Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Seit einigen Jahren probiert Naïma eine neue Form der Verzweiflung aus: die Form, die sich konsequent mit einem Kater einstellt. Es handelt sich nicht einfach um Kopfschmerzen, einen pelzigen Mund oder einen verdorbenen Magen. Wenn sie die Augen nach einem der allzu feuchtfröhlichen Abende aufschlägt (sie musste unbedingt größere Abstände dazwischen einlegen, denn eine wöchentliche oder gar halbwöchentliche Katerstimmung konnte sie nicht ertragen), ist der erste Satz, der ihr in den Sinn kommt:
Ich werde es nicht schaffen.
Eine Zeit lang fragte sie sie sich, was mit diesem unvermeidlichen Scheitern gemeint sei. Es könnte bedeuten, dass sie die Scham nicht ertrug, die ihr das Verhalten vom Vorabend einflößte (du sprichst zu laut, du erfindest Geschichten, du buhlst um Aufmerksamkeit, du bist ordinär), oder dass sie bedauerte, so viel getrunken zu haben und kein Ende finden zu können (du selbst warst es, die rief: »He Leute, so gehen wir doch nicht auseinander!«). Der Satz mochte auch dem körperlichen Unwohlsein gelten, das sie räderte . Und dann begriff sie.
An den verkaterten Tagen kann sie die unendliche Schwierigkeit mit Händen greifen, die daraus erwächst, zu leben, und die sich normalerweise durch Willenskraft verbergen lässt.
Generell. Morgens aufzustehen. Drei Mal am Tag zu essen. Zu lieben. Nicht mehr zu lieben. Mir die Haare zu bürsten. Zu denken. Mich zu bewegen. Zu atmen. Zu lachen.
Manchmal kann sie es nicht verbergen, und das Geständnis rutscht ihr raus, wenn sie die Galerie betritt.
- Wie fühlst du dich?
- Ich werde es nicht schaffen.
Kamel und Élise lachen oder zucken mit den Schultern. Sie haben nicht die geringste Ahnung. Naïma betrachtet sie, wie sie im Ausstellungsraum umhergehen, in ihren Bewegungen von den Exzessen des Vorabends kaum beeinträchtigt und unbehelligt von der Erkenntnis, die Naïma Qualen bereitet: Der Alltag ist eine höchst anspruchsvolle Disziplin, und sie hat sich gerade disqualifiziert.
Da sie nichts schafft, darf an den verkaterten Tagen auch nichts sein. Nichts Gutes, das nur verdürbe, und nichts Schlechtes, das auf keinen Widerstand träfe und alles im Innersten zerstörte.
Das Einzige, was die verkaterten Tage dulden, das sind Nudeln mit ein wenig Butter und Salz: beruhigende Mengen und ein neutraler Geschmack, fast nicht existent. Und Fernsehserien. Oft war in den letzten Jahren von den Kritikern zu hören, dass wir einen außergewöhnlichen Wandel erlebten. Dass die Fernsehserien in den Rang von Kunstwerken aufgestiegen seien. Dass das eine Sensation sei.
Vielleicht. Aber das ändert nichts an Naïmas Auffassung, dass sich die wahre Existenzberechtigung der Fernsehserien aus den verkaterten Sonntagen ergibt, die es irgendwie zu füllen gilt, ohne vor die Tür zu gehen.
Der folgende Tag ist jedes Mal ein Wunder. Wenn der Lebensmut zurückkehrt, der Eindruck, man könne etwas bewerkstelligen, dann ist das wie eine Wiedergeburt. Wahrscheinlich ist die Existenz dieser folgenden Tage der Grund, warum sie erneut trinkt.
Es gibt die auf die Besäufnisse folgenden Tage - den Abgrund.
Und die auf die folgenden Tage folgenden Tage - die Freude.
Der Wechsel zwischen beiden schafft einen fortwährend bekämpften Mangel an Stabilität, der Naïmas Leben prägt.
An diesem Morgen erwartet sie den folgenden Morgen wie gewöhnlich und so, wie die Ziege von Monsieur Seguin die Sonne erwartet.
Von Zeit zu Zeit sah die Ziege des Monsieur Seguin die Sterne am klaren Himmel tanzen und sprach zu sich: »Ach! Könnte ich es doch bis zur Morgenröte aushalten!«
Und dann, während ihre erloschenen Augen sich im Schwarz des Kaffees verlieren, in dem sich die Deckenleuchte spiegelt, erscheint verstohlen ein zweiter Gedanke neben dem ersten, dem parasitären und heftigen (»ich werde es nicht schaffen«). Ein Riss, der in gewisser Weise quer zum ersten verläuft.
Zunächst gleitet der Gedanke so rasch vorbei, dass es Naïma nicht gelingt, ihn zu identifizieren. Doch dann kann sie die Wörter deutlicher unterscheiden:
». glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten .«
Woher kommt dieser Satzfetzen, der wieder und wieder in ihrem Kopf auftaucht?
Sie fährt zur Arbeit. Im Lauf des Tages lagern sich weitere Wörter an das ursprüngliche Bruchstück an.
»tragen Hosen«
»trinken Alkohol«
»führen sich auf wie Huren«
»glaubt ihr denn, dass sie machen, wenn sie sagen, sie studieren?«
Und dann sucht Naïma verzweifelt nach ihrer Verbindung zu dieser Szene (war sie zugegen, als diese Rede gehalten wurde? Hat sie sie im Fernsehen gehört?). Alles, was sie an die Oberfläche ihres widerspenstigen Gedächtnisses fördern kann, ist das wütende Gesicht ihres Vaters Hamid, die Stirn gerunzelt und die Lippen zusammengepresst, um nicht zu schreien.
»Eure Töchter tragen Hosen.«
»Sie haben vergessen, woher sie kommen.«
Hamids Gesicht, zu einer Maske der Wut geronnen, überlagert die Fotografien eines schwedischen Künstlers, die rundum in der Galerie hängen, und jedes Mal, wenn Naïma den Kopf wendet, schwebt es in halber Höhe der weißen Wand auf dem entspiegelten Glas, das die Fotos schützt.
- Das hat Mohamed auf der Hochzeit von Fatiha gesagt, erklärt ihr ihre Schwester abends am Telefon. Erinnerst du dich nicht?
- Und hat er uns gemeint?
- Dich nicht, nein. Du warst noch zu klein, du musst noch zur Schule gegangen sein. Er hat von mir und den Cousinen gesprochen. Am komischsten .
Myriem begann zu lachen, und ihr Glucksen mischte sich mit dem seltsamen Rauschen des Ferngesprächs.
- Was?
- Am komischsten war, dass er vollkommen besoffen war, als er uns Mädchen einen feierlichen Vortrag über islamische Moral halten wollte. Erinnerst du dich wirklich gar nicht mehr?
Als Naïma geduldig und hartnäckig an ihrem Gedächtnis kratzt, fördert sie kleine Bildausschnitte zutage: Fatihas Kleid aus glänzend weiß-rotem Synthetik, das große Zelt für den Empfang im Garten des Festsaals, das Porträt von Präsident Mitterrand im Rathaus (er ist zu alt dafür, hatte sie gedacht), der Text von Michel Delpechs Chanson über Loir-et-Cher, das purpurrote Gesicht ihrer Mutter (Clarisse' Erröten begann immer an der Stirn, ein Quell steter Heiterkeit für ihre Kinder), das peinvoll zusammengezogene ihres Vaters und dann die Ansprache Mohameds, schwankend inmitten der Gäste, am hellen Nachmittag, in einem beigefarbenen Anzug, der ihn alt machte.
Was, glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten? Sie sagen, sie gehen studieren. Aber schaut sie euch an: Sie tragen Hosen, sie rauchen, sie trinken, sie führen sich auf wie Huren. Sie haben vergessen, woher sie kommen.
Es ist Jahre her, dass sie Mohamed auf einem Familienessen gesehen hat. Nie hatte sie zwischen der Abwesenheit ihres Onkels und dieser in ihrem Gedächtnis wiederaufgetauchten Szene eine Verbindung hergestellt. Sie hatte einfach gedacht, er sei endlich erwachsen geworden. Lange hatte er bei seinen Eltern gelebt und einen Eindruck verspäteter Jugendlichkeit vermittelt mit seinen Baseballkappen, den neonfarbenen Jogginganzügen und der mürrischen Arbeitslosigkeit. Der Tod Alis, seines Vaters, hatte ihm einen willkommenen Grund geliefert, noch länger zu bleiben. Seine Mutter und seine Schwestern riefen ihn mit der ersten, unendlich in die Länge gezogenen Silbe seines Vornamens, in der Wohnung von einem Zimmer ins nächste oder durch das Küchenfenster, wenn er auf den Bänken des Spielplatzes herumhing:
- Mooooooooo!
Naïma erinnert sich, dass er, als sie klein war, ab und zu ein Wochenende bei ihnen verbrachte.
- Er hat Liebeskummer, erklärte Clarisse ihren Töchtern mit dem fast medizinischen Mitgefühl einer Frau, die auf eine so lange und friedliche Liebesgeschichte zurückblickte, dass selbst die Erinnerung an allen Liebeskummer verblasst schien.
In seinem bunten Aufzug und den Chucks erschien er Naïma und ihren Schwestern immer ein wenig lächerlich, wie er in dem großen Garten ihrer Eltern umherging oder in der Gartenlaube ein Gläschen mit seinem älteren Bruder trank. Wenn sie heute daran zurückdenkt - unfähig zu entscheiden, was sie jetzt gerade erfindet, um Erinnerungslücken zu stopfen, und was sie damals erfunden hat, um sich zu rächen, weil man sie von den Gesprächen der Erwachsenen ausschloss -, so hatte er eine Menge anderer Gründe als seine Liebesgeschichten, um unglücklich zu sein. Sie meint, ihn von seiner gescheiterten Jugend sprechen zu hören, dem Bier im Treppenhaus und den kleinen Shit-Deals. Sie meint, ihn sagen zu hören, dass er niemals das Gymnasium hätte abbrechen dürfen, aber vielleicht kam das auch von Hamid oder Clarisse, die sich rückblickend ein Urteil erlaubten. Seinem Bruder gegenüber erklärte er auch, in den Achtzigerjahren sei das Viertel nicht mehr mit dem zu vergleichen, das der noch gekannt habe; man könne ihm nicht vorwerfen, dass er nicht mehr auf einen Ausweg gehofft habe. Sie glaubt, sie habe ihn unter den dunklen Blüten der Klematis weinen sehen, während Hamid und Clarisse tröstliche Worte murmelten, aber sie ist sich nicht sicher, in keinem Punkt. Jahrelang hat sie nicht an Mohamed gedacht (häufig kommt es vor, dass sie stumm ihre Onkel und Tanten aufzählt, nur um sich zu vergewissern, dass sie niemanden vergisst, und gelegentlich vergisst sie doch jemanden, dann ist sie tief betrübt). Soweit sie sich erinnert, war er immer traurig. Wann ist er zu dem Schluss...
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