Schweitzer Fachinformationen
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In dieser Nacht wurde ich krank und bekam Schüttelfrost und Fieber. Durstig trank ich aus dem Wasserhahn und fror, zitterte und glühte abwechselnd. Ich wusste, es wäre besser gewesen, im Bett zu bleiben. Trotzdem brach ich am nächsten Vormittag auf. Ich wollte auf keinem Fall länger für eine Pilgerin gehalten werden, die ich nicht war. Pilger folgten einem Weg und hatten zumindest ein geografisches Ziel. Ich hingegen hatte mich einfach nur verirrt. Eine Hochstaplerin wollte ich nicht sein.
Meine Anziehsachen waren klamm und kalt. Ich bibberte, und meine Zähne klapperten hektisch, obwohl über Nacht der Sonnenschein zurückgekehrt war. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich nachgiebig an. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, in Schlamm zu sinken. Der Rucksack war steinschwer. Mein Hals war wund, und das Schlucken schmerzte. In der nächsten Unterkunft würde ich mich auskurieren. Mir war schwindelig, und der Himmel wich vor mir zurück.
Bald darf ich mich ausruhen, nicht mehr weit, murmelte ich vor mich hin. Schritt für Schritt schleppte ich mich dahin und sprach mit mir selbst. Ich wollte mich hinlegen, nur noch schlafen. Sofort.
Dann quietschten Bremsen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich silbern glänzendes Metall. Ein dumpfes Klatschen. Ich roch verbrennenden Gummi und Lackpolitur. Mit Wucht erfasste mich eine Schmerzwelle, riss mich mit sich und schlug über mir zusammen.
Meine Synapsen veranstalteten zum letzten Mal ein Feuerwerk und schufen einen zeitlosen Raum. Dort traf ich meine Kinder, meine Mutter, meine Großmutter und sogar meinen Immer-noch-Ehemann. Sie umarmten mich stumm. Meine Freunde aus Studientagen liefen mir entgegen. Maria, Eva und Sebastian Hand in Hand. Der schüchterne Jan drückte mir einen Kuss auf den Mund. Das hatte er in Wirklichkeit nie getan. Seine Augen waren noch blauer, als ich sie in Erinnerung hatte. Mitfühlend schaute Jan mich an. Bedauern lag in seinem Blick.
Zac legte tröstend seinen gestreiften Arm um Jans schmale Schultern und zog ihn zu Mel und Loreen. Alle lächelten mir zu, und ich war glücklich. Ich ging an ihnen vorbei. Mein Weg führte von ihnen weg.
Gleichzeitig erkannte ich mich im Hintergrund. Es war meine Einschulung. Im gelben Kleid mit einer großen Schultüte im Arm ging ich durch die Schultür. Mein Blick war neugierig, und meine roten Haare waren wie bei Pippi Langstrumpf zu zwei Zöpfen geflochten. Ich erinnerte mich, wie sehr ich mich damals auf das Leben gefreut hatte. Wie gespannt ich gewesen war, wo es mich hinführen würde.
Unterwegs roch ich Erdbeeren, trank Zitronenlimonade und streichelte Luna, meine schwarze Katze.
Dann glitt ich in einen See, kraulte durch kühles Wasser und streckte mein Gesicht zur Sonne.
Plötzlich wurde mein Körper leicht.
Die Erdanziehungskraft war aufgehoben.
Die Zurückgebliebenen verblassten. Ich fühlte mich frei.
»Das war's«, dachte ich. »Das Ende.«
Etwas Hartes krachte gegen meinen Brustkorb. Während ich durch die Luft geschleudert wurde, löste ich mich von diesem Leben.
Beim Aufprall auf den Asphalt hatte mein Herz bereits aufgehört zu schlagen.
Stille.
Gleißend helles Licht und eine Rosenduftwolke umgaben mich. Ich erkannte den Geruch meiner Lieblingsrose. Die englische Züchtung Jane Austen hatte ich als erste Pflanze in unseren Garten gepflanzt, noch bevor der Rollrasen vom Gärtner verlegt worden war.
Wie aufmerksam und persönlich der Himmel seine Neuzugänge empfing.
»Elenor, meine liebe Tochter. Vertrau auf dich. Du trägst deinen Weg in dir.« Eine Frau, so strahlend wie das Licht, lächelte mich an. »Nur du kannst ihn finden.«
Meine Begeisterung ließ spürbar nach. Ich hatte endgültig genug von Wegen. Selbst im Jenseits wurde ich von Orakelsprüchen und esoterischen Ratgebern verfolgt.
Konnte man denn nirgends von diesem Geschwafel verschont bleiben? War vielleicht Inge mit mir ins Jenseits gereist? Bei der improvisierten Abschiedsfeier meines Gehirns war sie nicht dabei gewesen.
Oder war ich in die Hölle geschickt worden? Würde mich der Teufel auf ewig zu Pilates- und Aerobic-Stunden verdammen und dabei mit Lebensweisheiten quälen?
Gnädig empfing mich die Stille.
Endlich war Ruhe.
»Können Sie mich hören?«, fragte mich jetzt eine andere Stimme.
Sie war angenehm sanft und gehörte bestimmt einem Engel. Schon spürte ich seine weichen Flügelspitzen auf meiner Schulter.
Wahrscheinlich wollte mir das Himmelsgeschöpf eine Ersteinweisung geben. Vielleicht war auch schon die Zeit für meine erste Flugstunde gekommen.
Mühsam kämpfte ich mit meinen bleischweren Augenlidern und war auf das Jenseits und meine Engelsflügel gespannt. Blöderweise ließen meine Augen sich nicht öffnen. Aber immerhin ging es nach dem Tod weiter. Da war ich mir im Leben nicht sicher gewesen.
Vielleicht hatte mein Astralleib gar keine Augen, oder sie waren an einer anderen Stelle, überlegte ich.
Bestimmt sah mein neuer Körper ganz anders aus als mein alter. Vielleicht war die Sache mit den Flügeln auch ein irdisches Gerücht. Hauptsache, mein neuer Körper war jünger beziehungsweise altersresistent, faltenfrei, belastbar, ohne Altersflecken und Cellulitis. Eine gewisse Perfektion konnte man vom Jenseits bestimmt erwarten.
Ich war aufgeregt, wunderte mich aber, Schmerzen zu haben. Das viel gelobte Paradies wies unerwartete Mängel auf.
Der Rosenduft war verflogen, aber ich roch zum Glück auch kein Höllenfeuer. Ich lag weich und warm auf einer Wolke. Oder war ich die Wolke?
Fragen über Fragen drängten aus der Gedankenwarteschleife, lösten sich aber sogleich wieder spurlos auf.
Ich versank im stillen Nichts.
Meine erste Flugstunde musste warten. Zeit war bedeutungslos.
»Hallo? Können Sie mich hören?« Wieder erklang die Engelsstimme.
Hören konnte ich. Erst die Stimme des Engels, und jetzt drangen auch noch andere Geräusche zu mir durch: leises Klirren, ein saugender Luftstrom und ein hoher, unregelmäßiger Ton, der wiederholt mit einem dumpfen Krachen endete.
Das klang weder nach einer Engelschorprobe noch nach Sphärenklängen, sondern banal und alltäglich. Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir. War ich nicht tot?
Schlagartig erkannte ich die gewohnten Geräusche: aneinanderschlagendes Geschirr, Schnarchen und das Leeren der Biotonne.
Ernüchtert kehrte ich ins Diesseits zurück.
»Wo bin ich?« Meine Stimme klang wie ein eingerosteter Roboter.
»Sie sind im Krankenhaus.«
Ich stöhnte auf. Aus der Traum vom faltenfreien, glücklichen Dasein.
»Haben Sie Schmerzen?«
Tränen traten in meine Augen.
»Ich erhöhe die Dosis des Schmerzmittels. Gleich wird es besser«, versprach die freundliche Stimme, die leider keinem Engel, sondern der Internistin Dr. Marlena Niedermüller gehörte. »Sie hatten gestern einen Unfall. Ein Auto hat Sie angefahren. Dabei haben Sie einen heftigen Schlag auf Ihren Brustkorb erlitten. Als Folge dieser Erschütterung kam es zum Herzstillstand. Aber sie hatten großes Glück.« Sie sprach sehr langsam und deutlich. »Der Fahrer hat sofort Erste Hilfe geleistet und mit der Reanimation begonnen. Der Notarzt konnte Sie stabilisieren. Sie werden wieder völlig gesund. Wir haben Ihren Mann informiert. Schlafen Sie jetzt.«
Und wie auf Knopfdruck reiste ich zurück ins Traumland.
So viel zum Fliegen.
Als ich zum dritten Mal aufwachte, funktionierten meine Augenlider, und ich blinzelte vorsichtig.
Goldenes Sonnenlicht flutete durch den gelb gestrichenen Raum und brachte den Sonnenblumenstrauß auf meinem Nachttisch zum Leuchten. Überirdisch schön war das.
»Mei, wie geht's Ihnen denn?«, fragte das Nachbarbett.
Der Blumenstrauß versperrte mir den Blick auf meine Zimmergefährtin. Ich versuchte mich aufzurichten, aber mein Kopfdröhnen mahnte mich zum Stillhalten. Jeder Atemzug tat weh.
»Danke, besser«, log ich.
»Das freut mich. Mein Name ist Edeltraud März. Aber sagen S' doch Traudl zu mir«, bot die körperlose Stimme an.
»Elenor«, antwortete ich einsilbig, weil auch mein Hals beim Reden und Schlucken schmerzte. Blütenstaub lag auf der weißen Kunststoffoberfläche des Nachttisches, und Staubkörnchen tanzten in der Luft. Die Welt schien sich seit meiner Bewusstlosigkeit erneuert zu haben. Sie war bunter, detailreicher und strahlender.
»Wo bin ich?«, krächzte ich mühsam.
»Im Altöttinger Krankenhaus. Sie sind beinahe am Ziel Ihrer Pilgerreise angekommen.« Traudls Stimme tropfte salbungsvoll.
Ich stöhnte genervt auf, was meine Nachbarin als Schmerzäußerung interpretierte.
Die Pilgerei verfolgte mich.
»Das vergeht. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Bei der Wiederbelebung haben s' Ihnen ein paar Rippen gebrochen. Aber des wächst alles wieder zusammen«, tröstete mich Traudl.
Hätte mein Hals nicht wie Feuer gebrannt, hätte ich wortstark protestiert. Aber mein Rachen fühlte sich an, als wäre ich in den letzten Wochen als Feuerschluckerin über die Jahrmärkte gezogen. Wobei Feuerspucken bestimmt angenehmer war, sinnierte ich.
»Es passiert immer wieder«, kam die Stimme aus dem Kissen-Off und unterbrach meinen tiefsinnigen Vergleich, »weil keiner glaubt, wie schnell man übersehen wird.«
Hörte das denn niemals auf?
Ich schloss die Augen und wartete auf die weiteren Mitteilungen des Universums. Über dieses Thema hatte mir Inge mal ein rätselhaftes Buch geschenkt.
»Und auf den Kopf sind Sie auch gefallen«, informierte mich die Frau. »Vielleicht klappt's da oben jetzt nicht mehr ganz so wie früher.«
Das machte mir Mut.
Vorsichtig tastete ich nach meinem...
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