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Seit 1900 setzte sich das Wettbewerbsprinzip in vielen Mannschaftssportarten durch. Ein wichtiger Wendepunkt dafür war das Jahr 1903, in dem erstmals eine deutsche Fußball-Meisterschaft ausgespielt wurde. Doch noch am Ende der Weimarer Republik verweigerten sich die meisten sozialdemokratischen Arbeitersportvereine dem Wettbewerb. Das Gleiche galt für die Sportmannschaften des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, des auf dem Papier überparteilichen, tatsächlich aber eng mit dem sozialistischen Arbeitermilieu verwobenen Veteranen- und Republikschutzverbands mit einer Millionenmitgliedschaft. Als die Handballmannschaft des Reichsbanner-Gaus Hamburg 1930 die Einladung erhielt, gegen die Handballer des Reichsbanners in Bremen zu spielen, legten die Hamburger Sozialdemokraten großen Wert darauf, dass dieses Spiel nicht als eine »Meisterschaft« annonciert werden solle. Aus »Prinzip«, so ließ man die Reichsbanner-Kameraden in Bremen wissen, würde man an einem »Wettbewerb« jeglicher Art nicht teilnehmen.1
Am Sonntag, dem 17. Mai 1931, absolvierte Martin Niemöller seine Probeanstellung in Berlin-Dahlem. Bei diesem Ritual machte sich die evangelische Kirchengemeinde mit ihrem neuen Pfarrer vertraut, der in diesem wohlhabenden Berliner Vorort die dritte Pfarrstelle übernahm. Eine Lokalzeitung berichtete über die Predigt des später als Leitfigur der Bekennenden Kirche weltberühmten Pfarrers, aus Niemöllers Worten habe ein »lebendiger, energieerfüllter Kampfwille« gesprochen. Mit dieser Energie wandte er sich unter anderem, so der Zeitungsbericht, gegen das »Vordringen der Eigengesetzlichkeit auf allen Gebieten«.2
Im April 1945 gingen die Blütenträume der Nationalsozialisten von einem »Tausendjährigen Reich« endgültig ihrem Ende entgegen. Zugleich arbeitete die deutsche Justiz auf Hochtouren. An vielen Orten waren Amtsgerichte völlig unbeeindruckt von den Zeitumständen damit beschäftigt, für die jeweiligen Kläger ausgebliebene Mietzahlungen einzutreiben, sich um die Schulden von kleinen Gewerbetreibenden zu kümmern und andere im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 geregelte Streitfragen zu klären.3
Was haben diese drei Episoden gemeinsam, und was verbindet sie mit dem Thema dieses Bandes, der differenzierten Moderne? In allen drei Fällen geht es um funktionale Differenzierung und damit um ein grundlegendes Strukturprinzip der modernen Gesellschaft. Die sozialistischen Arbeitersportler im Reichsbanner verweigerten sich dem Code Gewinnen/Verlieren, mit dem sich der moderne, am Wettbewerb orientierte Sport als ein Teilsystem der Gesellschaft ausdifferenziert hat. Sport war für sie ein Teil der proletarischen Geselligkeit und zugleich ein Zeichen der Zugehörigkeit zum sozialistischen Milieu. Die kalte Logik eines Systems, in dem es in erster Linie um Gewinnen und Verlieren ging, lehnten sie ab.
Martin Niemöller teilte diese Besorgnis über die wichtigste Konsequenz funktionaler Differenzierung. Sie führt zur Herausbildung von spezifischen Feldern, die in ihren internen Operationen autonom sind und jeweils einer eigenen Rationalität folgen. Protestantische Theologen wie Ernst Troeltsch hatten dafür um 1900 den Begriff der »Eigengesetzlichkeit« entwickelt. Wie andere liberale Theologen sah Troeltsch darin eine Chance: Die christliche Tradition konnte produktiv neu interpretiert werden, wenn sie die jeweils spezifische Rationalität der modernen Wissenschaft, Wirtschaft und anderer Funktionssysteme anerkannte. Der konservative Lutheraner Niemöller sah darin hingegen eine große Gefahr. Denn mit dem »Vordringen der Eigengesetzlichkeit« war die christliche Religion nicht länger in der Lage, verbindliche Normen für Erziehung und Massenmedien, Wirtschaft und Politik zu prägen.
Schließlich folgten die Gerichte auch im »Dritten Reich« dem positiv gesetzten, in Gesetzen niedergelegten und damit ausdifferenzierten Recht, und zwar bis in die Stunde der Niederlage hinein. Für die Unterdrückung ihrer politischen Gegner entwickelten die Nationalsozialisten einen außerhalb juristischer Normen operierenden »Maßnahmenstaat«, wie der Politologe Ernst Fraenkel bereits 1941 argumentierte.4 Gerade im bürgerlichen Recht hingegen, wo es um Verträge und andere Rechtsbeziehungen zwischen Privatleuten geht, änderten sich im »Dritten Reich« zwar manche Rechtsnormen. Das funktional ausdifferenzierte Rechtssystem folgte hier jedoch weiterhin - weitgehend - seiner eigenen Binnenrationalität, und zwar unabhängig davon, ob die Richter nun NSDAP-Parteimitglieder waren oder nicht.
Funktionale Differenzierung, die Ausbildung von spezialisierten Feldern oder Teilsystemen wie Massenmedien, Wirtschaft, Erziehung, Recht und Sport, ist eine wichtige Signatur der Moderne. Dementsprechend ist für viele Soziologen die Weiterarbeit an der Theorie funktionaler Differenzierung ein wichtiger Bestandteil ihres täglichen Geschäfts. Sie greifen dabei auf einen Strang der soziologischen Fachdiskussion über die Moderne zurück, der ihre Disziplin seit ihren Anfängen um 1900 begleitet hat. Heute als Klassiker verstandene Soziologen wie Émile Durkheim in Frankreich, Herbert Spencer in England sowie Max Weber und Georg Simmel in Deutschland stehen am Beginn dieser Tradition.5 Vor allem im deutschen Sprachraum hat Niklas Luhmann der Diskussion über funktionale Differenzierung wichtige neue Impulse gegeben. Im Aufbau seiner soziologischen Systemtheorie, die er seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nimmt die Analyse funktionaler Differenzierung einen zentralen Platz ein.
Für Luhmann war funktionale Differenzierung der Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft. Er verband die ältere Diskussion in seinem Fach auf innovative Weise mit dem von ihm entwickelten Konzept der Codierung von Kommunikation. Ein jeweils spezifischer binärer Code trägt für Luhmann entscheidend zur Ausdifferenzierung und Stabilisierung von Funktionssystemen bei. Denn damit können sie sich von ihrer gesellschaftlichen Umwelt unterscheiden und intern Komplexität aufbauen. Für Luhmann war somit die Unterscheidung von System und Umwelt leitend. Der Code markiert die Leitdifferenz, die Kommunikationen innerhalb eines Systems anleitet. Dementsprechend geht es in der Wissenschaft erst dann um ihr eigentliches Geschäft, die Erzeugung von wahren Aussagen, wenn sie sich in ihrer Arbeit allein am Code wahr/falsch orientiert, statt sich in der Forschung durch religiöse, moralische oder politische Gesichtspunkte beeinflussen zu lassen.6 Ein Funktionssystem muss noch weitere Strukturen aufbauen, um operieren zu können. Dazu gehören vor allem die nötigen Programme, um den Code anzuwenden. In der Wissenschaft sind dies etwa Methoden und Theorien.7
Luhmanns Theorie, das muss man betonen, ist nicht der einzige Referenzpunkt für Soziologen, die sich mit funktionaler Differenzierung auseinandersetzen. Gerade im englischen Sprachraum ist der Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons, mit dem auch Luhmanns eigene Arbeit begann, bis heute wichtig.8 Aber in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts haben sich viele namhafte deutsche Soziologen mit dem Problem der funktionalen Differenzierung auseinandergesetzt und dabei an die Ideen Luhmanns angeknüpft, etwa in Arbeiten zur Soziologie der Religion oder der Wissenschaftssoziologie.9 Wichtig sind auch die Überlegungen von Armin Nassehi zu den Folgen funktionaler Differenzierung in der Gegenwart.10
Den Ausgangspunkt für meine eigenen Überlegungen bildet ein Problem. Von welcher konkreten Gesellschaft redet Luhmann eigentlich, wenn er über das Vordringen des Musters funktionaler Differenzierung spricht, und in welchem Zeitraum spielt sich dies ab? Dabei handelt es sich um einen Prozess, so viel wird schnell klar, und zwar um einen, der weit bis in die Frühe Neuzeit, also die Zeit von etwa 1500 bis 1800, ja zuweilen sogar bis in das Mittelalter zurückreicht. Gerade in der Frühen Neuzeit, das ist ein wichtiges Argument von Luhmann, gab es semantische Umstellungen und Innovationen, die über die hierarchische Differenzierung hinausweisen. Auf der Ebene der gelehrten Semantik, also in den Traktaten und gelehrten Diskursen der Juristen, Theologen und Pädagogen, zeigen sich von 1500 bis 1800 vielfältige Bemühungen, die Autonomie von Teilsystemen vorwegnehmend zu begründen.11 Dafür nur ein Beispiel: »Die Autorität, nicht die Wahrheit macht das Gesetz«, schrieb Thomas Hobbes 1668 in seinem Buch Leviathan. Mit dieser folgenreichen Feststellung leitete Hobbes einen Prozess ein, der zur »Differenzierung von Theologie und Jurisprudenz« und damit zu einem Recht führte, in dem es nicht mehr um Wahrheit, sondern letztlich allein um die Geltung positiv gesetzter Rechtsnormen ging.12
Ungeachtet dieser Umstellungen in der Semantik blieben die Gesellschaftsstrukturen bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein hierarchisch, waren durch das Oben und Unten von sozialen Ständen gegliedert. Frühmoderne Kleiderordnungen, je nach Stand spezifische, abgestufte Rechte - so auch noch im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten aus dem Jahr 1794 - und die soziale...
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