Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wie können die anderen nur schlafen, fragt sich Jacob in diesem Zelt mitten in der Wüste, wo er mit den Zähnen klappert, wie können sie die Fragen verstummen lassen? Was hat ihn von Geburt an auf diese Situation vorbereitet? Nicht die zu Spielsteinen umfunktionierten Aprikosenkerne, die aus Schilfrohr und Zeitungspapier gebastelten, mit Mehl und Wasser geleimten Drachen, nicht die Bücher aus der Schulbibliothek, die Musik, die heimlich in den Grotten gerauchten Zigaretten, die Mädchen, die er als so furchterregendes wie betörendes Mysterium betrachtet hatte, nicht die Streitereien, die Gebete, die Festessen, die Stürze in den Rhumel-Felsen, die Knieverletzungen, die aufgeschürften Hände, nein, nichts hat ihn auf natürlichem Wege hierhergeführt, nicht mal die Soldatenspiele mit seinen Freunden, die Vorstellung, dass sie im Feld standen und die Schlacht von Verdun nachspielten, meistens, oder die von Gallipoli. Sie liebten diesen Namen, den die Alten ständig wiederholten, berauschten sich förmlich daran, mit Betonung auf der ersten und dritten Silbe und sanft ausklingendem li. Sie riefen Gallipoli und waren vor Ort. Du bist ein deutscher Soldat, peng, ich schieße, du bist tot, komm jetzt, wir holen uns einen Créponné, ich habe meinem Bruder 50 Centimes stibitzt. Das Aroma des Zitronensorbets nimmt Jacobs Gaumen ein, lockt die Erinnerung aus seinen Geschmacksknospen hervor, wieder fragt er sich, wie die anderen schlafen können. Er bringt es nicht fertig, trotz des Drills, der ihm die Brust sprengt, wenn sie vor glühend heißer Luft überquillt, die sie nicht zu regulieren vermag, der ihm die Muskeln zerreißt, wenn sie sich nicht mehr strecken wollen und es dennoch tun, trotz der Demütigungen durch den Stabsunteroffizier, der allem Anschein nach nie Kind gewesen ist, oder höchstens ein grausames Kind, nie achtzehn, sondern immer schon dreißig, er sagt, rennen, er sagt, hinlegen, er sagt, klettern, er sagt, schießen, er sagt, aufstehen, er sagt, ihr seid solche Waschlappen, das haltet ihr nie durch, ihr seid so blöd, ihr werdet alle sterben, das ist sein ganzer Wortschatz, niemand hat ihn je danke sagen hören oder gute Nacht, verrückt, dass es Wörter gibt, die so mancher ein Leben lang nicht über die Lippen bringt. Jacob weiß nicht mehr genau, wie lange sie hier schon eingepfercht sind, auf ihre Kennziffern reduziert, die quer durch das Lager hallen, fern von allem, was wie Leben anmutete, aber womöglich genauso wenig Leben war wie das, was sie gerade durchmachen, dreckig und schwitzend mitten im Ahaggar, fünfzig Tage vielleicht, fünfzig Tage und fünfzig Nächte, die ihr früheres Leben verwischten, sobald sie die Kuchen und gefüllten Paprika ihrer Mütter vertilgt hatten, an den ersten Abenden schon, um den scheußlichen Fraß wettzumachen, es war nichts mehr übrig, um Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden, der Geschmack ihrer Nahrung hatte sich verändert, die Gerüche von Koriander, Orangenblütenwasser, Kreuzkümmel, die Gerüche ihrer Angehörigen, die sich einst vermischten, hatten sich auf einmal verflüchtigt, wurden ersetzt durch die feucht-warmen Ausdünstungen ihrer Füße, den sauren Schweiß, der ihnen beim Appell aus den Achseln rann, die Rippen kitzelte bis zur Taille und sie für einen Moment vor Verblüffung erstarren ließ, über diese Lust, vergessenes Wort, vergessene Empfindung, wie alles, was verschwunden war, begraben unter dem zähen Fleisch, den zerkochten Kartoffeln, dem faden, fast salzlosen Reis. Was euch jetzt eröffnet wird, ist kein neues Kapitel, hatte der Stützpunktkommandant am ersten Tag mit metallener Stimme gesagt, sondern eine neue Welt. Regel Nr. 1, rede niemals als Erster, Regel Nr. 2, hinterfrage niemals einen Befehl, Regel Nr. 3, spiele dich ja nicht auf, Regel Nr. 4, sei immer pünktlich, auf die Sekunde genau, keine Zeit mehr zum Träumen, gar keine mehr, vielleicht ist das der Grund, warum Jacob die Augen nachts nicht zubekommt. Sie haben seinen Körper verändert, muskulöser, kräftiger gemacht, straff und geschmeidig zugleich, mit dieser Verwandlung hatte er gerechnet, er glaubte allerdings, dass sie seinen Kopf nicht würden ändern können, es wäre wie bei ihm zu Hause, seit er entdeckt hatte, dass niemand seine Gedanken erraten konnte, dass es da eine Stimme gab, die nur er allein hörte. Zunächst sagte sie, ich mag keinen Kardoneneintopf, Disteln fressen nur Maulesel, dann sagte sie, ich mag Tante Yvettes dämliche Grimassen nicht, wenn sie mit den Augen rollt wie eine verrückte Eule, ich mag das Gebrüll meines Vaters nicht, seine Hand, die er gegen alle erhebt, die ihn ärgern, die ihm die Stirn bieten, die es wagen, ihm zu widersprechen, ich mag die Angst nicht, die manchmal im Gesicht meiner Mutter aufblitzt, ich mag diese Wohnung nicht, die immer voll, immer laut ist, die Stimme fügte hinzu, ich mag die Schule lieber, Monsieur Bensaïd ist netter als Papa, Mademoiselle Rouvier ist hübscher als Mama, und nichts Schlimmes passierte, er wurde nicht bestraft, alles blieb in seinem Kopf, es waren stille Worte, er tat, was von ihm erwartet wurde, unterbrach die Erwachsenen nicht und widersprach ihnen schon gar nicht, half seiner Mutter bei jedem Marktgang, die Körbe zu tragen, folgte seinem Vater und Abraham in die Synagoge, ahmte ihre Gesten nach, manchmal strichen ihm Vater und Bruder über den Kopf und lobten, er sei ein guter Junge, er spielte mit dem Staub, der im Sonnenlicht tanzte, dachte über das nach, was das Auge wahrnimmt, die Hand jedoch niemals greifen kann.
Jacob tritt aus dem Zelt und reibt sich die Arme, um sie aufzuwärmen, zündet sich eine amerikanische Zigarette an, die Bonnin ihm geschenkt hat. Falls der Stabsunteroffizier oder der Feldwebel vorbeikommen, wird er so tun, als hätte er die Latrine aufgesucht. Die Schatten der Zelte drücken dem Lager schwarze Zeichen auf, ihre regelmäßige Anordnung löst in ihm Beklemmung aus, wie das Grabfeld eines Friedhofs, denkt er und gibt sich dann alle Mühe, das morbide Bild zu verscheuchen. Das sieht ihm gar nicht ähnlich, er ist nicht vom Tod besessen wie jene, die nur noch dieses Wort im Munde führen, bei ihm daheim, in seinem Wohnhaus, in seiner Stadt, es als dünne schwarze Schlange ausspucken, möge ich auf der Stelle tot umfallen, wenn ich lüge, mit ihm wechsle ich bis zu meinem Tod kein Wort mehr, du wirst meinen Tod auf dem Gewissen haben, das alles im Brustton der Überzeugung ausgesprochen, der abgeklärt wirken soll, aber von Groll erfüllt ist. Jacob hingegen befindet sich gern zwischen Himmel und Erde, auf der Brücke Sidi M'Cid, dort, wo die Zeit zu schweben scheint wie jener Übergang, während unten die Sekunden in den Wellen des Flusses dahinströmen, dann fühlt er sich zugleich reglos und in Bewegung, trunken vor Freude und vor Schrecken, in heilige Zeit getaucht, vielleicht ist das Gott, die Weltenzeit, so viel weitläufiger als seine Zeit. Er schwimmt auch gern im Olympiabad oder in den Schluchten, spannt und entspannt die Muskeln so lange, bis er sie nicht mehr spürt, bis er das Bewusstsein dafür verliert, dass er ein männlicher Körper in einer Ansammlung von Wasser ist, bis er selbst zu Wasser wird, Widerstandslosigkeit, Schaum. Natürlich ist er auch ins Schwimmbad gegangen, um sich an Mädchen heranzumachen, ihnen einen Créponné oder eine Limonade auszugeben oder auf das große Sprungbrett zu klettern und dabei die Blicke zu ignorieren, die sich auf ihn richteten, um das vollendete Bild eines menschlichen Pfeils im Anflug ja nicht zu versäumen, doch vor allem berauscht ihn das Gefühl des Wassers auf seiner Haut, genau wie die Musik, ob nun das Schlagen der Darbukas und der Gesang der Geigen bei arabisch-andalusischen Melodien oder die von Trompete, Klavier und Gitarre getragenen französischen Chansons. Er liebt die Wörter, wenn sie gesungen werden, es ist, als offenbarten sie dann eine tiefere, triftigere Bedeutung, er liebt die Töne und Rhythmen, die noch mehr preisgeben, ohne Umwege das Herz erreichen, den Bauch, ihn mitreißen und zum Tanzen bringen. Als Kind wiegte er sich bei Hochzeiten und Bar-Mizwas vor den Frauen, sie umringten ihn und klatschten übermütig lachend in die Hände, manche verfielen in Trance, wenn die eindringlichen Töne der Geigen, Ouds und Tamburine sich ihrer Körper bemächtigten, sie über Stunden ergriffen, ihnen verschwiegene Schmerzen und Sehnsüchte entlockten und sie erst wieder losließen, wenn sie sich ganz und gar verausgabt hatten, und dann glomm in den blicklosen Augen der Frauen nur noch ein dunkles Licht, das Jacob faszinierte. Erst später, nach seinem dreizehnten Geburtstag, gesellte er sich zu den Männern. Musik, Wasser, das sind seine beiden Elemente, sie fehlen ihm hier, im Lager, und da ist noch diese andere Leere in ihm, die er nicht benennen kann. Er möchte sich ein Gedicht in Erinnerung rufen, er hat so viele auswendig gelernt, aber seit sie im Ahaggar sind, als Soldaten der französischen Armee, ist das Gedicht-Gedächtnis ins Stocken geraten, er stolpert über ein Gewimmel von Wörtern, die einen wilden Reigen aufführen, dabei weiß er durchaus noch, wer sie verfasst hat, Hugo, Rimbaud, Baudelaire, er hat sogar ihre Gesichter vor Augen, aber nur ihre Gesichter, als könnten ihre Werke einfach vernichtet werden durch die Sonne des Ahaggar, die Befehle des Stabsunteroffiziers, die eisigen Nächte. Und das, obwohl Monsieur Baumert ihnen gesagt hatte, dass die Poesie allem standhält, Zeit, Krankheit, Armut, einem schwächelnden Gedächtnis, sie prägt sich in uns ein wie eine Kerbe, die man gern streichelt, doch hier fügen sich die Verse nicht ein, sie passen nicht zu den Uniformen, werden von den Waffen zum Schweigen gebracht und von dieser neuen Sprache mit den knappen, gebellten Sätzen, die nun die ihre ist. Monsieur Baumert hat sie angelogen oder sich getäuscht, die Stunden, die sie mit...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.