Schweitzer Fachinformationen
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17.06.93 (Donnerstag)
16.50
Am 17. Juni gegen fünf Uhr nachmittags versucht Dog Pawlow, die Metro zu betreten. Er kommt zum Drehkreuz, geht direkt auf die Frau in Uniform zu und zieht einen Veteranenausweis aus der Tasche. Die Frau in Uniform sieht sich den Ausweis an und liest »Pawlowa Wira Naumiwna«. - Und? - fragt sie.
- Meine Oma, - sagt Dog Pawlow.
- Wo ist deine Oma?
- Das, - Dog zeigt den Ausweis. - Meine Oma.
- Na und?
- Sie ist Kriegsveteran.
- Und du, was willst du?
- Sie hat im Panzer gebrannt.
Die Frau prüft noch mal den Ausweis. Wer weiß, denkt sie, vielleicht hat sie wirklich gebrannt, dem Foto sieht man es jedenfalls nicht an.
- Na gut, - sagt sie. - Und was willst du von mir?
- Lassen Sie mich durch, - sagt Dog.
- Hast du vielleicht auch im Panzer gebrannt?
- Moment, Moment, - Dog beginnt zu verhandeln, - vielleicht bringe ich ihr ja was zu essen.
- Was denn zu essen?
- Zu essen halt, - Dog überlegt, was seine Oma eigentlich ißt, wenn man sie läßt. - Milchprodukte, verstehen Sie? Käse.
- Selber Käse, - sagt die Tusse in Uniform nicht unfreundlich.
Dog weiß, wie das alles für Unbeteiligte aussehen muß. Daß er mit dem Kopf gegen eine riesige unendlich lange Mauer rennt, mit der sich das Leben von ihm abgeschottet hat, dagegen anrennt ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg, und daß ihm die Freuden des Lebens, darunter auch das Benutzen der Metro, derzeit einfach nicht vergönnt sind, so sieht es aus. Er faßt sich ein Herz und sagt etwas wie, jetzt hören Sie mal, gute Frau, natürlich redet er nicht so, aber ungefähr das bedeutet es. Also, hören Sie mal - sagt er, - okay? Regen Sie sich bloß nicht auf. Ich will Ihnen was sagen, gute Frau. Sie können mich natürlich verachten, ich merke ja, daß Sie mich verachten, Sie verachten mich doch, oder? Hören Sie zu, hören Sie zu, ich bin noch nicht fertig, hören Sie zu. Aber trotzdem, verstehen Sie, wie soll ich sagen - also, Sie, wie soll ich sagen, Sie sehen das vielleicht anders, gut, Ihnen ist es egal, aber eins müssen Sie zugeben: es kann nicht sein, daß meine Oma nur deswegen vor Hunger verreckt, weil ich, ihr, bitteschön, gesetzlicher Enkel, von irgend so einer blöden Kuh aus der Etappe nicht in die Metro gelassen werde. Geben Sie es zu? (Danach keifen sie sich nur noch an, nichts zu machen.) Er konzentriert sich, schlüpft der Frau unter den Armen durch, wobei er mit dem Veteranenausweis in der Luft herumwedelt, und verschwindet im kühlen Gedärm der Metro.
»Was heißt hier blöde Kuh aus der Etappe? denkt die Frau.
- Ich bin doch Jahrgang 49.«
17.10
Dog steigt unter dem Stadion aus, leerer Bahnsteig, in ungefähr einer Stunde spielt »Metallist« sein letztes Heimspiel, heute kommen bestimmt alle, klar, Saisonende und das ganze Gedöns, oben ein verregneter Sommer, der Himmel in Wolken, und irgendwo direkt über Dog das halbverfallene Stadion, ganz durchweicht und eingesunken in den letzten Jahren, Gras frißt sich durch die Betonplatten, vor allem wenn es geregnet hat, die Ränge verdreckt von den Tauben, auch auf dem Feld Scheiße, vor allem wenn wir spielen, ein kaputtes Land, kaputter Sport, die großen Steuermänner haben es versaut, wenn ihr mich fragt, denn wie auch immer, in der Sowjetunion gab es zwei Sachen, auf die man stolz sein konnte - Fußball und Atomwaffen, und wer das Volk dieser Errungenschaften beraubt hat, kann wohl kaum auf ein sorgenfreies Alter zählen, nichts ist so schlecht fürs Karma wie beschissene nationale Politik, klar. Dog steht schon eine ganze Weile auf dem Bahnsteig, gleich werden aus der anderen Richtung seine Kumpels kommen, er braucht also nur auf sie zu warten. Dog ist müde und fertig, säuft schon den dritten Tag, dazu das schlechte Wetter, es kommt bestimmt vom Wetter, Blutdruck oder wie das heißt, wie heißt der Zustand, wenn du drei Tage trinkst und plötzlich deine Verwandten und Freunde nicht mehr erkennst? Klar, Blutdruck.
Er weiß nicht einmal mehr, was passiert ist. Der Sommer hat so gut begonnen, es regnete, erfolgreich und sorglos verschlunzte Dog seine Jugend, bis ihn, den dauerhaft arbeitslosen Dog, irgendwelche Werbefreunde in die Abgründe der Werbeindustrie zogen, besser gesagt ihn als Kurier in der Werbeabteilung ihrer Zeitung anstellten. Dog hatte keine Böcke auf so was, überwand sich aber und ging arbeiten. Nutzen brachte er wenig, aber gut, daß man ihn wenigstens irgendwo als Menschen ansah, er selbst glaubte eigentlich nie wirklich daran, aber dafür sind Freunde schließlich da, daß sie mit brachialer Gewalt deinen sozialen Status verbessern, ich hab gleich gesagt, er macht's nicht lange, aber sie haben nicht auf mich gehört, null Problemo, er ist in Ordnung, ein bißchen abgefuckt, aber in Ordnung, in Ordnung, gab ich zu, in Ordnung.
Nach zehn Tagen hat Dog die Schnauze voll, fängt an zu trinken, geht nicht mehr zur Arbeit, und damit sie ihn nicht finden, trinkt er bei Freunden, mit seinen neunzehn Jahren kennt Dog die halbe Stadt, eine Nacht verbringt er sogar auf dem Bahnhof - trifft dort befreundete Pilzsammler, die mit dem Frühzug irgendwo Richtung Donbass fahren, Stoff holen, und er übernachtet mit ihnen unter den Säulen auf der Straße, wird dreimal von einer Streife gefilzt, bleibt pflichtschuldig bis zum Morgen bei ihnen sitzen und lauscht den Stories über Pilze und anderes hartes Zeug, dann hat er es satt und robbt heim. Hier erreicht ihn der Anruf. In anderem Zustand hätte Dog nie im Leben abgehoben, aber in ihm schwimmen schon die silbrigen kalten Forellen dreitägigen Alkoholkonsums und peitschen mit ihren Schwänzen schmerzhaft auf Nieren und Leber, so daß sich Dogs Welt verdunkelt und er automatisch abhebt. »Dog? - schreit es aus dem Telefon. - Leg bloß nicht auf.« Seine Werbefreunde Wowa und Wolodja, die ihm unseligerweise die Stelle vermittelt haben, sitzen irgendwo in ihrem Komsomolzenbüro und reißen sich gegenseitig den Hörer aus der Hand, wollen Dog dazu bringen, daß er mit ihnen redet, gleiten dabei gelegentlich ins Fluchen ab. »Dog! - sagen sie. - Vor allem - leg bloß nicht auf. Schwule Socke! - sagen sie, nachdem sie sich davon überzeugt haben, daß Dog sie hören kann. - Wenn du jetzt auflegst, hast du verschissen. Dann machen wir dich alle, klar?« - »Hallo«, - sagt Dog. »Was hallo? - regen sich Wowa und Wolodja auf. - Was hallo? Hörst du uns?« - »Ja«, sagt der verängstigte Dog. »Gut, - Wowa und Wolodja beruhigen sich ein bißchen. - Hör zu - es ist jetzt zehn Uhr morgens.« »Was?« - Dog kriegt Panik und legt auf. Das Telefon rappelt gleich wieder. Dog nimmt zögernd ab. »Du!!! - brüllt es aus dem Hörer. - Schwule Socke!!! Leg bloß nicht auf!!! Hörst du uns??? Leg bloß nicht auf!!!« Dog schluckt schwer. »Hörst du uns?« »Okay«, sagt Dog unsicher. »Also gut - bricht es aus den Werbeleuten heraus. - Es ist jetzt zehn Uhr morgens. Leg bloß nicht auf!!! Hörst du??? Leg bloß nicht auf!!! Es ist jetzt zehn. Um halb sechs warten wir beim Stadion auf dich. Wenn du nicht kommst, reißen wir dir die Eier ab. Wenn du kommst, reißen wir dir auch die Eier ab. Aber besser du kommst. Kapiert???« »Ja«, - sagt Dog. »Hast du kapiert?!!« - die Werbeleute geben keine Ruhe. »Kapiert«, sagt Dog Pawlow und spürt, wie die Forellen irgendwo unter seiner Gurgel herumtollen. »Was ist mit dir? - fragen sie endlich. - Ist dir schlecht?« - »Ja.« »Brauchst du irgendwas?« - »Wodka.« »Schwule Socke«, - sagen Wowa und Wolodja und legen auf.
Dog atmet tief durch. Zehn Uhr. Er muß sich entweder umziehen oder den Kater mit Alkohol bekämpfen, besser natürlich den Kater bekämpfen. Seine Oma kommt aus dem Nebenzimmer. Seine Oma, er liebt sie natürlich und so, läuft mit ihrem Veteranenausweis durch die Gegend, man kann sogar sagen, daß er stolz auf sie ist, natürlich nicht komplett, aber bis zu einem gewissen Grad, erzählt, daß sie im Panzer gebrannt hat, ich kann mir die Alte schwer im Panzerhelm vorstellen, aber nichts ist unmöglich. »Was ist, Vitalik?« - sagt sie. »Arbeit, Oma, - sagt Dog. - Arbeit.« »Was denn für Arbeit, - lamentiert die Alte. - Gestern hat es den ganzen Tag angerufen, wo, fragen sie, ist diese schwule Socke. Ja woher soll ich das denn wissen?«
17.22
Wowa und Wolodja springen aus dem Waggon und sammeln Dog auf. Lebst du noch? - fragen sie, Dog ist ganz weiß, es wird nicht besser, oben ziehen sie ihn in den Lebensmittelladen auf der Plechanow-Straße und kaufen zwei Flaschen Wodka, keine Angst, sagen sie zu...
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