Schweitzer Fachinformationen
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An einem frostigen Winternachmittag stand ein wildfremder Mann vor unserer Haustür und behauptete, mein Onkel zu sein.
Das heißt, zuerst sagte er lange gar nichts, bevor er so verzagt, mit sich kaum bewegenden Lippen murmelte, dass ich große Mühe hatte, seine Worte zu verstehen: »Die Mutti lebt nicht mehr .«
Nach einer mehrtägigen Tauwetterphase war es hier bei uns im Salzburger Gebirge wieder schneidend kalt geworden, und schon seit Stunden schneite es in feinen Flocken. Doch der Fremde mit dem altertümlich aussehenden Koffer in der Hand, den er nicht abstellte, als wäre er es gewohnt, ohnehin sofort an der Tür abgewiesen zu werden, trug einen für diese Witterung viel zu dünnen marineblauen Staubmantel, eine leichte, hellgraue Sommerhose, ausgetretene Halbschuhe und weder Kopfbedeckung noch Handschuhe. Auf seinem schütteren, dünnen, fettig wirkenden Haar und seinen Schultern sammelten sich die harten Kristalle der Schneeflocken, die kaum größer waren als Schuppen.
Der Teint des Fremden wirkte ungesund; die blasse, rot gefleckte Gesichtshaut war trotz der Kälte von einem dünnen Schweißfilm überzogen.
Natürlich suchte ich in den Gesichtszügen des Unbekannten sofort nach Ähnlichkeiten mit meinem Opa, kaum dass der Mann die ungeheuerliche Behauptung ausgesprochen hatte, dass Pete Wire sein Vater sei. Und unerwartet schnell erinnerte mich der Anblick des Gesichtes dieses Fremden tatsächlich an meinen Großvater.
Ins Haus bat ich ihn allerdings erst, nachdem er beiläufig erwähnt hatte, auf der Durchreise zu sein.
Als er mir auf meine Einladung hin seine knochige kalte Hand reichte, fühlte auch sie sich feucht an. Beim Drücken der roten, verfrorenen Finger überkam mich einen Moment lang die Vorstellung, ein dem Tiefkühlschrank entnommenes und nur angetautes, rohes Kotelett angefasst zu haben.
Als ich den Fremden so verdattert vor mir stehen und kein Wort herausbringen gesehen hatte, hatte ich zuallererst natürlich daran gedacht, dass er - wie manch anderer Gestrauchelter vor ihm - in eine der Wohnungen in unserer Straße eingewiesen worden war, die vom Sozialamt vergeben wurden, und sich bloß in der Hausnummer geirrt habe oder sich von mir Hilfe beim Auffinden des entsprechenden Wohnblocks erhofft e.
Ich hatte doch keine Erfahrung mit Onkeln oder Tanten, so sehr ich mir in meiner Kindheit gelegentlich auch welche gewünscht hatte, vor allem dann, wenn Schulfreunde von der Freigiebigkeit ihrer kinderlosen Tanten geschwärmt hatten, die noch dazu meist darauf spezialisiert zu sein schienen, haargenau all jene Wünsche zu erhören, zu deren Erfüllung sich die Eltern niemals bereitgefunden hätten. Nein, die Wirrings waren eine Familie der Einzelkinder. So wenig, wie meine Eltern Erfahrungen mit Geschwistern hatten, hatte ich, das Einzelkind von zwei Einzelkindern, Erfahrungen mit Onkeln. Und schon gar nicht mit solchen, die dermaßen überraschend aus dem Nichts eines stürmischen Wintertages auftauchten!
Mit seinem fahlen Gesicht und der für die Jahreszeit nicht nur völlig unpassenden, sondern überdies längst aus der Mode gekommenen Kleidung hätte man den Fremden durchaus für einen gerade entlassenen Häft ling halten können, für den seine Bewährungshelferin in den Plattenbauten unserer Nachbarschaft eine Bleibe gefunden hatte.
Grundiert mit Sozialkitsch, hätte sich folgende Geschichte ergeben: An einem Sommertag eingesperrt und jahrelang hinter Gittern gewesen, trage er jetzt die Kleidung von damals - weil er keinen Menschen mehr habe, der ihm wärmere Sachen ins Gefängnis bringen könnte.
Es schien mir, als habe der Mann, der sich als mein Onkel ausgab und behauptete, ein unehelicher Sohn meines Großvaters und damit der Halbbruder meiner Mutter zu sein, die bislang davon ausgegangen war, keine Geschwister zu haben, mit einem einzigen riesigen Schritt einige Jahrzehnte übersprungen. Er wirkte auf mich tatsächlich so desorientiert, als irre er nach sehr langer Haft durch eine ihm sehr fremd gewordene Welt. Erst später sollte ich kapieren, dass der Eindruck von Desorientierung auf die starken Medikamente zurückzuführen war, die der neue Onkel schluckte.
Ich hatte den Fremden also ins Haus gebeten - und nun saß er so verloren in unserer Wohnküche hinter dem großen runden Tisch, als sei er ohne sein Zutun von einer Flutwelle als willenloses Treibgut hier an Land gespült worden. Ein ziemlich falscher Eindruck, wie sich später herausstellen sollte, war es für ihn doch alles andere als einfach gewesen, unser Haus ausfindig zu machen. Eigentlich war es ihm überhaupt erst dank der Suchmaschinen des Internet gelungen. Jedenfalls saß er jetzt reglos da und wartete darauf, dass ich den gewünschten Tee zubereitete. Bier dürfe er leider wegen der Medikamente »und auch sonst« keines mehr trinken.
»Aber zumindest eine kleine Jause zur Stärkung?«
»Etwas später vielleicht, danke.« Er habe ja kaum noch Appetit in letzter Zeit, fügte er mehr zu sich selbst sprechend hinzu.
Es hatte mich vorhin berührt zu beobachten, welche Anstrengung ihm die wenigen langsamen Schritte ins Haus bereitet hatten. Vom Bahnhof habe er ein Taxi genommen, bemerkte er auf meinen wohl deutlich besorgten Blick. Dann sei er aber irgendeiner blöden Scheu wegen noch über fünfzehn Minuten draußen in der Kälte gestanden, bevor er sich überwunden und geläutet habe.
Selbst nachdem er seinen altmodischen Koffer im Vorhaus abgestellt hatte, atmete er noch durch den leicht geöffneten Mund, um genügend Luft zu bekommen.
Es fiel mir schwer, das Alter des Mannes zu schätzen, weil sein offenkundig angeschlagener Gesundheitszustand nahelegte, dass er wohl um einiges jünger war, als er wirkte. Andererseits ließ einen womöglich gerade dieser Umstand sein tatsächliches Alter unterschätzen. Am Ende meines Rätselns verband ich mit meinem neuen Onkel eine merkwürdige Art von Alterslosigkeit.
Ich war froh, mich in unserer Wohnküche mit der Zubereitung des Tees beschäft igen zu können (auch wenn ich dabei seine Blicke im Rücken spürte), da ich plötzlich von einer eigentümlichen Scheu erfasst wurde, mich zu dem unbekannten Verwandten an den Tisch zu setzen, dessen Behauptung vorhin an der Haustür so ungeheuerlich gewesen war, dass ich mir sagte, dass sie allein deshalb schon nicht erfunden sein konnte. Erbschleicherei schien mir wegen seines schlechten Gesundheitszustandes fast absurd zu sein. Höchstens wenn er selber Nachkommenschaft hätte, die zu versorgen wäre. Oder ihn gar losgeschickt hätte. Aber eine derartige Lüge hätte doch nur so lange Bestand, bis Opa einen Bluttest machen lassen würde.
Ich schob all diese müßigen Überlegungen beiseite. Sie kämen wohl jedem Menschen in meiner Situation, wenn er mit knapp fünfundzwanzig Jahren von einer Minute auf die andere in einem bedauernswerten menschlichen Wrack einen der gesamten Familie bislang unbekannt gewesenen Onkel vorgestellt bekäme!
Ich hatte meinem neuen Blutsverwandten immer noch den Rücken zugewandt, als ich ihn leise sagen hörte, wie gut es ihm tue, jetzt endlich tatsächlich hier zu sitzen. »Daheim.« Zu schade nur, dass es ihm gesundheitlich nicht besser gehe.
Auch wenn die Gelegenheit dafür jetzt ideal gewesen wäre, brachte ich es nicht über die Lippen, nachzufragen, an welcher Krankheit er leide.
Ich hatte an meiner Dissertation zu arbeiten und war darauf eingestellt gewesen, an diesem Tag bis zum späteren Abend allein im Haus zu sein. Irgendwann würde Mama heimkommen, die am Vortag in Wien an einer Großdemo gegen die Schwarz-Blaue Regierung teilgenommen hatte. Papas Rückkehr stand noch nicht fest. Er war in den Bregenzer Wald zum Begräbnis eines aus Vorarlberg stammenden früheren engen Mitarbeiters seiner Wiener Werbeagentur gefahren, der in seiner Heimat tödlich verunglückt war. Nachdem die gesamte Firmenbelegschaft auf einer Skihütte einen Großauftrag gefeiert hatte, an dessen Erlangung dieser Mitarbeiter maßgeblich beteiligt und wofür er zum kaufmännischen Leiter der Agentur befördert worden war, war der gute Schifahrer nicht wie seine Kolleginnen und Kollegen mit Schlitten ins Tal gerodelt, sondern hatte sich, ungeachtet des reichlichen Alkoholkonsums, für die Schipiste entschieden. Trotz leuchtstarker Stirnlampe war er bei dieser nächtlichen Abfahrt gegen eine abgestellte Pistenwalze geprallt und noch an der Unfallstelle verstorben, da seine betrunkenen Kolleginnen und Kollegen für ihre Rodelpartie sehr lange gebraucht hatten und dadurch Suchtrupp und Rettung viel zu spät informiert worden waren, um dem Schwerverletzten noch helfen zu können. Die Eltern des ledigen, kinderlosen Mannes arrangierten das Begräbnis im Heimatort des Verunglückten, obwohl er nur bis zur Matura dort und seither in Wien gelebt hatte.
Opas Heimkehr wiederum war noch völlig offen, da er seit Längerem in München wieder einmal einen größeren Studiojob bekommen hatte, bei dem noch nicht klar war, wie lange die Aufnahmen tatsächlich dauern würden. Überdies stand noch ein möglicher Folgeauftrag für einen anderen Produzenten im...
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