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ÁGNES HELLER
Als ich Lukács kennenlernte, war ich achtzehn, als ich ihn zum letzten Mal im Spital besuchte, war ich 42 Jahre alt. Lukács' Persönlichkeit hat meine ganze Jugend, mein philosophisches Denken und für eine Weile auch meine Weltanschauung beeinflusst.
Meine persönliche Begegnung mit seinem Denken hat 1948 mit einem Kant-Seminar angefangen: Kritik der Urteilskraft. Weil Lukács sich nie auf die Sekundärliteratur stützte, ging es im Seminar um Text-Interpretationen. Wir wurden gleich in die Komplexität des denkenden Lesens eingeführt. Was mir besonders gefiel, war Lukács' Reaktion auf unsere manchmal ganz schlichten Interpretationen. Er hörte uns geduldig zu, sagte, «es gibt einen rationalen Kern in Ihrer Erörterung», bevor er uns anleitete, wie wir den Text verstehen könnten. Die Lukács-Schüler sind mit dem glücklichen Bewusstsein nach Hause gegangen, dass sie etwas wahrlich Kluges gesagt hatten. Seit ich an seinen Seminaren teilnahm, fing ich an, auch seine Bücher zu lesen, die damals in Ungarn veröffentlicht wurden. Besonders seine Essays über Goethe und über Balzac haben mich beeindruckt.
Als Andrei Shdanows agitatorische Reden, die für die Partei maßgebend waren, erschienen, sagte ich mir selbst, dass entweder er recht habe oder Lukács, und weil eben Lukács recht hat, soll man Shdanow vergessen. Später las ich begeistert Lukács' Essay über Thomas Mann, der auch einer meiner Lieblingsautoren war. So wählte ich in einem Seminar über Roman-Interpretationen Manns Zauberberg. Ich habe argumentiert, dass Mann Naptha in den Dialogen mit Settembrini recht gab, weil seine Argumente eben stärker waren. Lukács hat das mit roter Tinte als falsch zurückgewiesen, doch gab er mir die beste Bewertung, nämlich «ausgezeichnet».
Ich war ein freches Mädchen und konnte nie verschweigen, wenn ich mit etwas nicht einverstanden war. Lukács sagte einmal etwas über Sartre, was meiner Meinung nach überhaupt nicht stimmen konnte. Ich erwartete Blitz und Donner, doch Lukács antwortete: «Vielleicht haben Sie recht.» Da lernte ich etwas Wichtiges über seinen Charakter. Ihn langweilten die Leute, die mit ihm immer einverstanden waren. Er liebte Diskussion, deswegen liebte er es auch, wenn man ihm auf philosophischem Gebiet widersprach. Er war hochmütig und eben darum nicht eitel. Ich muss hinzufügen, dass dies nur für die Philosophie galt. In politischen Fragen hat er andere Meinungen erst viel später im Leben zu erdulden gelernt.
Als er wegen seiner «revisionistischen» Thesen nicht mehr an der Universität lehren konnte, musste ich ihn in seiner Wohnung besuchen, um ihn zu «konsultieren». Beim ersten Mal stand ich zehn Minuten vor seiner Wohnungstür, bevor ich klingelte. Doch ich habe gleich gesehen, dass es sich hier nicht um einen typischen Professor handelte, er verhielt sich eher wie ein alter Freund. Wir diskutierten damals besonders über meine Arbeit und meine theoretischen Pläne und Einstellungen. Er hat sich damals mit Ästhetik beschäftigt, deswegen dachte er, dass ich ihm auf diesem Feld folgen würde. Doch hatte ich eine unbewusste Aversion, in diesem strengen Sinne seine Schülerin zu sein. Ich habe mich stattdessen für die Ethik entschieden und das nie bereut. Lukács kritisierte meine Wahl nicht. Auch dann nicht, als ich angefangen hatte, Aristoteles zu studieren, obwohl er selbst sich nach seiner Jugend nicht mehr für die antike Philosophie interessierte.
Als man ihn nach der Revolution von 1956 nach Rumänien deportierte, haben wir über die Botschaft philosophische Briefe gewechselt. Besonders über Ethik, worüber ich damals nach meinem disziplinarischen Verfahren angefangen habe zu schreiben. Wir hatten keine Ahnung, wo Lukács war. Ich ging zur Rumänischen Botschaft und bat darum, meinen Brief an Lukács zu übermitteln. Man sagte mir zwar, dass Lukács nicht in Rumänien sei, doch nach zwei Wochen bekam ich seine Antwort. Er wollte mich überzeugen, über Lenins Ethik zu schreiben, aber das wollte ich nicht.
Später, als Lukács sein Buch über die Eigenart des Ästhetischen beendete, habe ich es noch im Manuskript gelesen. Einige Kapitel fand ich schwach, doch andere haben mich beeindruckt. Besonders die Gedanken über Alltagsdenken inspirierten mich. Mein Buch über Das Alltagsleben (1978) ist eine der Früchte meiner Auseinandersetzung mit Lukács' spätem Hauptwerk.
Bald nach seiner Rückkehr nach Ungarn bildete sich jener philosophische Kreis, den Lukács in einem Interview die «Budapester Schule» nannte. Seitdem ist dieser Kreis der persönlichen und philosophischen Freunde - Fehér, Márkus, Vajda, ich und Vertreter der noch jüngeren Generation - noch immer unter diesem Namen bekannt. Wir waren oft eingeladen, das Abendessen mit ihm zu verbringen. Lukács trank Schnaps, wir eher Wein. Er benutzte die Gelegenheit, uns einen neuen Essay oder ein Vorwort vorzulesen. Nach dem Tode seiner Frau und in der Isolation seiner Wohnung brauchte er ein Echo, was er von uns auch bekam. Meistens hat uns gefallen, was er schrieb, aber es kam auch vor, dass wir starke kritische Bemerkungen gegen eine seiner Thesen formulierten. Dies betraf vor allem seine Ontologie. Manchmal besuchte uns Lukács auch in unserer Wohnung. Doch es ging niemals um Privates, immer um theoretische Diskussionen. Wir waren streng bewacht, alles, was wir sagten, landete bei der Sicherheitspolizei, und so wussten wir, worüber man in einer Wohnung nicht sprechen konnte.
Es ist kein Geheimnis, dass wir - ich und der ganze Kreis meiner Freunde - trotz unserer Liebe zu ihm eine ganz andere politische Meinung und Richtung vertraten als er. Diese Meinungsverschiedenheit betraf auch die Philosophie.
Während Lukács seine Jugendwerke nicht mehr anerkannte, wurden die Essays seiner Jugend (mitsamt Geschichte und Klassenbewusstsein) für uns nicht nur wichtig, sondern in vielen Hinsichten auch wichtiger als die Bücher seiner bolschewistischen Periode. Er hat sein eigenes Urteil nicht verändert, er hat seine «existentielle Wahl» immer verteidigt, doch er hat auch akzeptiert, dass wir es nicht taten, sondern anders dachten. Dabei habe ich wieder etwas von ihm gelernt. Nicht nur die Professoren beeinflussen die Schüler, auch Schüler beeinflussen Professoren. Das habe ich, wie alle Dinge, die ich von ihm lernte, nie vergessen.
Ohne Lukács wäre ich nie Philosophin geworden. In der dogmatischen, provinziellen Welt des damaligen Ungarn wäre es mir ohne ihn sicher nicht eingefallen, etwas anderes als Naturwissenschaften zu studieren. Ich verdanke ihm mein Leben. Wenn es in Shakespeares Julius Cäsar heißt: «Was Menschen Übles tun, das überlebt sie; das Gute wird mit ihnen oft begraben», dann ging es mir genau umgekehrt: Das Gute, das ich von Lukács lernte, ist mir geblieben, das Schlechte konnte ich leicht hinter mir lassen.
Bevor Lukács unter dem Eindruck der Oktoberrevolution nach Budapest zurückkehrte, deponierte er am 7. November 1917 einen Holzkoffer voller Papiere in einem Safe der Deutschen Bank in Heidelberg. Als er 1972 zufällig gefunden wurde, kamen mehr als 1600 Briefe, Notizhefte, ein Tagebuch und Manuskripte, vor allem zur Ästhetik und Romantheorie, zum Vorschein. Lukács hatte sich niemals um diesen Koffer gekümmert, denn er hielt wenig von seinen «vormarxistischen» Werken, obwohl gerade sie ihn bekannt machten: seine Essaysammlung Die Seele und die Formen (1911) und die Abhandlung Die Theorie des Romans von 1916, die so unterschiedliche Bewunderer wie Thomas Mann, Max Weber, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno fand.
Die Handschrift der Theorie des Romans entstand vom Sommer 1914 bis Anfang 1915 unter dem Schock des Kriegs. Das erste Kapitel sollte ursprünglich den Titel Die Innerlichkeit und das Abenteuer tragen. In der berühmten Eingangspassage über die heile Welt der Antike gibt es einige Sofortkorrekturen («abenteuerlich» statt «abwechslungsreich»), ansonsten entspricht sie der Druckfassung: «Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie, und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne; sie scheiden sich scharf, die Welt und das Ich, das Licht und das Feuer, und werden doch niemals einander für immer fremd; denn Feuer ist die Seele eines jeden Lichts, und in Licht kleidet sich ein jedes Feuer.»
Für Lukács hatte der Krieg die bürgerliche Geschichtsepoche als «Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit» enthüllt. Er verstand die Romanform als Versuch, die verlorene «Totalität» ästhetisch zu...
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