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1971, Lütjensee in der norddeutschen Provinz: Helmut Zierl ist 16 und steht mit seinem Armeesack an der Autobahnauffahrt Richtung Süden. Erst hat ihn die Schule rausgeschmissen, dann auch noch sein Vater. Und er denkt sich: Einfach der Sonne entgegen, mit 300 Mark in der Tasche den Sinn des Lebens suchen. Was folgt, sind drei Monate voller Liebe, Sex und Drogen, eine geballte Ladung Lebenserfahrung, die ihn an seine Grenze bringt. Drei Monate, die dem Leben des bekannten Schauspielers eine neue Richtung gaben.
Mai 1971
Manchmal entscheidet sich der Verlauf des Lebens in einem einzigen kurzen Moment. Wohin genau es einen führt, ist noch nicht klar, aber dass etwas vorbei ist, daran gibt es keinen Zweifel .
»Zierlchen, Zierlchen, was machst du nur?«
Ich stand im Büro des Schuldirektors und versuchte, meine Nervosität zu verbergen. Was hatte ich jetzt schon wieder verbockt?
Er saß hinter seinem schlichten, hässlichen Kiefernholzschreibtisch und fixierte mich mit seinen winzigen Schweinsaugen. Dieser immer leicht lauernde Blick war es, der mir schon zwei, drei Jahre zuvor solche Angst eingeflößt hatte, dass ich nachts schweißgebadet aufgewacht war und morgens Kopfschmerzen vorgeschoben hatte, um nicht in die Schule gehen zu müssen.
Von der Statur her war er nicht besonders ehrfurchtgebietend: Mitte fünfzig, klein, dicklich und ein wenig hohlwangig. Seine Glatze wies merkwürdige Dellen auf und wurde seitlich von ein paar grauen Haaren gerahmt. Eine Narbe zog sich über sein Gesicht; ich vermutete insgeheim, dass er sie sich bei einem Gefecht in einer Burschenschaft zugezogen hatte. Wie immer trug er einen seiner grauen, zu kurz geratenen Anzüge. Und dennoch strahlte dieser Mann eine unglaubliche Autorität aus. Wenn er den Klassenraum mit leicht nach vorn gebeugtem Kopf betrat, wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill. Seine Körperhaltung verlieh ihm etwas Bulliges. Das war auch der Grund, warum er von uns Schülern den Spitznamen Bulli erhalten hatte: Bulli Scholz.
In seiner Funktion als Lateinlehrer und Direktor des Gymnasiums, das ich besuchte, hatte er sich eine perfide Taktik zugelegt, die Schüler zu zermürben. Wenn er Vokabeln abfragte, pickte er sich treffsicher immer genau die »Wackelkandidaten« heraus, die unsicher waren. Drei Vokabeln nicht gewusst gab eine Sechs.
Mein Platz war in der hintersten Reihe im Klassenraum, aber das hielt ihn nicht davon ab, das Pult zu verlassen, um mich abzufragen. Mit jeder Vokabel, die ich nicht wusste, kam er näher auf mich zu. Sein Timing war immer perfekt: Er schien genau zu wissen, wann ich das dritte Mal versagen würde, denn exakt in dem Moment baute er sich dicht vor mir auf. Mit den Augen ging er mir gerade mal bis zum Kinn. Ich konnte seinen Atem spüren und wich unwillkürlich zurück.
Bis zur rückwärtigen Wand waren es ungefähr drei Meter, drei endlos erscheinende, qualvolle Meter, die er mich Schritt für Schritt zurückdrängte, bis ich buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand. Sein Gesicht blieb immer in gleichem Abstand zu mir. Mit seinen winzigen, zu Schlitzen verengten Augen blickte er direkt in die meinen. Im Gleichmaß unserer Schritte erreichten wir die Mauer. Hier gab es kein Entkommen mehr. Er rückte noch näher und sagte dann mit leiser, bedrohlicher Stimme:
»Zierlchen, du hast schon wieder deine Vokabeln nicht gelernt. Was machen wir denn jetzt? Du kriegst erst mal eine Sechs, und schon bald knöpf ich mir dich wieder vor. Und ich warne dich: Beim nächsten Mal bist du dran.«
Was auch immer er damit meinte.
Tja, und nun schien es so weit zu sein. Ich spürte, wie meine Hände feucht wurden.
Minuten zuvor hatte mich der Hausmeister, ein kleiner, stämmiger Typ, unter dem Spott meiner Sitznachbarn aus dem Deutschunterricht geführt. Peinlich hoch drei war das gewesen! Wir Schüler mochten den Hausmeister - er drückte immer ein Auge zu, wenn er uns in den Pausen auf dem Klo beim Abschreiben der Hausaufgaben erwischte. Auf unserem Weg zum Direktorenzimmer aber war er ungewöhnlich ernst gewesen, und mir war immer mulmiger geworden. Kurz bevor er mich abgeliefert hatte, hatte er noch etwas wie »Viel Glück, mein Junge« gemurmelt, sich umgedreht und war Richtung Pausenhalle verschwunden. Verdammt, das roch nach Ärger.
Bulli Scholz hatte inzwischen seine Musterung beendet und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Betont langsam ging er auf mich zu und blieb einen Schritt entfernt von mir stehen. Der Blick aus seinen Schweinsäuglein hatte, wie mir schien, etwas Bedauerndes, als er zu sprechen begann.
»Ich kann nichts mehr für dich tun, Zierlchen. Die Polizei schalte ich nur deswegen nicht ein, weil ich Rücksicht auf deinen Vater nehmen möchte. Ich denke, der hat sowieso schon genug Ärger.«
Ich schwieg, starrte ihn an, Trotz und Verständnislosigkeit malten sich auf meinem Gesicht ab. Ich musste unbedingt cool bleiben, aber in meinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Was sollte das? Wieso Polizei? Warum diese merkwürdige Veranstaltung hier im Direktorenzimmer? Könnte das etwa sein, weil .
»Schade um dich, Zierlchen. Du hättest es geschafft. Das Zeug dazu hast du. Aber wie man so blöd sein kann, so dämlich, auf dem Raucherschulhof mit Haschisch zu handeln, das musst du mir erst mal erklären.«
Also doch! Jetzt war es raus.
Mit trotzig-verlogenem Ton entgegnete ich: »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Zierlchen, wir haben es schon lange geahnt, und jetzt bist du verpfiffen worden. So einfach ist das.«
»Und wer erzählt so einen Stuss?« Ich konnte mir schon denken, wer. »Jens?«, fragte ich mit trockenem Mund.
Der Direktor überging meine Frage. Von seinem Pokerface ließ sich nichts ablesen, aber das war auch gar nicht nötig.
Es gab noch einen anderen Bullensohn außer mir auf diesem Gymnasium - Jens eben. Er war einer, bei dem ich immer das Gefühl hatte, er würde mich argwöhnisch belauern. Im Gegensatz zu fast allen anderen Schülern hatte er noch total kurze Haare und machte einen braven, angepassten Eindruck. Zu Partys wurde er erst gar nicht eingeladen und hatte auf der Schule auch kaum Freunde. In gewisser Weise war er ein armer Kerl und hatte das gleiche Schicksal wie ich. Er musste sich zu Hause sicher auch andauernd Sprüche anhören wie: »Du bist ein Polizistensohn. Du hast der Dorfjugend ein Vorbild zu sein. Du ziehst dich vernünftig an und rennst nicht in diesen Hippieklamotten rum. Was sollen die Lehrer denken und was erst die Nachbarn? Du hast Meldung zu machen, wenn irgendeiner von deinen Kumpanen krumme Dinger dreht. Du hast dazwischenzugehen, wenn jemand verprügelt wird .« Letzteres war eigentlich das einzig Annehmbare, diese Aufforderung zur Zivilcourage, aber ansonsten war das Leben als Bullensohn wirklich nicht einfach. Im Gegensatz zu mir, der ich auf dem Weg war, extrem zu rebellieren, fügte sich Jens, dieser Langweiler, in sein Schicksal, tat, was seine Alten von ihm erwarteten. Vielleicht hatte er sich ja einen kleinen Vorteil erhofft, indem er mich verpetzte. Während ich noch fieberhaft überlegte, welche Konsequenzen dieser Verrat haben könnte, räusperte sich Bulli Scholz.
»Das war's jetzt, Zierlchen. Ich habe schon mit deinem Vater telefoniert. Deine Eltern wissen Bescheid. Der Verweis wird heute noch schriftlich rausgehen.«
Verweis? Ich wurde von der Schule geschmissen?!
»Ich wünsche dir für dein weiteres Leben, dass du es doch noch zu etwas bringst. Vor allem aber: Lass die Finger von den Drogen. Es täte mir leid um dich.«
Das saß. Sein Bedauern wirkte ehrlich, was mich irritierte. Er schien besorgt. Ich hatte zum ersten Mal in den fünf Jahren, die ich jetzt auf der Schule war, das Gefühl, dass er mich vielleicht sogar mochte. Er gab mir die Hand. Ich nickte ihm zu und versuchte zu verbergen, dass ich einen riesigen Kloß im Hals hatte. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und schloss die blaue Tür seines Büros hinter mir. Alle Türen und auch die Fenster dieser Schule waren blau, die der Klassenräume genauso wie die der Lehrerzimmer und Büroräume. Selbst die vom Klo. Ich durchquerte die Aula und trat hinaus auf den asphaltierten Schulhof, in die herrlich warme Maisonne.
Und so verließ ich die hässlichste Schule der Welt. Sie war erst fünf Jahre zuvor fertiggestellt worden, ein typischer Sechzigerjahrebau aus Beton und roten Ziegelsteinen mit zwei großen Türmen, die durch einen kasernenähnlichen Flachbau verbunden waren, und »verschönert« eben durch die schrecklichen blauen Fenster. Die hässlichste Schule der Welt war errichtet worden, um den Kindern und Jugendlichen aus entlegeneren Dörfern im Nordosten Hamburgs den Weg zur Schule zu erleichtern. Der Ort war adäquat gewählt: groß genug, eines eigenen Gymnasiums würdig zu sein, relativ urban und mit einer eigenen U-Bahn-Verbindung nach Hamburg. Hier waren die akademischen Wohlstandsbürger zu Hause, zumeist Hamburg-Emigranten, die es zu etwas gebracht hatten und nun im Grünen lebten, aber die Nähe zur Großstadt nicht missen wollten. Die meisten von ihnen hießen Herr und Frau Neureich: Herr und Frau Neureich, glücklich in ihrem neuen weißen Sechzigerjahrebungalow mit ihren vereinbarten zwei, maximal drei Kindern, die natürlich alle einmal auf dieses schicke, moderne Gymnasium gehen sollten. Sie unterstützten die Schule, indem sie einen Förderverein für Freunde des Gymnasiums gründeten. Das war natürlich sehr hilfreich, da floss Geld - nicht das Geld des Polizeiobermeisters Helmut Zierl senior, der verdiente zu wenig, aber das Geld des Rechtsanwaltes Harders oder des Neurologen Forster oder des ehrwürdigen hanseatischen Kaufmanns Westbrook - und ich schwöre, deren Kinder waren, was ihre schulischen Leistungen anging, nicht viel besser als ich. Aber sie wurden immer mit Bravour versetzt, während ich die Untersekunda gerade mehr schlecht als recht wiederholte.
Nun also überquerte ich den Schulhof und drehte mich nicht mehr um. Ich wollte diese scheußlichen Türme nie wieder sehen, und ich wollte auf gar keinen Fall den Direktor sehen, der mir möglicherweise aus...
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