Schweitzer Fachinformationen
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»Radio ist doch kein Hexenwerk«, so hatte ihn ein Redakteur beim Hessischen Rundfunk gleich zu Anfang seines Praktikums eingeweiht, »der Nachrichtensprecher verkündet, die Nachmittagsredakteurin am Mikrophon schmeichelt. Sie könnte deine beste Freundin sein. Der Kommentator spricht entschieden, steht aber frei in der Landschaft. Vor ihm kein Podium mit Siegel, nichts.«
»Aber was ist, wenn die Nachrichten von einer Frau gesprochen werden, der Redakteur am Nachmittag aber ein Mann ist?«
»Dann gilt in etwa dasselbe. Das sind alles Rollen. Da schaltet jemand das Radio an und weiß sofort, ohne auf die Uhr zu gucken: Das sind jetzt die Nachrichten.«
»Und wie spricht man ein Feature?«
»Oh, kompliziert. Wie ein Theaterstück, fast.«
»Und eine Glosse?«
»Eine Glosse musst du zischeln. Wenn dir das nicht liegt, kannst du auch röhren, aber leise. Ein Lächeln auf den Lippen, aber nur, wenn es passt.«
»Ist das das Schwierigste?«
»Ich selbst bin da nicht weit gekommen. Aber aus der Sicht des Aufnahmestudios würde ich sagen, es ist wirklich eine Kunst für sich, etwas für Leute mit einem ganz speziellen Ohr.«
»Die Hörer?«
»Die sowieso - nein, ich meine den Autor. Das ist eine Frage feinster Nuancen.«
Da dachte Wieland Mumme: »Das wäre vielleicht etwas für mich.« Also, wie klang eine Radioglosse? Er sprach beim Archiv vor und fragte, ob es möglich wäre, ihm einige Glossen auf Band zu überspielen, gelungene Beispiele aus den letzten zehn Jahren? »Fünf oder sechs, so zum Reinhören. Geht das?«
»Es geht alles, wenn es geht.«
Er bekam - nach zwei Wochen - eine Kassette mit zwanzig Glossen aus zwanzig Jahren, elf auf der A-Seite und neun auf der B-Seite, chronologisch: 1967 - 1987. Es war eine väterliche Gabe des Archivars an den neugierigen Anfänger. Der hörte sie dreimal über Kopfhörer in der Bahn nach Berlin. Dann meldete er seine Diplomarbeit an: »Über die Radioglosse als indirektes Instrument gesellschaftlicher Kritik«.
Die erste Gelegenheit ließ Jahre auf sich warten und kam dann überraschend. Eine Routinekonferenz im Bundesradio, Studio Köln, Mumme 29 Jahre alt, Diplomsoziologe, seit drei Wochen angestellt als Assistent der Featureredaktion. Dieser merkwürdige Fall aus New York: Mia Farrow, in Trennung von Woody Allen, wirft diesem urplötzlich vor, kleine Kinder begrabbelt zu haben. Adoptierte Kinder. Komplizierte Verhältnisse. Woody Allen, den kannten nun wirklich alle. Die Konferenz quasselte drauflos. »Brainstorming« hieß das.
»Aber wieso kleine Kinder? Ich denke, der ist mit dieser Asiatin durchgebrannt, von der er vorher Nacktbilder gemacht hat? Die ist doch eindeutig erwachsen.«
»Die Farrow gefunden hat.«
»Wen?«
»Die Bilder.«
»Na ja, >gefunden<.«
»Kein Wunder, dass sie ihn rausschmeißt.«
»Ich glaube nicht, dass die zusammengewohnt haben.«
»Die Asiatin, Soon-Yi, ist übrigens weder seine Tochter noch von ihm adoptiert.«
»Das möchte man aber auch schwer hoffen.«
»Aber wer sind denn jetzt die kleinen Kinder, das habe ich noch gar nicht mitgekriegt?«
»Das ist auch nichts für die Kulturredaktion im engeren Sinne.«
»Wieso nicht? Allen ist in Deutschland ein echter Star. In Frankreich ein Superstar.«
»Es geht um einen Jungen von vierzehn Jahren, der aus Korea stammt, und ein Mädchen, das wohl sieben ist, die auch zum Adoptivklan von Farrow gehören. Erst behauptet sie, er habe sich an beiden vergriffen, und die Kinder sollen das bezeugen. Dann lässt sie das mit dem Jungen fallen und bleibt mit dem Mädchen dabei.«
»Na ja, Woody Allen und kleine Jungs, das ist ja auch irgendwie abwegig.«
»Vor allem lässt sich ein Vierzehnjähriger in so etwas nicht hineinquatschen.«
»Und ein kleines Mädchen?«
»Ja, was?«
»Dass ein Missbrauch denkbar wäre?«
»So ist die Anschuldigung von Farrow gebaut. Es geht um die Trennung, um Geld. Wenn auch nur ein Bruchteil dessen an Allen hängenbleibt, denkt sie, dann ist er erledigt.«
»Woher wollen wir wissen, was sie denkt?«
»Vielleicht sollten wir das Thema auf sich beruhen lassen.«
»Aber das Thema wird nicht ruhen. Übrigens war die Meldung zumindest in der englischen Presse gestern schon raus. Wenn wir in drei Tagen berichten, dann sind wir wieder die Lahmärsche vom Staatsfunk.«
»Wie aber wollen wir von Köln aus wissen, was wahr ist? Und warum sollten wir üble Nachrede gegen Allen verbreiten, obwohl wir ernste Zweifel haben?«
»Das ist ja nicht notwendig«, sagte Mumme leise.
»Nein? Also?«
»Man könnte es ja als mediales Phänomen glossieren.«
»Oh ho!«
»Trauen Sie sich das zu?«
Dreißig Jahre später, eine Videokonferenz. Das Format ist nicht neu, wird aber plötzlich heftig genutzt, seitdem Verordnungen der Länder die Bürger daran hindern, ihre Seminare, Volkshochschulabende, Lesekreise und Vernissagen persönlich zu besuchen - damit sie sich nicht mit einem Virus anstecken, das unter dem Elektronenmikroskop wie eine Krone aussieht. Ein Journalistikprofessor aus Mainz hat für seine Studierenden eine Reihe aufgelegt, in der sie mit »ikonischen Journalist(inn)en« sprechen dürfen. Mumme bekommt kein Geld dafür, und er hat auch nicht danach gefragt. »Ach nein, nichts über den Essay«, hat er im Gespräch vorab eingewandt, »das ist so ein Orchideenfach, und fast keiner schafft es bis dahin. Auch sehr mühselig zu erklären, wie so etwas zustande kommt. Aber wie wär's mit der Glosse, da habe ich sogar eine akademische Vorbildung.«
Es sind fünfzehn Studierende dabei, die Mumme als »Studentinnen und Studenten« begrüßt. Dreizehn sind im Portrait zu sehen, die Kachel zweier Studentinnen ist schwarz.
»Danke für die Vorstellung, Professor Tacke. Ich habe als Thema für unser Zoom die Glosse gewählt, weil sie eine der schwierigeren journalistischen Gattungen darstellt. Gleichzeitig droht sie in Vergessenheit zu geraten. Oder anders: Die Grenzen verschwimmen. Viele Blogs, zum Beispiel, sind eine Mischung aus Bericht, Zitat, Tagebuch, und die Glosse spielt mit rein. Das liegt, glaube ich, daran, dass im Wesen der Blogs der publizistische Rahmen fehlt. Glossen sind so etwas wie Scharniere im Betrieb. Ihre Wirkung, geschrieben oder gesprochen, hängt davon ab, dass sie die Ausnahme bilden, eine Übersteigerung des Redaktionellen. So war meine erste Glosse im Radio, >Das Teufelchen liegt im Detail<, in der 25-minütigen Sendung >Kultur vom Tage< - die es heute noch gibt, sie besteht zum großen Teil aus Korrespondentenberichten von neuen Inszenierungen und Ausstellungen - selbstverständlich die einzige Glosse in der Sendung selbst, und wie mir dann klar wurde, die einzige in der ganzen Woche auf diesem Sendeplatz.«
Sara gibt elektronisch das Zeichen der erhobenen Hand. Mumme nimmt sie dran.
»Könnten Sie uns etwas zum Fall Woody Allen sagen?«
»Ja. Ich habe meine erste Radioglosse als Beispiel gewählt. Ich setze voraus, dass Sie sie alle gelesen haben. Merkwürdigerweise ist die Sache nach dreißig Jahren, also jetzt, überhaupt nicht aus der Welt. Der >Fall<, wie Sie eben gesagt haben, hat juristisch keinerlei Substanz, aber er hat die Welt gespalten, oder jedenfalls eine bestimmte Welt - eine, die es sich leisten kann, zu solchen Angelegenheiten eine Meinung zu haben. Die Kinder der Familie Farrow aber hat das interessanterweise auch gespalten. Ausgerechnet das leibliche Kind von Farrow und Allen, Satchel, hat eine Karriere - eine journalistische - darauf gebaut, mittels Me Too. Was Ronen Farrow, wie er sich jetzt nennt, zwar nicht erfunden, aber höchst erfolgreich instrumentalisiert hat. Sein Bruder Moses dagegen hält den Vorwurf des Kindesmissbrauchs ganz öffentlich für einen Bluff seiner Mutter. Er ist ja auch der damals Vierzehnjährige, der von seiner Mutter mittels eines falschen Vorwurfs missbraucht worden ist. Jedenfalls kann man das so sehen.«
Jan: »Finden Sie, dass der Fall . na ja, oder die Sache Farrow - Allen journalistisch ein heißes Thema ist?«
Mumme: »Jetzt?«
Jan: »Ja, jetzt.«
Mumme: »Das zu beurteilen würde ich ganz allein Ihnen überlassen. Rückblickend jedenfalls ist mir aufgefallen, dass ich mit meiner Radioglosse in ein Wespennest gestochen habe. Im Weiteren hat sich erwiesen, dass Glossen auf unbequemen Themen am besten sitzen. Die Story, auf die eine Glosse sich bezieht, darf nicht zu einfach sein. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich den >Fall< - damals - nicht von der naheliegenden Seite aus betrachtet habe.«
Sara: »In der Tat...
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