Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Er kann sich zwar nicht daran erinnern, wie er dort hingekommen ist oder dass er sich ausgezogen hat - jedenfalls aber wacht A. J. im Bett auf und hat nur seine Unterwäsche an. Er erinnert sich daran, dass Harvey Rhodes tot ist; er erinnert sich daran, dass er sich der netten Vertreterin von Knightley gegenüber wie ein Arschloch verhalten hat; er erinnert sich, dass er das Curry an die Wand gefeuert hat; er erinnert sich an das erste Glas Wein und den Trinkspruch auf Tamerlane - danach an nichts mehr. Aus seiner Sicht war der Abend gelungen.
Sein Kopf dröhnt. Er geht ins Wohnzimmer und sucht nach den Überresten des Currys. Fußboden und Wände sind fleckenlos. A. J. kramt eine Aspirin aus dem Badezimmerschrank und beglückwünscht sich dazu, dass er wohl umsichtig genug war, das Curry wegzuwischen. Er setzt sich an den Esszimmertisch und stellt fest, dass auch die Weinflasche verschwunden ist. Erstaunlich für ihn, dieser Anfall von Ordnungsliebe, aber nicht einmalig. Er sieht über den Tisch hinweg an die Stelle, wo Tamerlane lag. Das Buch ist weg. Vielleicht hat er sich nur eingebildet, dass er es aus der Vitrine genommen hat?
Als er sich in Bewegung setzt, dröhnt A. J.s Herz mit seinem Kopf um die Wette. Auf halbem Wege zum Bücherregal sieht er, dass die klimatisierte Glasvitrine mit dem Kombinationsschloss, die Tamerlane vor der Welt schützt, weit offen steht und leer ist.
A. J. zieht einen Bademantel an und schlüpft in seine Laufschuhe, die in letzter Zeit nicht viele Kilometer gemacht haben.
Er joggt die Captain Wiggins Street hinunter, der schmuddelige karierte Bademantel weht hinter ihm her. A. J. sieht aus wie ein unterernährter Superheld mit Depressionen. Er biegt auf die Main Street ein und stürmt in die verschlafene Polizeiwache von Alice Island. »Man hat mich beraubt!«, schreit A. J. Es war nur eine kurze Strecke, aber er atmet schwer. »Bitte, kann mir jemand helfen!«
Lambiase stellt seine Kaffeetasse hin und betrachtet den verstörten Mann im Bademantel. Er erkennt in ihm den Besitzer der Buchhandlung, dessen hübsche junge Frau vor bald zwei Jahren in den See gefahren ist. A. J. sieht viel älter aus als bei ihrer letzten Begegnung, aber das, sagt sich Lambiase, ist ja kein Wunder.
»Beruhigen Sie sich, Mr. Fikry. Sagen Sie mir, was passiert ist.«
»Jemand hat Tamerlane gestohlen«, sagt A. J.
»Was ist Tamerlane?«
»Ein Buch. Ein sehr wertvolles Buch.«
»Also damit das erst mal klar ist: Sie wollen sagen, dass jemand ein Buch aus Ihrem Geschäft gestohlen hat.«
»Nein. Es war mein Buch, aus meinem Privatbesitz. Eine äußerst seltene Gedichtsammlung von Edgar Allan Poe.«
»Ihr Lieblingsbuch sozusagen?«, fragt Lambiase.
»Nein. Ich mag es gar nicht. Es ist Mist, infantiler Mist. Es ist einfach .« A. J. hyperventiliert. ». scheiße.«
»Ganz ruhig, Mr. Fikry. Ich will ja nur verstehen, was vorgefallen ist. Sie mögen das Buch nicht, aber es hat einen ideellen Wert?«
»Nein. Scheiß auf den ideellen Wert. Es hat einen beträchtlichen finanziellen Wert. Tamerlane ist wie der Honus Wagner der seltenen Bücher! Wissen Sie, wovon ich rede?«
Lambiase nickt. »Klar, der legendäre Baseballspieler, mein Dad hat Baseballkarten gesammelt. So wertvoll?«
A. J.s Worte überstürzen sich. »Es war das erste Werk, das Edgar Allan Poe geschrieben hat, da war er achtzehn. Die Exemplare sind äußerst selten, weil damals nur fünfzig gedruckt wurden und es anonym herauskam. Statt >von Edgar Allan Poe< steht auf dem Umschlag >Von einem Bostoner<. Ein Exemplar kann 400.000 Dollar und mehr erzielen, je nach Zustand und Marktwert. Ich wollte es in ein, zwei Jahren, wenn die Wirtschaft sich etwas erholt hat, in eine Auktion geben, die Buchhandlung dichtmachen und mich mit dem Erlös zur Ruhe setzen.«
»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel«, sagt Lambiase, »aber warum haben Sie so ein Buch im Haus und nicht in einem Banktresor?«
A. J. schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Es war dumm von mir. Ich hatte es wohl gern in meiner Nähe. Um es anzuschauen und mir zu sagen, dass ich jederzeit Schluss machen könnte, wenn ich wollte. Es war in einer Glasvitrine mit Zahlenschloss, da ist es sicher, hab ich gedacht.«
Lambiase nickt. In Alice Island gibt es kaum Diebstähle, außer in der Touristensaison. Es ist Oktober. »Hat jemand die Vitrine eingeschlagen, oder kannte jemand die Zahlenkombination?«, fragt er.
A. J. legt die Hände vors Gesicht. »Weder noch. Gestern Abend wollte ich mich volllaufen lassen. Blöd, wie ich war, hab ich das Buch rausgenommen, um es anzuschauen. Zur Gesellschaft sozusagen.«
»Sind Sie versichert, Mr. Fikry?«
A. J. antwortet nicht, demnach, schließt Lambiase, ist das nicht der Fall. »Ich habe das Buch erst vor etwa einem Jahr gefunden, ein, zwei Monate nach dem Tod meiner Frau. Ich wollte mir die zusätzlichen Kosten sparen. Ich hab nie die Zeit dazu gefunden. Ich weiß nicht . Hunderttausend idiotische Gründe, der Hauptgrund aber ist, dass ich ein Trottel bin, Officer Lambiase.«
Lambiase schenkt sich den Hinweis, dass er Chief Lambiase ist. »Also, ich mache jetzt Folgendes. Zuallererst setzen wir gemeinsam ein Protokoll auf. Wenn dann meine Mitarbeiterin kommt - sie arbeitet in der Nachsaison nur halbtags -, schicke ich sie zu Ihnen, da soll sie nach Fingerabdrücken und sonstigen Beweismitteln suchen. Vielleicht findet sich irgendwas. Außerdem können wir die Auktionshäuser anrufen und Leute, die mit solchen Dingen handeln. Wenn das Buch so selten ist, wie Sie sagen, fällt es bestimmt auf, wenn ein bislang unbekanntes Exemplar auf den Markt kommt. Muss es für so was nicht einen Herkunftsnachweis geben, so ein . Dingsbums?«
»Eine Provenienz«, sagt A. J.
»Genau. Ich hatte mal eine Freundin, die immer Antiques Roadshow geguckt hat. Kennen Sie die Sendung?«
A. J. antwortet nicht.
»Noch eine letzte Frage. Wer wusste von dem Buch?«
A. J. schnaubt. »Jeder. Die Schwester meiner Frau, Ismay, ist Lehrerin an der Highschool. Sie sorgt sich um mich, seit Nic . Ständig nervt sie mich, ich soll die Buchhandlung dichtmachen und von der Insel wegziehen. Vor einem Jahr hat sie mich zu dieser trostlosen Haushaltsauflösung in Milton geschleppt. Das Buch steckte in einer Kiste zusammen mit fünfzig anderen, alle wertlos bis auf Tamerlane. Ich habe fünf Dollar dafür gezahlt. Die Leute hatten keine Ahnung, was sie da hatten. Ehrlich gesagt bin ich mir ziemlich schäbig vorgekommen. Aber das spielt ja jetzt keine Rolle. Ismay fand, es wäre gut fürs Geschäft und pädagogisch wertvoll oder so, wenn ich es in der Buchhandlung ausstellen würde. Deshalb stand die Vitrine den ganzen Sommer über im Laden. Aber da kommen Sie wohl nie hin .«
Lambiase betrachtet seine Schuhspitzen. Wieder packt ihn die vertraute Scham aus tausend Englischstunden in der Highschool, in denen er das minimale Lektürepensum nicht geschafft hat. »Ich lese nicht viel.«
»Aber manchmal Krimis, nicht?«
»Das haben Sie sich gut gemerkt«, sagt Lambiase.
A. J. hat tatsächlich ein perfektes Gedächtnis für das, was die Leute gern lesen. »Deaver, nicht? Wenn Ihnen der gefällt, habe ich da diesen neuen Autor .«
»Klar, ich komme irgendwann mal vorbei. Kann ich jemanden für Sie anrufen? Die Schwester Ihrer Frau ist Ismay Evans-Parish, nicht?«
»Ismay ist .« In diesem Augenblick erstarrt A. J., als hätte jemand auf Pause gedrückt, sein Blick wird leer, der Mund bleibt offen stehen.
»Mr. Fikry?«
Fast dreißig Sekunden lang ist A. J. erstarrt, dann redet er weiter, als wäre nichts geschehen. »Ismay ist in der Schule, und mir geht es gut, es ist nicht nötig, sie anzurufen.«
»Eben waren Sie eine Zeit lang weg«, sagt Lambiase.
»Was?«
»Sie - hatten einen Blackout.«
»Ach je. Das ist nur eine Absence, als Kind hatte ich die oft. Als Erwachsener bekomme ich sie nur bei zu viel Stress.«
»Sie sollten zum Arzt gehen.«
»Nein, alles in Ordnung, wirklich. Ich will nur mein Buch wiederhaben.«
Lambiase lässt nicht locker. »Mir wär's aber lieber, Sie ließen sich durchchecken. Sie haben einen ziemlich heftigen Vormittag hinter sich, und ich weiß, dass Sie allein leben. Ich bringe Sie ins Krankenhaus, und dann sorge ich dafür, dass Ihre Schwiegereltern Sie später abholen. Und in der Zwischenzeit sollen meine Leute sehen, ob sie irgendwas über Ihr Buch rauskriegen.«
Im Krankenhaus wartet A. J., füllt Fragebogen aus, wartet, zieht sich aus, wartet, lässt Tests über sich ergehen, wartet, zieht sich wieder an, wartet, unterzieht sich weiteren Tests, wartet, zieht sich wieder aus und steht schließlich vor einer Allgemeinärztin in mittleren Jahren. Sein Blackout macht ihr keine großen Sorgen. Die Tests allerdings haben ergeben, dass Blutdruck und Cholesterin an der Grenze zwischen gerade noch zulässig und zu hoch für einen Neununddreißigjährigen sind. Sie fragt A. J. nach seiner Lebensweise. Er antwortet ehrlich. »Ich bin nicht das, was Sie wohl einen Alkoholiker nennen würden, aber mindestens einmal die Woche trinke ich gern bis zur Bewusstlosigkeit. Ich rauche gelegentlich und ernähre mich von tiefgefrorenen Fertigmahlzeiten. Ich benutze selten Zahnseide. Früher war ich Cross-Country-Läufer, aber jetzt trainiere ich kaum noch. Ich lebe allein und habe keine engen persönlichen Beziehungen. Seit meine Frau gestorben ist, hasse ich meine Arbeit.«
Die Ärztin nickt. »Sie sind noch jung, Mr. Fikry, aber jeder Körper kommt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.