Mitbewohner
Die Wohnverhältnisse in Irland allgemein und in Dublin insbesonders unterscheiden sich grundlegend von kontinentalen Wohnvorstellungen. Die Mietpreise sind hoch und die Kaufpreise unerschwinglich. Das führt dazu, dass man entweder bei den Eltern wohnen bleibt bis man gut katholisch heiratet oder in eine WG zieht, niemals aber allein in eine Wohnung. Selbst für Berufstätige wäre es purer Luxus, eine 2-Zimmer Wohnung allein zu bewohnen. Dies hat Nachteile, wie mangelnde Privatsphäre, hat aber aus diesem Grund auch den Vorteil, dass man sich näher kennen lernt, sich arrangieren muss, mehr erfährt über Land und Leute und einfach irisches Familienleben hautnah miterlebt.
Ich hatte ein Zimmer in einem family home. Das heißt, ich hatte ein Zimmer für mich allein und teilte mir Bad, Küche und Wohnzimmer mit einer Familie, die aus Vater, Mutter, Großmutter, einem Sohn, Mike (25 Jahre alt), einer Tochter, Susan (21 Jahre alt) und einem Hund bestand. Der Sohn war Guard, also bei der irischen Polizei. Eigentlich wohnte er schon gar nicht mehr bei seinen Eltern, blieb aber von Zeit zu Zeit noch über Nacht, wenn es sich so ergab und in seinen Dienstplan passte.
Ich glaube, es war gegen drei Uhr morgens, als ich einmal lautes Gepolter und Gegröle hörte, dazwischen Susans Flüstern: "Go to bed! Go to bed!" Die Eltern waren gerade ziemlich weit weg, in Portugal, denn sonst hätte Mike sich diesen Auftritt nicht geleistet. (Ich habe keine Ahnung, warum sie ausgerechnet ihrem Sohn gesagt haben, er solle ab und zu nach dem rechten sehen. Die Granny, Susan und ich kamen prächtig zurecht.)
Ich hörte ihn laut und unwirsch, schließlich trampelnd auf der Treppe und dazwischen immer Susans Flüstern, das sich bald zu einem verärgerten Zischen steigerte. Seine Zimmertür knallte zu, dann war alles ruhig. Ich gab mich schon der Hoffnung hin, dass er jetzt vielleicht einschlafen könnte, aber ihm fiel ein, dass er Hunger hatte. Also trampelte er hinunter in die Küche. Mein Zimmer lag direkt über der Küche. Irische Häuser sind so gebaut, dass man sich niemals alleine fühlt. Immer hört man alles, was in den Räumen unter, über und neben einem passiert. In der Küche knallten die Schranktüren, der Toaster wurde mit Schwung auf dem Schrank platziert, der Kühlschrank wurde durchstöbert, dann das Eisfach, der Brotkasten, offensichtlich auch der gesamte Geschirrschrank und die Besteckschublade.
In diesem Moment gelang es mir leider noch nicht, dieser Sache eine heitere Seite abzugewinnen, denn der kleine rote Zeiger meiner Uhr, der die Weckzeit anzeigt, stand nur eine wenig weiter als sechs. Ich lag da und lauschte, bis der Toaster mehrfach getoastet und die Mikrowelle mehrfach geläutet hatte, der Kühlschrank wieder mit allen Gläsern, Bechern, Dosen, raschelnden Papieren und Verpackungen wieder gefüllt und der schmutzige Teller in der Spüle gelandet war.Trampeln auf der Treppe. Seine Zimmertür knallte, ich hörte zwei schwere Gegenstände auf den Boden fallen - sicher seine Schuhe - sein Bett quietschte für einen Augenblick, dann schien er still zu liegen und sich nicht mehr zu regen.
Als ich am nächsten Tag von der Arbeit kam, entschuldigte sich Susan für das schlechte Benehmen ihres Bruders. Er war sehr betrunken. An diesem Morgen hatte er sich mit den Worten von ihr verabschiedet: "Susan, wenn es hier irgendwelche Probleme gibt, kannst du mich gerne anrufen!" (Was für Probleme?, denke ich.Vielleicht wenn wieder mal ein betrunkener Gorilla durch dieses friedliche Haus tobt?)
Die Tatsache, dass dieser Mensch Leute verhaften darf, wirft meiner Meinung nach einen düsteren Schatten auf die gesamte irische Polizei.
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Dublin ist eine multikulturelle Stadt. Man trifft auf alle Nationalitäten, sieht alle Hautfarben und hört alle Sprachen. - Eine wundervolle Mischung.
Natürlich mischen sich die Nationalitäten auch innerhalb der vielen WGs. Manchmal können diese Mischungen sehr positiv sein, manchmal aber auch nervenaufreibend oder einfach nur lustig.
Die Iren sind ein Volk, das nichts so genau nimmt. Wenn man sich für acht Uhr verabredet, empfindet es kein Ire als unhöflich, erst um halb zehn zu erscheinen.Außerdem sind Regeln eher dazu da, umgangen zu werden. Gebrauchsanweisungen würden dem neu erstandenen Gerät die Faszination rauben und wo bliebe die Lust am Abenteuer, wenn man auf einer Reise die Straßenschilder beachtete - wenn überhaupt welche da sind?
Die Schweizer sind da etwas anders strukturiert. Den Eidgenossen sagt man allgemein Präzision, Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit nach. Es gibt sogar ein Wort in der Schweizer Sprache, das die Begriffe "schnell" und "effizient" miteinander vereint, nämlich das Wort "speditiv". In WGs mit Schweizerisch-Irischer Besatzung kann es durchaus zu Verständigungsproblemen kommen, die nicht auf mangelnden Sprachkenntnissen beruhen.
Meine aus der Schweiz stammende Freundin Margarethe war mit einem Iren liiert und teilte sich eine Wohnung mit einem weiteren Iren. Margarethe lebte schon sehr lange in Irland, hatte sich vollkommen angepasst und fühlte sich wohl. Aber das hinderte sie nicht daran, doch ab und zu die Schweizer Präzision aus dem Koffer zu holen.
Es war Nacht. Margarethes Mitbewohner Jim schlief tief und fest, bis Margarethes Freund Collin an der Tür stand und nicht rein konnte. Collin war keineswegs betrunken, konnte aber trotz Nüchternheit und Schlüsselbesitz die Tür nicht öffnen. Jim wurde wach, als Collin an der Tür rüttelte. Einen Augenblick später hörte Jim Margarethes Handy. Es war Collin, der Margarethe über die Sachlage informierte. Jim hörte noch, wie Margarethe Ihren Freund bat, doch leise zu sein, weil er (Jim) schlafe, dann lief sie die Treppe hinunter, um Collin die Tür zu öffnen. Allerdings war es Margarethes Schlüssel, mit dem Collin versuchte, die Tür zu öffnen. Margarethe hatte also keinen Schlüssel, sondern musste Collin Anweisungen (präzise Schweizer Anweisungen, versteht sich) geben, wie mit dieser außergewöhnlichen Tür umzugehen sei. Es gibt viele Türen, die sich nicht einfach mit einem Schlüssel öffnen lassen, sondern noch andere Tricks und Kniffe verlangen, ehe sie sich öffnen. Eine solche Tür war diese. Jim hörte Collin an der Tür rütteln.
"Wart mal, du musst erst den Türgriff..."
Rütteln.
"Nicht so laut! Jim schläft!" hörte Jim Margarethe sagen, dann hörte er wieder Rütteln.
"Collin, diese Tür ist etwas komisch. Du musst mal genau machen, was ich dir sage, dann kommst du auch rein", versicherte Margarethe.
"Gut, OK, mach ich."
"Ich geb dir jetzt mal genaue Anweisungen. Also, Schritt eins ist..."
Rütteln, das immer nervöser wurde.
"Nein, nein. Nicht rütteln. Das hilft bei dieser Tür gar nichts. Du musst zu aller erst den Türgriff..."
Jim hörte wieder deutliches und immer heftigeres Rütteln und dachte wohl: "Swiss Miss, das ist ein Ire, da helfen derartige Anweisungen gar nichts. Ein Schritt Nummer eins ist nichts, womit sich ein Ire aufhalten würde. Schon gar nicht, wenn er mitten in der Nacht zu seiner Freundin will."
Jim hörte die beiden noch eine Weile mit der Tür kämpfen, amüsierte sich über den intereuropäischen Austausch und konnte schließlich auch noch mitanhören, wie die Schweiz die volle Punktzahl erhielt, indem Margarethe auf die blendende Idee kam, dass Collin den Schlüssel einfach durchs Küchenfenster hereinreichen könnte. So geschah es, und nach wenigen Augenblicken lagen alle drei glücklich in ihren Betten.
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Mitbewohner hat man nicht nur in seinen WGs und Family homes, sondern auch in B&Bs oder Hostels. Die irischen Hostels sind keineswegs mit unseren deutschen Jugendherbergen zu vergleichen. Sie sind kleiner, oft sehr viel gemütlicher und werden niemals von Schulklassen heimgesucht.
Einmal teilte ich mir ein Zimmer unter anderem mit einer Frau aus Malaysia. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester einen Iren geheiratet habe und sie sie immer wieder mal besuche. Sie klagte heftig über das irische Wetter. Es ist zugegebenermaßen nicht immer so schlecht wie sein Ruf. Ein Bekannter, der vorab einen meiner Romane gelesen hatte, meinte, dass die ständigen Anspielungen auf das Regenwetter etwas nervig seien, aber er war noch nie in Irland und hat noch nie den irischen Meteorologen gehört, der mit seinem Fernsehpublikum spricht als sei er der Hausarzt, der uns eine schlimme Diagnose so schonend wie möglich beizubringen versucht, etwa so: "Morgen wird es zu starken Stürmen und Regen kommen, vereinzelt könnte auch etwas Hagel niedergehen, doch steigen die Temperaturen dabei auf bis zu 8°C."
Es war Januar, trüb, nasskalt und sehr ungemütlich. Die Malaysierin sagte, sie trage jeden Tag mehr oder...