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Zhadans Helden kämpfen gegen die Verfinsterung ihres Lebens in der Ukraine. Sie sind Rebellen der Existenz. Und vor dem Hintergrund des Krieges ringen sie um ihre Liebe, um ein mutiges, freies Verhältnis zueinander und um die eine Geschichte, die irgendwann alle über dieses Chaos erzählen werden. Mesopotamien ist das Meisterwerk von Serhij Zhadan, eine leidenschaftliche Liebeserklärung an seine Heimat.
»Zhadan hat ein so wehmütiges, gut gelauntes und kämpferisches Buch geschrieben, wie es lange keins mehr gab. Ein lebendiges Denkmal für die ideale Stadt Charkiw, die bedrohte Stadt, das bedrohte Land. Dabei ist er nicht einen Moment kitschig oder folkloristisch, dafür sind seine Figuren viel zu besoffen, naiv, selbstverliebt und mitunter auch brutal.« Volker Weidermann, Der Spiegel
Marat
In den vierzig Tagen, die seit Marats Tod vergangen waren, hatte der Frühling in der Stadt Einzug gehalten. Und fast hatte er sie schon wieder verlassen. Marat war Anfang April beigesetzt worden, am übernächsten Dienstag nach Ostern, dem Tag des österlichen Totengedenkens, und jetzt wuchs auf den Hügeln grünes, scharfes Gras?: Der Sommer war gekommen. In diesen vierzig Tagen war es uns gelungen, zu vergessen und uns zu beruhigen. Aber nun meldeten sich Marats Eltern telefonisch und riefen uns alles wieder in Erinnerung. Ich dachte?: Ja, wirklich, erst vierzig Tage. Die Toten stellen keine Forderungen, die Lebenden sind es, die uns unter Druck setzen.
Er war nur von ein paar Freunden und Nachbarn zu Grabe getragen worden. Die meisten seiner Bekannten - und davon gab es in der Stadt eine ganze Menge - hatten es nicht für möglich gehalten, dass man sie wirklich zu seinem Begräbnis lud. Später entschuldigten sie sich, fuhren auf den Friedhof, suchten den Grabstein. Der April war regnerisch gewesen, hinter dem VW-Bus mit dem Sarg liefen Straßenhunde her wie eine Ehrenwache, und ab und zu fielen sie die schwarzen Reifen des Leichenwagens an, als ob sie Marat nicht ins Totenreich entlassen wollten. Über den Friedhof zogen festliche Scharen, kletterten auf die Hügel, wo ihnen die niedrigen Wolken über den Köpfen hingen, stiegen ins Tal hinab, das von den Regenmassen überflutet wurde, feierten wie es nur ging und mischten Alkohol mit Regenwasser. Wir sind offenbar die einzigen gewesen, die mit einer Leiche zum Friedhof kamen, und müssen ziemlich komisch gewirkt haben - als wären wir mit unserem eigenen Klavier in einen Musikladen marschiert. Ostern schmiss alles über den Haufen und ließ unsere Trauer irgendwie unangebracht erscheinen. Zu Ostern stirbt man nicht. Im Gegenteil, normale Menschen erwachen zu dieser Zeit von den Toten.
Marats Tod war wie sein Leben - unlogisch und geheimnisvoll. Er starb in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Marat ging nicht in die Kirche, weil er sich für einen Moslem hielt, noch dazu für einen ungläubigen?; stattdessen latschte er mitten in der Nacht zum Kiosk, Zigaretten kaufen. In Gummischlappen und mit einem Geldschein in der Hand. Da wurde er abgeknallt. Niemand hat etwas gesehen, alle waren in der Kirche. Die Verkäuferin im Kiosk sagte, sie hätte nichts mitbekommen, obwohl sie glaubte, sie habe jemanden singen und Motoren röhren hören, sicher war sie allerdings nicht?; bei Bedarf hätte sie die Stimmen identifizieren können, ob es männliche oder weibliche Stimmen waren, wusste sie nicht zu sagen, aber sie hatte das Kennzeichen des Lada notiert, doch wie sich herausstellte, stand dieser Lada bereits das zweite Jahr am Straßenrand vor der Poliklinik für Studenten, und die Hausmeister horteten darin leere Flaschen und Pappe, die sie auf dem Müll gefunden hatten. Holla, sagten wir uns, die Neunziger kehren zurück, wer ist der nächste??
Es war unklar, weswegen man ihn abgeknallt hatte. Er machte keine Geschäfte, unterhielt keine Kontakte zur Staatsmacht und hatte keine Feinde, und auch wenn er manche Freunde auf der Straße nicht mehr erkannte, war das kein Grund für eine Schießerei. Auf den Straßen wurde seit etwa zehn Jahren nicht mehr geschossen, höchstens einmal auf Mitarbeiter eines Geldtransportunternehmens, was aber eigentlich nicht zählt - wie viele gibt es davon in Ihrem Bekanntenkreis?? Wir konnten nur rätseln, was tatsächlich passiert war.
Vierzig Tage waren vergangen, die Zeit lief dahin, Flüsse traten über die Ufer und kehrten wieder zurück in ihr Bett. Warme Tage brachen an. Ich wollte nicht hingehen, beschloss sogar anzurufen, um mich zu entschuldigen und abzusagen. Dann aber dachte ich, was ändert das schon?? Ich werde ja sowieso den ganzen Abend daran denken, dann schon besser in der Gesellschaft von Freunden und Angehörigen. Den Kopf sollte man lieber an einem vertrauten Ort verlieren. Ich trat aus dem Haus, machte eine Runde um die Schule, blieb an einem der Kioske stehen, überlegte lange und ohne mich entscheiden zu können, welche Zigaretten ich kaufen sollte, dachte noch - vielleicht doch lieber zurück?? - und ging weiter. Lief den steilen Hang hinauf an den Institutsgebäuden entlang und verlangsamte meinen Schritt erst in Marats Straße. Es war still. Vor dem Haus, im nachmittäglichen Schatten, wärmten sich schläfrige Hunde. Der Anführer hob den Kopf, streifte mich mit einem dunklen, aufmerksamen Blick, senkte den Kopf auf den Asphalt und schloss müde die Augen. Nichts ist passiert. Nichts hat sich verändert.
Marat wohnte einige Häuserblocks von mir entfernt, zum Fluss hin. Drei Minuten zu Fuß. Hier gab es alles?: Geburtshaus, Kindergarten, Musikschule, Kreiswehrersatzamt, Geschäfte, Apotheken, Krankenhäuser, Friedhöfe. Man konnte ein ganzes Leben hier verbringen, ohne auch nur zur nächsten Metrostation zu gehen. So haben wir es auch gemacht. Wir haben in den alten Häusern gewohnt, die über dem Fluss hingen, sind in den umgebauten und geteilten Wohnungen aufgewachsen, morgens aus den feuchten Treppenhäusern hinausgelaufen und abends unter die unsicheren löchrigen Dächer zurückgekehrt, die man kaum richtig flicken konnte. Von oben konnten wir die ganze Stadt sehen, in den Höfen konnten wir spüren, dass unter uns die Steine lagen, auf denen alles gebaut war. Im Sommer erhitzten sie sich, und uns wurde warm, im Winter waren sie durch und durch gefroren, und wir erkälteten uns.
Ihr Hof ging zur Tuberkulosestation, daneben zog sich ein Weg zu den alten Lagerhäusern hinunter. Auf der einen Seite, unten, hinter den Dächern?: die Uferstraße und die Brücke, schwarze Fabrikhallen, Neubauten, der Dschungel des Charkiwer Privatsektors. Auf der anderen Seite, oben?: die Hauptstraßen, Kirchen und Geschäfte. Ich ging durch den Torbogen und konnte alles spüren, womit ich so viele Jahre gelebt hatte?: Staub, Lehm und Sand, durch die nicht mal das Gras hindurchkam. Der Hof war mit Ziegelbrocken und Steinen gepflastert?; Marat hatte jahrelang damit gedroht, alles unter Asphalt zu begraben, aber dazu ist es nie gekommen, sodass alles blieb, wie es war - zwei uralte, noch aus vorrevolutionärer Zeit stammende zweistöckige Häuser, halb leer und lange nicht mehr renoviert, im Hof Rondelle und Rabatten, dahinter Apfelbäume und die schwarze Ziegelmauer eines Gebäudes, das schon zum Nachbarhof gehörte. Die Verwandten trugen Tische und Stühle aus der Wohnung, die Nachbarn kamen mit ihren eigenen Hockern, für alle Fälle, um nicht stehen zu müssen. Über den Tischen leuchteten die Apfelbäume, weiße Blüten fielen in die Salate und gaben ihnen Geschmack und Bitterkeit.
Ich grüßte. Man antwortete mir mit Kopfnicken, eine der Nachbarinnen zog einen zweiten Hocker unter dem Tisch hervor, und ich zwängte mich zwischen zwei warme Maifrauenkörper. Jemand fing sofort an, mir den Teller zu füllen, jemand anderer schenkte ein, ich schaute mich um, betrachtete die Anwesenden und erkannte sie. Es waren alle gekommen?: Mir gegenüber saß Benja, graue kurze Haare, er nickte mir aufmunternd zu und widmete sich dann wieder der Unterhaltung. Soweit ich verstehen konnte, redete man über das Wetter. Ein unverfängliches Thema, warum nicht?? So brach wenigstens niemand in Wehklagen aus. Kostik saß am anderen Tischende und winkte mir von weitem, ohne sich beim Essen stören zu lassen. Die Apfelblüten fielen auf sein weißes Hemd und lösten sich auf wie Schnee im winterlichen Fluss. Neben ihm klemmte eine dürre Nachbarin, die genau über Marat wohnte und von Kostiks breiten Hüften vom Hocker gedrängt wurde. Sam stand etwas weiter weg unter den Bäumen, zusammen mit Rustam, Marats Bruder. Der stapfte in neuem Trainingsanzug und Gummilatschen nervös über die Ziegelbrocken, sprach mit jemandem übers Handy und fragte bei Sam ab und zu etwas nach. Auch Sam trug einen Trainingsanzug, unter den Apfelbäumen ähnelten sie zwei Marathonläufern, die sich verirrt hatten und nun bei den Veranstaltern anriefen, um zu fragen, wo es weiterging. Die Nachbarinnen hielten das Gespräch am Laufen, und es sah so aus, als ob demnächst Musik eingeschaltet würde, um mit der Disco zu beginnen. Immer wieder wurde Rustam an den Tisch gerufen, der winkte ab, scheiß auf die Orthodoxen, und redete weiter, leidenschaftlich und verärgert, und Sam nickte und stimmte ihm offensichtlich in allem zu.
Ich betrachtete meine Freunde. In den letzten vierzig Tagen hatten sie sich kaum verändert. Eigentlich hatten sie sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Höchstens dass sich die Falten tiefer in Benjas Gesicht gruben, wodurch er Mick Jagger immer ähnlicher wurde. Schwarzer Pullover, teure Schuhe - Benja versuchte mit letzter Kraft, ordentlich auszusehen, obwohl ich besser als jeder anderer wusste, dass man ihn aus seiner eigenen Firma gedrängt hatte und er von den Bankeinlagen lebte, die er hatte retten können. Es war klar, dass das nicht lange reichen würde, und davon bekam Benja nur noch mehr graue Haare. Schwere Zeiten für ehrliches Business, nichts zu machen. Kostik dagegen wurde immer feister, was aber wenig Einfluss auf seinen Charakter hatte. Der war so schlecht, dass von Veränderungen kaum die Rede sein konnte. Kostik war Eisenbahner, das heißt, er saß irgendwo in der Verwaltung der Südeisenbahn und war für irgendetwas verantwortlich. Ich vermute, er wusste selber nicht wofür. Er legte an Gewicht zu und verlor seinen Humor. Nur wir, seine Jugendfreunde, gaben ihm noch Halt. Am meisten hatte sich wohl Sam verändert. Ich meine den neuen Trainingsanzug. Das war's. Alles andere - dieselbe Kampfpose des alten,...
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