und ist damit wesentlich mehr als das, was zum Beispiel eine Google-Bildsuche im Juni 2023 zutage fördert (Abb. 2).
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