Schweitzer Fachinformationen
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»Seit Februar fahren keine Straßenbahnen mehr«. Immer wieder gibt es Momente der Stille in der vom Krieg heimgesuchten Großstadt. Menschen treffen sich an Orten, die noch halbwegs intakt sind: auf dem Fußballplatz, in der Kirche, in einem lichtdurchfluteten Hochhausbüro. Zhadan-Leser treffen Figuren, die sie aus Mesopotamien oder Internat kennen: Leute, bei denen man nie genau wusste, was sie eigentlich tun, ob sie Musiker, arbeitslose Lehrer, Werbeleute, Automechaniker oder unabhängige Experten sind. Jetzt sind sie mit völlig anderen Dingen befasst: nach der Bombardierung eines Wohngebiets eine alte Frau evakuieren; einen Job für jemanden finden, der als Invalide von der Front zurückgekommen ist; an der Trauerfeier für einen getöteten Kollegen teilnehmen, der eine Einheit an der Front kommandiert hat.
Jede dieser Geschichten prägt sich tief ein. Zhadan findet einen Ausdruck für die Schutzlosigkeit und die radikale Veränderung des Lebens in einer Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, dass überall der »große Tod« mit herumsteht, wo man sich auch trifft.
Am zweiten März, dem siebten Kriegstag, rief Kolja an und bat, eine Leiche wegzubringen.
Artem war nicht überrascht, fragte aber nach - wessen Leiche genau?
»Die Nachbarin meiner Mutter«, erklärte Kolja. »Schon den siebten Tag verlässt sie die Wohnung nicht mehr. Dort in der Nähe hat es eingeschlagen, es ist kaum mehr jemand im Haus geblieben. Ein Mann im Erdgeschoss, der schaut nach den Katzen, na, und diese Nachbarin, eine Oma. Ich hab den Mann angerufen, er sagt - den siebten Tag verlässt sie die Wohnung nicht, macht nicht auf, ist nicht zu hören. Aber dort rumst es, die Polizei fährt da nicht hin. Man muss sie wegbringen, denn bald wird es wärmer und sie fängt an zu riechen.«
»Und wenn sie noch lebt?«, fragte Artem.
»Dann muss sie sowieso weggebracht werden.«
Kolja war am ersten Tag, an dem man begonnen hatte, die Stadt zu bombardieren, mit seiner Mutter weggefahren. Wo sie jetzt wohnten, das sagte er niemandem. Aber er rief überall an und erteilte Aufträge. Irgendwohin fahren, jemanden finden, jemandem etwas bringen. Selbst zurückkommen würde er nicht - seine Mutter ließ es nicht zu. Man sollte ihr dankbar sein dafür.
Es war Abend. Artem rief Softie an, seinen Partner, mit dem er schon eine Woche lang Evakuierungen durchführte, Menschen aus der belagerten Stadt herausholte.
»Morgen müssen wir eine Oma wegbringen«, sagte er.
»Hat sie viel Kram?«, fragte Softie.
»Eher nicht.«
»Kann sie noch laufen?« Softie ließ nicht locker.
»Nicht wirklich.«
»Irgendwas gebrochen?«
»Willst du sie vielleicht heiraten?«, gab Artem zurück.
Er schlief auf dem Fußboden. Irgendwie bildete er sich ein, dass es auf dem Fußboden sicherer wäre. Über ihm dunkelten die Fenster. Sie dunkelten im ganzen Gebäude. Niemand in der Stadt schaltete abends die Lichter an. Ihm war, als schliefe er im Rumpf eines Schiffes, dessen Mannschaft vor einer Woche für immer an Land gegangen war. Schon seit einer ganzen Woche lag die Stadt da wie ein Tier mit gebrochenem Rückgrat - man wollte helfen, fürchtete sich aber, näher ranzugehen. Schon seit einer ganzen Woche strömten die Bewohner aus der Stadt. Es waren nur noch wenige Leute auf den Straßen unterwegs und die Straßen erschienen plötzlich groß, leer und verletzlich. Wie nach einem Pogrom.
Er schlief schlecht, träumte nichts, als er aufwachte, freute er sich sogar. Um acht rief Softie an, sagte, er stünde unten. Artem trat aus dem Haus, ließ den Blick über die menschenleere Straße schweifen. Setzte sich in den Kleinbus, sie begrüßten sich mit Handschlag und fuhren los. Auf der Fahrt erzählten sie sich die neusten Nachrichten. Gute Nachrichten gab es nicht, daher verfielen sie bald in Schweigen. Sie fuhren durch das leere Zentrum, an den Kreuzungen bemerkten sie einige Autos mit Soldaten, sie überquerten die Brücke, kreuzten den Boulevard, bogen in die verwinkelte Siedlung ein, kurvten Richtung Umgehungsstraße. Schließlich stoppten sie. Weiter, hinter der weißen Wand der Plattenbauten, lag das offene Feld. Links, hinter Zäunen und Pappeln, dunkelten rot ein paar Chruschtschowkas. Eine davon war ihr Ziel.
Sie umfuhren ein Schlagloch, rollten durch eine Gasse voller Ziegelschotter, vorbei an einem ausgeplünderten Kiosk, und erreichten die erste Chruschtschowka.
»Welche Nummer ist das?«, fragte Artem mehr sich selbst.
»Das weiß Gott allein.«
»Wir müssen jemanden fragen.«
»Wen?«
Sie stiegen aus und standen an der Haustür, lauschten. Im Treppenhaus blieb es still, so als stünde auch drinnen jemand und lauschte zurück. Lieber nicht hineingehen. Auf der Straße war es ebenfalls still, morgens wurde nicht geschossen.
»Schau mal.« Softie machte eine Kopfbewegung.
In einiger Entfernung, am anderen Ende des Gebäudes, stand ein Mann. Etwas über vierzig. In Trainingsjacke, Skimütze, Brille. Stand, schaute, schwieg. Neben ihm unter einem Baum saß ein Hund, ein Schäferhund.
»Ist das die Nummer fünf?«, rief Artem ihm zu.
Der Mann schwieg.
»Warum schweigt er?«, fragte Artem leise.
»Er hat Angst.«
»Vor wem?«
»Vor mir«, erklärte Softie und setzte sich in Bewegung.
Artem folgte.
Jetzt standen sie dem Mann gegenüber. Der schwieg weiter. Versteckte die Hände in den Jackentaschen, schaute zur Seite. Sein Blick war leer, als könne er nicht sehen, oder als sähe er, aber was er sah, gefiel ihm nicht. Der Hund betrachtete sie alle drei mit Abscheu.
»Wohnst du hier?«, fragte Softie.
Der Mann nickte und rückte seine Brille zurecht.
»Ist das die Nummer fünf?«
Der Mann nickte wieder.
»Und warum hast du nichts gesagt?«, Softie wurde langsam wütend.
»Wohnen Sie hier?«, fragte Artem.
»Ja, hier.« Der Mann konnte also sprechen.
»Kennen Sie Kolja?«
»Ja, den kenne ich«, räumte der Mann ein. »Ich bin hier geboren, in diesem Haus. Und hierher zurückgekommen nach der Scheidung. Jetzt lebe ich allein.«
»Das ist gut«, antwortete Artem. »Ich meine - gut, dass Sie Kolja kennen. Er hat uns gebeten, nach einer Oma zu schauen. In diesem Treppenaufgang. Er sagt, dass sie die Wohnung in den letzten Tagen nicht verlassen hat. Kennen Sie sie?«
»Ja.«
»Und sie verlässt die Wohnung nicht?«, fragte Softie.
»Nein.« Der Mann widersprach nicht.
»Führen Sie uns hin«, sagte Artem und ließ den Mann vorangehen.
Im Treppenhaus war es feucht und leer, wie in einem Dorfladen. Zwischen den Etagen standen auf jedem Absatz alte Stühle.
»Ist das zum Verschnaufen, für die Oma?«, fragte Artem den Mann.
»Ja. Früher hat sie jeden Tag ihre Wohnung verlassen. Ich habe ihr geholfen, wenn ich konnte. Hab aber wenig Zeit. Die Arbeit.«
Sie schwiegen. Erreichten den vierten Stock. Die Tür war mit braunem Kunstleder verkleidet. Das Kunstleder war ganz von Schnitten übersät, als hätte es jemand ausgiebig mit einem Küchenmesser traktiert. Sie klingelten. Dann klopften sie lange. Lauschten in die Stille. So oder so mussten sie die Tür aufbrechen.
»Hat sie Verwandte?«, fragte Artem. »Kinder, Enkel?«
»Einen Enkel«, antwortete der Mann. »In Russland.«
»Aufbrechen.« Artem trat zurück und gab Softie den Weg frei.
Softie trat zu und die Tür flog auf. Sie gingen hinein, standen im Flur. Artem merkte, dass sie alle drei ganz unbewusst schnupperten. Es roch nach Büchern. Nach alten Büchern. Alte Bücher riechen nicht besser als alte Leute. Vor allem ungelesene. Sie riechen nach Armut und Liebesmangel. Sie traten ins Wohnzimmer. Sahen das Sofa, über dem eine Tagesdecke lag, den schwarzen toten Fernseher und Schränke mit Literatur.
»War sie Bibliothekarin?«, fragte Softie.
»Lehrerin«, korrigierte ihn der Mann. »Sie hat viel gelesen. Ich lese auch gerne.«
»Brav«, sagte Softie und ging ins kleinere Zimmer.
Die Oma lag auf ihrem Bett. Sie trug einen warmen Trainingsanzug, Wollsocken. Um die Hüften hatte sie ein Tuch geschlungen. Vielleicht war ihr kalt gewesen vor dem Sterben. Sie hatte scharfe Gesichtszüge, wie mit Bleistift gezeichnet, die Mundöffnung dunkel, als sei sie mit Kohle auf graues Papier gemalt. Der Kamm war aus dem grauen Haar gerutscht und lag auf dem Kissen. Die Arme ruhig ausgestreckt nah am Körper. Insgesamt sah sie friedlich aus. So als habe sie gefroren, sich dann beruhigt und sei gestorben.
Artem überlegte, dass in Wohnungen, wo Tote liegen, der Platz immer für alle reicht, die Räume weitläufig erscheinen. Vielleicht, weil niemand geschäftig, niemand aufgeregt ist, nicht das normale Leben lebt, in dem doch mehr Raum ist für Aufregung als für Logik. Außerdem erinnerte er sich an den Tag, als seine Mutter gestorben war - noch ganz jung, aber schon schwermütig und verloren. Und wie man ihn, den Erstklässler, aus dem Unterricht holte. Es war früh im Herbst, die Frauen führten ihn an der Hand durch die Straße und weinten demonstrativ. Er wollte sich vor allem losmachen, wollte, dass man ihn nicht an der Hand führte wie ein Baby. Auch seine Mutter zeigten sie ihm wie einem Baby. So als würden sie sagen: Schau, ...
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