Schweitzer Fachinformationen
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1. Eisenbahnunfälle. Anfang August holte mich Ljoschka in Charkiw ab, und wir haben dann auf dem Bahnhof gleich zwei Fahrkarten für den Nachtzug genommen. Es fing an zu regnen, der Bahnhof war halb leer, der Asphalt auf den Bahnsteigen erwärmte sich den ganzen Tag nicht. Irgendwie haben wir die Zeit bis zum Abend totgeschlagen, die zwölf Stunden in der Stadt rumgebracht, dann offener Schlafwagen dritter Klasse und die tief hängenden Sterne über den Waggons wie Salz auf den Rücken der Fische. Den Zug kannte ich seit meiner Kindheit, mein erster Zug, die erste Eisenbahnerfahrung sozusagen, ich erinnere mich bis heute an die Pritschen, an die sowjetischen Bettlaken, naß wie eingeweichtes Papier, an die verqualmten Tamburen, schwarze, verschneite Felder zogen vorbei, eine Landschaft wie schwarze Damenunterwäsche, es war Vorfrühling, und ich fuhr dieselbe Strecke. Seither ist viel Zeit vergangen, die Schaffner sind alt geworden, mein guter alter »Sumy-Luhansk« zog Abend für Abend an den östlichen Grenzen entlang, manchmal zog ich mit ihm. Wenn es jemanden interessierte, könnte ich eine Menge erzählen über die Morphiumengel aus den Schlafwagenabteilen, die sich an den Bahnübergängen mit den frisch erbeuteten Geldsäckeln und Klunkern aus rotem Zigeunergold aus dem Staub machten, über die Knastis, die sich auf der Heimfahrt einen Schuß setzten und alle Mitreisenden mit gepanschtem polnischen Fusel abfüllten, über die Hilfsschaffner, die sich schon betrunken hatten, bevor wir überhaupt losfuhren, weshalb ich fürs Öffnen der Türen zuständig war, damit die nervösen Mitternachtspassagiere den Ausstieg in ihren namenlosen Bergarbeiterorten nicht verpaßten, kurz, wenn sich jemand für den Alltag und die heldenhafte Arbeit meiner Landsleute interessierte, würde ich natürlich Auskunft geben, aber lassen wir das.
So vor zehn Jahren bin ich oft schwarzgefahren, ich mußte nur im Blick haben, wann im Nachbarwagen die Kontrolle kam, die Schaffner kontrollierten natürlich nie gleichzeitig, irgend jemand hinkte immer hinterher, und so brauchte man nur in den Nachbarwaggon zu gehen und dann zurückzukommen. Seitdem hat sich kaum etwas verändert, dasselbe Publikum, dieselben frustrierten Gesichter, derselbe Trott, so weit ich weiß, haben die Eisenbahner den höchsten Prozentsatz an Geschlechtskrankheiten, kein Wunder, bei dem, was die saufen.
Zurück zu unserem guten alten »Sumy-Luhansk«, Fahrkarten bis Swatowe, Plätze in einem ätzenden offenen Schlafwagen, uns gegenüber ein Mädchen, das gleich ein Gespräch anfängt. Aber worüber kann man mit uns schon reden? Ich weiß schon lange, daß ich Schwachsinn fasele, und wenn mich jemand anspricht, find ich es dann selbst oberpeinlich, also höre ich lieber zu. Das Mädchen sah sportlich aus, das heißt, nein, Trainingsanzug, Muskeln oder so meine ich nicht, was konnte die schon für Muskeln haben! Hatte sie natürlich nicht, sie sah einfach sportlich aus, war echt sympathisch und absolut nicht auf unsere Gesprächsbeteiligung angewiesen, sie redete ohne Punkt und Komma, wir warfen nur ab und zu etwas ein und boten ihr ansonsten Wodka an. Es stellte sich heraus, daß sie an der Polizeihochschule studiert, um Polizistin zu werden, dort geht es zu wie in der Armee, die werden ordentlich geschliffen, mit Privatleben, das heißt Sex, ist da nicht viel, Schminken ist verboten. Ganz in Ordnung, das mit dem Schminken, fand ich, wenn die Polizisten auch noch anfangen sich zu schminken, ist ihr gesellschaftliches Ansehen, das ohnehin ramponierte, vollends im Arsch. Und das mit dem Sex will auch gut überlegt sein, durch Sex entstehen Kinder, und was sollen wir mit den ganzen Polizisten? Ich hing meinen Gedanken nach, sie war wirklich nett, und ich wollte sie nicht beleidigen, obwohl mir das mit dem Sex keine Ruhe ließ. Na ja, dachte ich, vielleicht mischen sie Brom ins Essen, damit die Polizisten in den Kasernen gut schlafen und die Exerzierübungen nicht stören; macht Brom eigentlich abhängig? Wahrscheinlich schon, sicher setzen sie die meisten dieser netten, unverdorbenen Studentinnen auf Brom, und das werden sie dann ihr Leben lang nicht los, sicher ist das für viele ein persönliches Drama, da kommt so ein Polizist vom Dienst nach Hause, läßt im Korridor seine frisch erbeuteten Skalps fallen, geht in die Küche, verspeist ein üppiges Abendbrot, guckt seine Talk-Show, putzt sich ordentlich die Zähne, und ehe er ins Bett fällt, wo seine treue, kinderlose Frau auf ihn wartet, geht er noch mal in die Küche, kippt sein Glas Wasser mit Brom, macht das Licht aus und klappt ab, ohne einen Gedanken an seine Pflichten vor Gott und den Menschen zu verschwenden, an seine Frau schon gar nicht. Halb so tragisch, sagt das Mädchen, kriegen wir schon hin, so ist das Leben, mmh, sag ich, aber was ist das denn für ein Leben, dieses ewige Generve, nein, antwortet sie, ich find das gut, ich hab Ferien und fahr jetzt heim nach Luhansk, und wo wollt ihr hin?
Vor ungefähr einem Jahr habe ich in einem Interview gesagt, ich würde gern ein Buch über Anarchismus schreiben. Jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich das eigentlich gesagt habe, damals hatte ich nicht die geringste Lust, ein Buch über Anarchismus zu schreiben, aber das ist ja noch kein Grund, es nicht zu schreiben. Irgend jemand muß schließlich auch darüber schreiben, warum also nicht ich. Mein Ziel war klar und einfach - ich wollte die Orte aufsuchen, an denen die ukrainischen Anarchokommunisten am aktivsten gewirkt hatten, und dann etwas dazu schreiben. Ich nahm meinen Presseausweis und überredete Ljoschka, mitzukommen und Fotos zu machen. Ljoschka nahm die Sache sehr ernst und stellte einen Haufen Fragen, was er denn lesen solle, um sich einzuarbeiten, keine Ahnung, sagte ich, lies Kropotkin. Oder laß es besser. Der Sommer ging zu Ende, das Wetter wurde schlechter, und irgendwann fuhren wir wirklich los. Ljoschka hatte mich, wie gesagt, in Charkiw abgeholt, und nun waren wir schon seit ein paar Stunden schlaflos in diesem Zugabteil mit der rätselhaften Reisenden unterwegs und versuchten ihr zu erklären, wohin wir wollten, aber wir hatten keine Kraft und wußten auch nicht, wie wir es ihr erklären sollten. Ihr die Theorie der anarchistischen Selbstverwaltung darzulegen, traute ich mich nicht, was sollte sie auch damit, bei dem Brom und der Ausbildung, und von meiner Kindheit und den Dämonen zu erzählen, die hin und wieder zum Vorschein kommen, wäre zumindest merkwürdig gewesen, was würde sie schon von meiner Kindheit begreifen, wo sie nicht mal mit ihrer eigenen klarkam.
Manchmal mußt du einfach deinen Phantasien, zumindest den sympathischen, deiner inneren Stimme nachgeben, mußt ihre Ratschläge befolgen, wenn sie dir zum Beispiel zuflüstern: Na los, fahr hin, du hast doch da mal gelebt, bist dort aufgewachsen, na ja, vielleicht nicht ganz genau dort, macht nichts, versuch wieder rauszukommen aus den Niederungen da, und dann sehen wir mal, ob dein Geist, deine Erinnerung all die Wege wiederbeleben kann, die sich auf merkwürdige und unglaubliche Weise über deine persönliche Widerstandserfahrung gelegt haben, ab und zu mußt du deine Dämonen auf Urlaub schicken, sie entsteigen ohnehin Nacht für Nacht deinen Lungen wie Brieftauben ihren Schlägen und fliegen auf Strecken, die nur sie kennen; was hätte ich also dem Mädchen mit seinen Muskeln antworten sollen, he? Daß wir noch ein paar Stunden die gleiche Richtung fahren, wie ich das schon oft getan habe, und daß ich irgendwann nachts, wenn der Zug nicht entgleist und uns alle unter seinen Trümmern begräbt, umsteige und weiterfahre; daß ich in die Stadt will, in der ich aufgewachsen bin und auf die ich in letzter Zeit keinen Bock mehr habe, daß ich Freunde treffen will, die irgendwo da auf mich warten; daß ich absolut nicht scharf bin auf was Neues, daß ich einfach umsteige, von einem Zug in den nächsten, von einem Bus in den nächsten, immer eine andere Strecke, immer eine andere Fahrkarte, und ab und zu aussteige, um wieder einmal festzustellen, daß sich nichts verändert hat, daß alles so ist wie früher, wie immer, in bester Ordnung; daß sich auch nichts verändern konnte, wenn du dich nicht verändert hast. Und auch davon muß ich mich überzeugen. Ich konnte nicht richtig erklären, wohin ich wollte, sie würde das nicht verstehen, denn dort, wo für sie der Zug stehenblieb, blieb für mich die Zeit stehen, und ich konnte nur darauf warten, daß die Zeit sich wieder in Bewegung setzte, mit angehaltenem Atem warten, um sie nicht zu verschrecken, und da ich den Weg nur zu gut kannte, wußte ich genau, wie lange er dauert und wie er enden wird.
An der nächsten Station stiegen wir aus und holten Bier. Es war ein Uhr nachts. Ich glaube, es regnete. Oder nicht? Keine Ahnung. Egal.
2. Die Strapazen des ukrainischen Trampens. Es gibt mehrere Möglichkeiten, halbwegs unbeschadet die 200 Kilometer von Charkiw in die kleine Stadt zurückzulegen, die dafür bekannt ist, daß dort seinerzeit Wolodymyr Mykolajowytsch Sosjura, später ein...
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