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»Wer Geschichten vom Krieg und vom Faschismus erzählt, erzählt Kriminalge schichten. Und was uns betrifft, kann das unversehens zu einer theologischen Kriminalgeschichte werden.« Mit diesen Sätzen ist eine der interessantesten und spannendsten Erzählungen charakterisiert, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Sie macht aufhorchen. Denn hier will ein Mann wie Dankwart Paul Zeller, Jahrgang 1924, nicht der Fülle von Lebenserinnerungen an die Zeit von Nationalsozialismus und Krieg die Überfülle hinzufügen. Hier will einer so erzählen, dass eine kritische Pointe auch für heute sichtbar wird. Nicht eigentlich um Vergangenheit geht es, sondern um Gegenwart und Zukunft.
Deshalb ist das Wort »theologisch« so treffend wie überraschend. Eine theologische Kriminalgeschichte? Das ist ungewöhnlich, reizt zum Lesen. Dass die Christentumsgeschichte als »Kriminalgeschichte« rekonstruiert werden kann, ist sattsambekannt. Wie viele Verbrechen wurden im Namen eines bestimmten Christentums in der Geschichte der Menschheit verübt! Aber der Autor des vorgelegten Romans will mehr. Er will auf die theologischen Ursachen des Verbrechens hinaus. Er will freilegen, dass es tief verwurzelte theologische Überzeugungen innerhalb der christlichen Kirchen waren, die zu monströsen Verbrechen fähig machten. Das Wort »Tora« steht dafür. Auch dies verbunden mit einer ungewöhnlichen Wortkombination: »Partisanen-Tora«.
Was ist das Geheimnis dieser Tora? Und warum kann mit dieser Tora ein theologisches Verbrechen verbunden sein? Dem Leser soll nichts an Spannung genommen werden. Nur soviel sei verraten: Mit Hilfe einer dramatischen Geschichte deckt der Verfasser die Wurzeln des Verbrechens von Christen an Juden auf. Und diese Geschichte wechselt zwischen Zeiten und Räumen, reicht vom Venedig des 17. Jahrhunderts über Partisanenkämpfe in Kroatien während des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart in Tübingen und seiner russischen Partnestadt Petrosawodsk. Nicht um rückwärtsgewandtes Beklagen oder Anklagen geht es. Das auch. Entscheidend aber geht es hier um eine Geschichte der Versöhnung, die in der Gegenwart spielt. Beides gehört für diesen Autor unlösbar zusammen: Einsicht in die monströse Verbrechens- und Schuldgeschichte von Christen und zugleich Taten der Versöhnung, zugleich ein Neuanfang. Das ist die entscheidende Pointe des Buches: Eingedenken der Vergangenheit lähmt nicht, sondern setzt neue Energien frei für einen Neuanfang zwischen Christen und Juden. Für Taten der Versöhnung ist es nie zu spät. Vergangenheitsbeschwörung ist kein Alibi für Nichtstun.
Erzählt wird die Geschichte einer Tora-Rolle. Sie steht im Zentrum der Versöhnungsarbeit von Tübinger Christen gegenüber einer jüdischen Gemeinde in Russland. Durch die Perestroika-Politik Michail Gorbatschows war es möglich geworden, dass eine deutsche und eine russische Stadt eine Städtepartnerschaft eingehen: Tübingen und Petrosawodsk. Dort gibt es eine kleine jüdische Gemeinde. Sie hat keine Synagoge, da sie sich eine Tora-Rolle nicht leisten kann. Zwei protestantische Theologen aus Tübingen unternehmen es, als Christen der jüdischen Gemeinde diese Rolle zu finanzieren und sie nach Petrosawodsk zu transferieren. Beschafft wird diese Rolle in London. Erstaunt registriert man auf ihr Zeichen, die auf das »Ghetto Nuovo«, das »Neue Ghetto« in Venedig, verweisen. Tübingen - London - Venedig: Eine dramatische Such-Geschichte entwickelt sich: Wie kommt diese Rolle nach London, nachdem sie sich vorher offensichtlich in Venedig befand? Welche Stationen hat sie durchlaufen? Welche Personen sind in ihre Geschichte verwickelt?
Alles Fiktion? Warum nicht? Gut erzählte Fiktion ist allemal besser als Kleben an miserabler Realität. Aber im Buch von Dankwart Paul Zeller verweben sich Lebensgeschichte und Romangeschichte. Zeller ist ein schwäbischer protestantischer Theologe von echtem Schrot und Korn, hat 30 Jahre im kirchlichen Dienst gewirkt, bevor er sich als Tübinger Pensionär Ende der 80er Jahre für die Städtepartnerschaft mit Petrosawodsk einsetzt und durch Russlandreisen konkrete Versöhnungsarbeit betreibt. Von Oktober 1942 bis Mai 1945 hatte er, damals 18 bis 21 Jahre alt, den Krieg auch an der russischen Front mitgemacht.
In Jahrzehnten selbstkritischen Nachdenkens hatte dieser protestantische Theo loge begriffen, dass die Israel-Vernichtung durch die deutschen Faschisten kein geschichtlicher Zufall war, sondern geistig vorbereitet wurde durch einen theologischen Antijudaismus, wie ihn jahrhunderte lang die christlichen Kirchen gehätschelt hatten, Martin Luther inklusive. Das Verbrechen an Juden ist somit nicht länger auf »die Nazis« abzuwälzen. Die kriminellen Energien haben theologische Ursachen: sind theologisch gespeist und gerechtfertigt worden. Dass die Shoa hinter dem »Rücken« der christlichen Kirchen geschehen konnte, dass Christen keinen nennenswerten öffentlichen Widerstand leisteten, weder gegen die menschenverachtenden »Rassen«-Gesetze zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, geschweige denn gegen die »Endlösung« der Judenfrage während des Zweiten Weltkriegs, hat tiefere Ursachen in der Geschichte der christlichen Kirchen selber. Israel war längst theologisch »vernichtet«, bevor es physisch aus gelöscht werden konnte - mit Christen als Zuschauerinnen und Zuschauern.
Eigene Erfahrungen spielen eine weichenstellende Rolle. Schon 2006 hatte Zeller in seinem autobiographischen Buch »Abschied von Hiob« auf eigene Erlebnisse aus den 30er und 40er Jahren verwiesen, die er damals noch nicht einordnen konnte. 1938 wird er als 14jähriger Augenzeuge des Synagogenbrandes in Stuttgart-Bad Cannstatt sowie von ersten Ausschreitungen gegenüber Juden. 1941 muss er mit ansehen, wie zwei Juden aus dem Haus seiner Pensionseltern in Cannstatt abgeholt werden. 1943 beobachtet er auf dem Güterbahnhof von Krakau die quälend langsame Vorbeifahrt eines mit Juden vollgepferchten Deportationszugs, ohne zu wissen, dass dieser Zug im 30 km entfernten Auschwitz enden wird. Damit nicht genug: Während des Theologiestudiums in Göttingen und Tübingen nach dem Krieg spielt das Alte Testament als Heilige Schrift für Juden, geschweige denn die Existenz des lebendigen Judentums als Anfrage an die Kirche kaum eine Rolle. Zeller kommt sich bezüglich »Altem Testament« und »Judentum« völlig »unterernährt« vor. Die evangelische Theologie der 50er und 60er Jahre hatte ebenso wie die katholische die Shoa noch nicht wirklich ernst genommen.
Aber die persönlichen Erlebnisse von 1938, 1941, 1943 und in 4-jähriger russischer Kriegsgefangenschaft bleiben im Unterbewussten des Pfarrers lebendig und kommen nach der Pensionierung, angestoßen auch durch die später berühmte Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985, vehement ins Bewusstsein. Neue Einsichten in die eigene Heilige Schrift gehen ihm auf. Wie andere beginnt auch Dankwart Paul Zeller den Israel-Traktat des Apostel Paulus im Römerbrief mit neuen Augen zu lesen: die Kapitel 9-11, wo vom ungekündigten Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel die Rede ist. Erste praktische Konsequenzen werden gezogen: Zum 50. Jahrestag der »Reichspogromnacht« 1988 beteiligt er sich an der ersten Berliner Gedenkveranstaltung unter dem Titel: »Nachwache - Erinnern - Nicht vergessen«. Mit Meditationen, Lesungen, Vorträgen, Musikbeiträgen, Bildbetrachtungen und jüdischen Totengebeten, gesungen vom Kantor aus der Synagoge, dauert sie viele Stunden bis Mitternacht. Ein Projekt, das im Laufe der Jahre von vielen Berliner Gemeinden übernommen wird.
Dankwart Paul Zeller also hat eine Geschichte zu erzählen, seine Geschichte. Und er erzählt sie gut. Gut im Sinne von anschaulich, engagiert, mitreißend, an rührend. Seine Geschichte von der »Partisanen-Tora« stellt so etwas wie die Summe seiner Lebenserfahrungen als Kirchenmann und Christenmensch dar im Blick auf ein neues Verhältnis von Christen und Juden. Sie ist sein Vermächtnis an kommende Generationen! Das Buch dieses fast 85-jährigen engagierten Bürgers und Christen sei deshalb gerade auch jüngeren Generationen empfohlen. Sie haben andere Erfahrungen als Pfarrer Zeller, stehen aber nichts desto weniger in derselben Verantwortung.
Denn das Verhältnis von Christen und Juden in Deutschland ist - bei allen Fort schritten - nach wie vor prekär, ist fragil. Es bedarf der sorgfältigen Pflege. Es bedarf der ständigen Wachheit, Sensibilität und Informiertheit. Es bedarf der ständigen Kommunikation und der andauernden Zusammenarbeit. Nicht zufällig lässt Zeller seine Geschichte von der »Partisanen-Tora« mit Sätzen enden, die eine Anspielung darauf enthalten, dass vor vielen Jahrhunderten in Venedig nach Ende der Pest eine der schönsten Barockkirchen der Stadt, Santa Maria de la Salute nicht zuletzt mit Hilfe jüdischer Gelder errichtet worden war - aus Dank barkeit für das Ende der Pest. Wo werden heute Kirchen errichtet, um Gott zu danken für das Ende...
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