Schweitzer Fachinformationen
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In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.
Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn "geparkt" hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
Sie stritten nicht mal miteinander. Wenn ihr etwas nicht gefiel, verstummte sie einfach. Und wenn ihm was nicht passte, ging er einfach aus dem Haus. Kam dann wieder. Sie saßen in der Küche, als wäre nichts passiert. Pascha kontrollierte betont langsam die Hausaufgaben, Marina schrieb Kurznachrichten, als absolviere sie einen endlosen Test. Zu Bett gingen sie einer nach dem anderen. Zunächst sie, dann - nach einer Pause, damit sie als Erste einschlief - er. Er legte sich vorsichtig hin, um sie nicht zu wecken. Sie schlief natürlich nicht. Er, klar, wusste das.
Vor zwei Jahren, nach langen Monaten Bekanntschaft und Gesprächen, nach Pausen, in denen sie nicht miteinander sprachen, und seltsamen Anfällen von gegenseitiger Zärtlichkeit, schlug Pascha vor zu heiraten. Marina war beleidigt. Blieb aber bei ihm wohnen. So lebten sie weiter - mit diesem unterschwelligen, unverständlichen Verdruss. Marina wollte ihn nicht heiraten, und Pascha konnte sich nicht entschließen, sie vor die Tür zu setzen - hast sie selbst eingeladen, wie kannst du sie da rauswerfen. Also schliefen sie weiter in einem Bett. Das Schlimmste war, dass Pascha nichts mehr vor ihr verbergen konnte, sie betrachtete ihn aus der Nähe, sah alles ganz deutlich. Sie sah morgens seinen Körper, sein Gesicht, seine Haut, die an Elastizität verlor, matter wurde, vergilbte wie Zeitungspapier in der Sonne. Sah, wie er den Alten behandelte, sich mit ihm über die einfachsten Dinge nicht einig wurde. Sah, wie er seine Schwester fürchtete. Wie er sich vor seinem Neffen versteckte. Wie er seine Direktorin hasste, seine Schüler ignorierte. Sie sah, dass er einfach nicht wusste, wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte, wie mit ihr reden, wie mit ihr schlafen. Er lebte so, als verübe er eine schwere Straftat direkt unter den Augen eines potentiellen Zeugen, der später erbarmungslos und kaltblütig aussagen wird, ohne ein einziges Detail zu vergessen, ohne eine einzige Episode auszulassen. Ich habe mich selbst in die Falle getrieben und sie aus irgendeinem Grund aufgelesen, dachte Pascha verzweifelt und betrachtete Marina aufmerksam. Im letzten Winter wurde es dann ganz schlimm. Etwas lag in der Luft, sie hatte sich wie mit Spannung aufgeladen, alle waren wie verrückt: sprachen nur über Politik, schauten Nachrichten, tauschten sich darüber aus. Pascha schaute nicht fern, redete aber mit. Nur nicht überzeugend. Deswegen wurde Marina wütend und tobte. Etwas in der Sprache ging kaputt, knackte wie das Eis auf dem Stausee im März und würde jeden Moment in unzählige schwere, scharfe Stücke brechen. Pascha versuchte nicht mal, etwas zu kitten: wie kann man Eis kitten, das bricht und im kalten Wasser versinkt? Schade natürlich, dachte er, aber nichts zu machen. Er legte sich nach wie vor mit ihr ins gleiche Bett. Wartete bloß immer länger, bis sie eingeschlafen war. Und schlief im Trainingsanzug, um ihre Wärme nicht zu spüren.
Morgens wachte er auf und lag lange reglos da. Damit sie keinesfalls merkte, dass er schon wach war, damit sie keinesfalls versuchte, ihn etwas zu fragen, damit sie ihn keinesfalls zufällig berührte und auch er sie keinesfalls zufällig berührte. Er gewöhnte sich überhaupt an, nach dem Aufwachen lange reglos liegen zu bleiben und dem Leben so zusätzliche Minuten der Ruhe zu entreißen, in denen man mit niemandem reden und niemandem zuhören musste. Genau wie jetzt. Er holt das Handy heraus, schaut auf die Uhr und betrachtet dann, solange das Display leuchtet, den Betonboden. Seine Stiefel stehen neben dem Schlafsack, schwer und groß wie Hanteln. Sieben Uhr morgens, das Display erlischt, es wird wieder dunkel, in der Dunkelheit riecht seine feuchte Winterjacke nach Rauch und gestrigem Regen. Sie ist über Nacht nicht getrocknet, füllt den Raum mit dem Geruch von Regen und Erkältung. Pascha schnuppert den Dunst der feuchten Kleidung, erkennt in dieser Feuchte den Geist von Kreide und Ziegelbruch, von gefrorenem Schotter und dichtem Gras, durch das er sich kämpfen musste, und der ganze gestrige Tag mit seinen Gerüchen, Eindrücken und Stimmen überwältigt ihn, rüttelt ihn durch wie die nächtliche Straßenbahn den letzten Passagier, bis Pascha die Ellenbogen aufstützt, in die Dunkelheit hineinlauscht, sich mit der tauben Hand über das Gesicht fährt.
»Ja willst du denn ewig schlafen?«, hört er in der Dunkelheit.
Er holt wieder sein Mobiltelefon heraus, schaltet die Taschenlampe ein, schaut sich um. Der Junge sitzt auf den Decken wie Buddha, ruhig und leicht benommen von der Einsamkeit. Den Rollkragen bis zur Nase hochgezogen, Trainingshose, gestrickte Damensocken. Ein Todeskandidat in seiner Zelle.
»Und warum schläfst du nicht?« Pascha kriecht aus dem Schlafsack und spürt, wie die Kälte sofort in den Körper dringt. Im Schlaf spürt man die Temperatur gar nicht, aber kaum klettert man raus, wird es sofort kalt, als nähere man sich nachts einem unsichtbaren Gewässer.
»Mit dir kann man echt nicht schlafen«, sagt der Junge ruhig. »Du führst ja Selbstgespräche. Kein Wunder, dass Marina dich verlassen hat.«
»Niemand hat mich verlassen«, antwortet Pascha etwas zu barsch, wühlt im Schlafsack, findet seine Brille, setzt sie sich auf die Nase, richtet sie mit seinen toten Fingern. »Wir waren nicht verheiratet«, fügt er für alle Fälle hinzu.
»Na klar doch«, sagt der Junge, aber er sagt es in einem so herablassenden Ton, dass Pascha zusammenzuckt.
»Wie kalt«, sagt Pascha, findet seine Jeans, versucht sie überzuziehen, verfängt sich mit den Beinen, balanciert. »Was habe ich denn geredet?«, fragt er vorsichtig, will es herauskriegen, aber so, dass der Junge nicht denkt, es würde ihn übermäßig interessieren.
»Etwas von einer Versammlung«, sagt der Junge.
»Was für eine Versammlung?«, fragt Pascha verständnislos.
»Elternabend«, fügt der Junge hinzu. »Schon gut«, er hört auf zu scherzen, »du hast nach einer Anna gerufen. Wer ist Anna?«, fragt er.
»Eine Kellnerin.«
»Haha«, lacht der Junge. »Dann hast du also nach der Kellnerin gerufen. Wann hast du zuletzt was Richtiges gegessen?«
»Wann habe ich was gegessen?«, fragt sich Pascha selbst, erstarrt auf seinem einen Bein wie ein Kranich, steht da, denkt nach. Dann zieht er wortlos die Jeans und den Pullover über, hebt die Jacke auf, die schwer und nass ist wie ein nicht getrocknetes Fischernetz, und schlüpft hinein. Wann habe ich gegessen?
»Komm«, sagt der Junge.
Er steht auf, findet die Erwachsenengummistiefel, holt aus dem einen ein langes Messer, aus dem anderen eine Taschenlampe, wirft sich eine grüne Jacke über, tritt als Erster in den Korridor hinaus. Pascha schnürt lange seine Schuhe, rollt eilig den Schlafsack zusammen, rennt dem Jungen nach. Der steht am Ende des Korridors, schaut Pascha vorwurfsvoll an.
»Meine Schuhe«, rechtfertigt sich Pascha.
»M-hm«, sagt darauf der Junge. »Die stinken, ich weiß.«
Pascha will etwas erwidern, aber der Junge ist schon losgegangen, biegt um die Ecke, also beschließt Pascha, dieses seltsame Gespräch nicht fortzusetzen.
Sie steigen ins Erdgeschoss hinauf. Der Junge dreht sich um.
»Soll ich dir den Pionier zeigen?«, fragt er.
»Was für einen Pionier?«, fragt Pascha.
»Einen toten«, erklärt der Junge kurz und geht weiter.
Sie steigen weiter hinauf, zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock öffnet der Junge ein Fenster und klettert auf das Fensterbrett. Durch das geöffnete Fenster drängt sofort der nasse Wind herein und mit ihm entfernte Explosionen und MG-Salven, die in der frischen Morgenluft besonders unheimlich klingen. Pascha zögert, weil er nicht ausmachen kann, wo geschossen wird, woher Gefahr droht, aber der Junge reicht ihm aufmunternd die Hand.
»Komm«, sagt er, »weiter als bis zur Turnhalle kommen wir sowieso nicht. Dort ist Nina. Die lässt uns nicht raus.«
Pascha fasst sich ein Herz und klettert aufs Fensterbrett, hinterlässt dabei schwere schwarze Abdrücke, die wie Kanzleistempel aussehen. Der Junge macht einen Schritt vom Fensterbrett aufs Vordach, von dort auf die Sandsäcke, mit denen der Hintereingang verbarrikadiert ist, springt dann ab in den dichten Morgennebel. Im Nebel leuchtet die Jacke des Jungen wie ein greller grüner Klumpen. Daran orientiert sich Pascha.
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