Der chinesische Weihnachtsmann
Um halb vier nachmittags entschloss Johnny sich zu einer Glühweinpause. Er war schon seit fünf Uhr früh unterwegs und brauchte jetzt einen Herzwärmer. Ganz München war festlich beleuchtet, an jeder U-Bahn-Haltestelle gab es mindestens zwei kleine Buden mit Glühwein, Lebkuchen und Maroni; an größeren Plätzen wurden die Stände zahlreicher und wuchsen sich zu winzigen Weihnachtsmärkten aus. Weihnachten, das Fest der Liebe, wie man so sagt, dachte sich Johnny. Nur wenige Fahrgäste hatte er bis jetzt gehabt, jedes Mal für ein lächerliches Kleingeld. Alle waren schlecht gelaunt gewesen, müde, ungesprächig. Johnny war an sich auch kein besonders fröhlicher Mensch, aber diese niedergedrückte Stimmung machte ihm allmählich zu schaffen. Wenn es so weiterging, würde es für ihn ein noch traurigeres Weihnachten werden, als er es sich vorgestellt hatte. Bisher würde es nicht zu einem opulenten Festessen reichen. Denn er hatte zwei Prinzipien: niemals mehr als eine Straße Umweg, und niemals einen Fahrgast bei der Abrechnung bescheißen, und wenn der noch so betrunken war. Johnny konnte sich keine Auffälligkeit leisten. Er war im Hauptberuf Taschendieb gewesen, und das bis vor wenigen Monaten.
Das Taxi und den Schein hatte er sich jahrelang aus seinem Haupterwerb zusammengespart. Also die Anzahlung fürs Taxi; die Leasingraten musste er noch monatlich aufbringen. Johnny war ohne sonstigen Abschluss, und er wollte seine ehrliche Existenz, die er gerade mühsam aufbaute, nicht aufs Spiel setzen. Er wusste selbst nicht, weshalb er es so wichtig fand, einen ehrlichen Beruf zu haben, wenn es doch viel leichter gehen könnte.
Vielleicht, weil er seit seiner Jugendzeit aus dem Scherbenviertel am Stadtrand ausbrechen wollte und eher eine Chance bekommen konnte, wenn er einen einigermaßen anständigen Lebenslauf vorzuweisen hatte. Eine andere Möglichkeit sah er nicht, denn ohne Hauptschule nahmen sie ihn nirgends als Lehrling, und als Spüler lebte er erst recht von der Hand in den Mund.
Für große krumme Sachen war er nicht geschaffen, und die kleinen krummen Sachen hatte er aus Not unternommen, mit dem festen Vorsatz, das Geld zu etwas Gutem zu verwenden: Sein künftiges Leben als ehrlicher Mann.
Immerhin hatte ihn sein Grundsatz, sich nicht selbst zu überschätzen, noch nie in Polizeihände gebracht, und das war einzigartig im ganzen Viertel. Er war Einzelgänger, aber die anderen respektierten ihn, weil er nicht registriert war, und kamen ihm nie zu nahe.
Genug gegrübelt, dachte er und parkte den Wagen halb auf dem Gehsteig. Blödes Weihnachten. Es macht mich total sentimental, und was habe ich davon? Frust und einen leeren Tisch. Also muss jetzt Glühwein her, sonst fang ich noch an zu heulen.
Er stiefelte auf die Buden zu; diesen kleinen Markt kannte er schon von früheren Fahrten her, und er wusste genau, wo es den stärksten und billigsten Glühwein gab: ganz außen, fast im Dunkel, wo ein normaler Mensch schon gar nicht mehr hinging. Da er kein normaler Mensch war, gehörte er genau da hin.
Die schummrige Beleuchtung passte zu seiner seltsamen Stimmung. Der starke, mit Zimt, Orangen und Nelken durchsetzte Weinduft umnebelte schon auf die Entfernung seinen Verstand, und zum ersten Mal an diesem Tag ließ er sich treiben, befreit und zufrieden, als er unversehens über zwei Füße stolperte und, verzweifelt mit den Händen rudernd, mit der Stirn an einen Lichtmast stieß und langsam daran hinabrutschte.
Verwirrt rappelte er sich hoch, schüttelte den Kopf, um sein Gehirn wieder in die richtige Lage zu bringen, und drehte sich um. Auf der Bordsteinkante saß erbärmlich frierend ein kleines, hutzliges altes Männlein in langen weißen Unterhosen, einem zerfledderten weißen Unterhemd und handgestrickten grauen Socken. Das Gesichtchen verschwand fast hinter einem spitz zulaufenden langen weißen Bart, und filzartige weiße Haare, die bestimmt schon lang keinen Kamm mehr gesehen hatten, standen ihm wirr um den Kopf.
»He, Alterchen«, stieß Johnny keuchend hervor und rieb seine immer noch schmerzende Stirn. »Meinst du, dass das der richtige Aufzug für so ein kaltes Winterwetter ist?«
»Bitte«, flüsterte das Männlein. »M-m-mir ist so k-k-alt.«
»Wart mal«, erwiderte Johnny, »bin gleich wieder da.« Er ging rasch zu der Glühweinbude und kehrte mit zwei dampfenden Bechern zurück. Er setzte sich neben den halb erfrorenen Greis und hielt ihm den Becher an den Mund. »Komm, ich helf dir, mit deinen zitternden Händen verschüttest du nur alles . ganz vorsichtig nippen, das Zeug ist verflucht heiß .«
Der Alte nippte folgsam, stieß ein glucksendes Geräusch aus, umschloss den Becher fest mit beiden Händen und kippte den heißen Glühwein in einem Zug hinunter. Musste Lederhaut statt Speiseröhre haben. Sogleich huschte Farbe über sein leichenblasses Gesicht, Nasenspitze und Wangen wurden rot, und er kicherte leise. Ehe Johnny es verhindern konnte, packte er den zweiten Becher und trank auch ihn leer.
»He«, machte das Männlein. »Dass Zeugs schmecks aber gutt, dass.«
»Na, wohl bekomm's«, meinte Johnny irritiert und starrte auf seine leeren Hände.
»Hups!«, antwortete der Greis. »Jetz' is' mir warm . und lussig im Kopf .«
»Wenigstens einer .«, sagte Johnny mehr für sich und wieder ein wenig traurig. Schließlich hatte er auch noch keinen Glühwein bekommen. Er riss sich zusammen, zwang sich zu einem Lächeln und sah den Alten an. »Und jetzt erzähl mir mal, wie du zu diesem Aufzug kommst.«
Der Alte richtete zwei pechschwarze glänzende Augen auf ihn. »Ich bin beraubt worden!«, erklärte er ziemlich klar, das R seltsam rollend. Nur zwischendrin hickste er leise. »Kannst du dir das vorstellen, Jungchen? Schlitten, Geschenke, Kleider . alles weg!«
»Was!«, rief Johnny. »Warst du schon bei der Polizei?«
Der Alte sah an sich hinunter. »In Unterhosen? Die sperren mich doch gleich ein. Außerdem war mir so kalt, dass ich mich nicht mehr rühren konnte.«
»Na ja, das stimmt . komisch siehst du schon aus . hör mal, wo wohnst du? Ich bin Taxifahrer, und ich kann dich .«
»Nein, Jungchen, ich muss den Schlitten wiederfinden«, plapperte der Greis weiter, ohne auf ihn zu achten, »ich hab einen Auftrag . es ist ohnehin schon so spät . ich bin doch der Weihnachtsmann .«
»Alterchen, was erzählst du da? Du bist doch Chinese.«
»Na und? Was dagegen? Bist du Rassist? Wer sagt, dass der Weihnachtsmann Weißer sein soll?«
»Zum Beispiel meine Oma. Da war ich drei, ich weiß es noch ganz genau, und sie hat's mir erzählt. Und in allen Büchern kannst du's lesen, dass der Sankt Nikolaus weiß ist und der Krampus dunkel und finster.«
»Ich bin doch nicht der!«, entrüstete sich das Männlein. »Ich komme aus Amerika!«
»Von Coca-Cola?«
»So in der Art.«
»Der ist aber auch weiß, und du bist immer noch Chinese.«
»Ich bin Amerikaner!«
Der spinnt, dachte Johnny. Bestimmt ist er aus irgendeiner Klinik ausgebrochen. Vielleicht ist er sogar gemeingefährlich und sein Aussehen täuscht. Ich sollte abhauen. »Wieso sollte ausgerechnet der Weihnachtsmann bestohlen werden?« versuchte er es mit vernünftigen Argumenten. »Du bist doch ein himmlisches Geschöpf, dir kann kein Mensch was antun, ob Weißer oder nicht.«
»Und doch ist es passiert«, klagte das Männlein. »Ein Schlag auf den Kopf, und alles war weg! Hick!« Es schielte vertrauensvoll zu Johnny hinauf. »Gibt's noch was von diesem märchenhaften Getränk, mein Freund?«
»Ich denke, du hast genug.«
»Bitte. Mir wird schon wieder so schrecklich kalt. Mir war noch nie im Leben kalt, und das ist sehr lang .«
»Das ist Glühwein, Alterchen. A-l-k-o-h-o-l.«
»Das ist Alkohol?«, flüsterte der chinesische Weihnachtsmann und verdrehte verzückt und berauscht die Augen. »Was habe ich versäumt .«
Ach, was soll's, dachte Johnny. Ich spiele seinen Vormund, einfach lachhaft. Warum soll der kleine Alte nicht auch mal was Schönes haben, verrückt oder nicht. Man macht sich das Leben immer so unnötig schwer. Er ging zum Taxi und holte seinen Mantel, in den er den Alten einwickelte. »Einen Moment, Opa. Ich hole dir noch Glühwein.«
»Du kannst mich Niki nennen«, sagte der Alte behutsam und unschuldig.
Aber klar doch. »Und ich bin Johnny«, erwiderte der Jüngere und ging zu der Bude. Er kam bald zurück, reichte dem Alten einen Becher und prostete ihm zu. Sein Becher war natürlich alkoholfrei, mehr Risiko wollte er nicht eingehen. Bei Taxifahrern wurden oft Augen zugedrückt, beim Parken, zu schnell fahren - aber bei Alkohol hörte die Kameradschaft auf.
Der Chinese trank diesmal in kleinen Schlucken, blühte dabei zusehends auf und wurde immer rosiger und fröhlicher. Er stupste Johnnys Knie an und neigte sich ihm zutraulich zu. »Was hältst du denn von Weihnachten?«, fragte er im Verschwörerton.
»Nichts«, erwiderte Johnny. »Blödsinn. Als wenn ich jemanden nur zu Weihnachten lieb zu haben brauchte und ihn anschließend das restliche Jahr verprügle. Kommerz, bah.«
»Früher war's was anderes .«
»Ach, hör doch auf! War es nicht! Einmal im Jahr konnten sich diese armen Schweine satt essen, wenn sie eine Gratifikation bekamen! Umgekehrt wär's besser gewesen!«
»Lieber einmal im Jahr als nie . oder glaubst du, damals waren sie unglücklich an Weihnachten?«
»Nicht mehr und...