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Wenn der Nordostwind blies wie an diesem Sonntag Anfang September 2008, fühlte er sich ausgesetzt, nackt. Er war durchgefroren, obwohl es eigentlich noch Sommer war. Spätsommer. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass seine Frau neben ihm auf der Strassenseite ging, die der Bise zugewandt war. Sie bot ihm keinen Schutz vor deren Zugriff. Heute schon gar nicht, dachte er. Sie waren zerstritten, was ihn ungleich mehr quälte als sie. Ihr machte eine vorübergehende Disharmonie wenig aus, im Gegenteil. Grundsatzdiskussionen waren für sie das Salz in der Suppe, der Garant für eine stabile Beziehung. Sie war es denn auch meistens, die das letzte Wort hatte, während er hilflos nach Argumenten suchte, schliesslich resignierte, entweder in dumpfes Schweigen versank oder türknallend den Schauplatz des Duells verliess. Es gab nur ein Thema, bei dem sie sich nicht auf ihren Intellekt abstützte, sondern allein auf ihre Gefühle: ihre Familie.
Um ihre Vereisung zum Schmelzen zu bringen, hatte er sie scheinbar zufällig hierhin an den Quai du Mont Blanc dirigiert, wo sie sich kennengelernt hatten. Sie war ihm zwar kommentarlos gefolgt, aber mit diesem kleinen wissenden und auch verächtlichen Lächeln auf den Lippen, auf das er keine Antwort mehr fand, seit sie ihm bei seinem ersten Versuch, auf ihre Verstimmung zu reagieren, angeherrscht hatte: «Lächle nicht so falsch!»
Er war sich dabei ertappt vorgekommen. Sie hatte ja recht. Es war nicht ein Lächeln, das zu dem selbstbewussten Mann passte, der nicht nur in ihrem erlesenen Freundeskreis wegen seines Charmes und seiner souveränen Umgangsformen beliebt und geschätzt war. Es war ein Lächeln, das von weither kam.
Eine Unzahl kleiner Wellenkämme mit messerscharfen Spitzen liessen den Genfersee wie einen Nagelteppich aussehen, den die Polizei ausgerollt hatte, um die Autofahrt eines flüchtigen Verbrechers zu bremsen. Nur die Fontäne des Jet d’eau durchbohrte die scheinbar hermetische Oberfläche des Sees und schoss steil himmelwärts. Aber sie kam dort nicht an. Die Bise kappte ihre Spitze, zerfledderte sie. Den Mann im schwarzen Regenmantel, der, das Monument Brunswick im Rücken, auf der Plattform stand und auf den See hinausschaute, schien dieses Naturschauspiel zu faszinieren. Er hatte seinen dunkelgrauen Filzhut tief in die Stirn gezogen.
Benjamin Lorant wandte sich ab. Es war wohl kein Zufall, dass dieser Fremde seit Tagen immer wieder in seiner Nähe auftauchte, manchmal nur schemenhaft, dann wieder folgte er ihm wie ein treuer Hund, hielt aber immer so viel Abstand, dass er nicht angesprochen werden konnte.
«Mir ist kalt, Sela», sagte Lorant zu seiner Frau und blieb stehen. «Ich möchte jetzt einen heissen Tee.» Die Abkürzung ihres Vornamens war in einem intimen Augenblick entstanden, als er ihren Namen hauchen wollte, sich dabei aber plötzlich bewusst wurde, dass das spitze «I» in der ersten Silbe, die Harmonie ihres Zusammenseins, diese Symbiose, die ihm so wichtig war, wie mit einem spitzen Messer durchtrennen könnte.
«Jetzt und hier?», fragte Gisela scheinbar erstaunt und zeigte über ihre rechte Schulter zum Eingang des Hotels ‹Beau Rivage›.
Sie wirkte verunsichert. War es seine Aufforderung, in diesem erinnerungsbeladenen Nobelhotel einzukehren, die sie irritiert hatte, oder war ihr aufgefallen, dass er in seiner spontanen Reaktion den Schlussvokal ihres Kosenamens verformt, gepresst ausgesprochen hatte?
«Warum nicht? Ist jetzt nicht der Augenblick, schöne Erinnerungen zu wecken?»
Es war der schwache Versuch eines Friedensangebots, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass es dauern würde, bis sie sein Angebot zur Versöhnung annehmen würde. Jetzt blieb auch sie stehen. Sie wandte sich um und schaute ihn spöttisch an. Dachte sie, dass es wohl in diesem Augenblick nicht angezeigt war, bei Kuchen und Tee ein Tête-à-Tête zu zelebrieren, wie damals, als sie sich vor beinahe zwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet waren?
Mit Zeigefinger und Daumen zupfte er an seinem rechten Ohrläppchen. Ein Tick. Vielleicht hatte es mit den Erinnerungen an seine früheste Kindheit zu tun, als ihn seine Grossmutter jeweils kurz und heftig ins Ohrläppchen gebissen hatte, wenn er auf ihren Knien gesessen und sie ihn geherzt und gedrückt hatte.
Das Hotel ‹Beau Rivage› war für Lorant ein magischer Ort, der ihn aus verschiedenen Gründen immer wieder anzog. In erster Linie verknüpfte sich dieses Hotel mit den Erinnerungen an Uwe Barschel, den ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der hier im Zimmer 317 tot in der Badewanne aufgefunden worden war. Bis heute waren die Umstände, die zu seinem Tod geführt hatten, nie ganz aufgeklärt worden. Am 11. Oktober 1987, an Barschels Todestag, war es gewesen, als der Entscheid gefallen war: Benjamin Lorant würde nach Genf ziehen. Und im Hotel, in dem Barschel gestorben war, hatte er drei Jahre später, ebenfalls an einem 11. Oktober, mit Gisela, die er, nach Plan, bald nach seiner Ankunft kennengelernt hatte, Hochzeit gefeiert. Allerdings hatte an dieser Hochzeit niemand aus seiner Familie teilgenommen, aus welcher Familie auch immer! Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Genf, im November 1988, hatte ihm ein anonymer Anrufer mitgeteilt, dass sein Vater gestorben sei.
«Welcher Vater?», hatte er gefragt. «Und wann ist er gestorben?»
Aber auf diese Fragen hatte er keine Antwort erhalten. Der Anrufer hatte aufgelegt. Drei Tage später hatte er in seiner Post einen Brief mit einer undatierten Todesanzeige gefunden. Es waren die ehemaligen Lehrerkollegen von Karl Blume, die sie verfasst hatten. Sie bedauerten den unerwarteten Tod ihres Freundes und Kollegen im Ruhestand. Ein Todesdatum war nicht vermerkt. Die Trauerfeier habe bereits im engsten Freundeskreis auf dem Leipziger Ostfriedhof stattgefunden. Und in der rechten oberen Ecke der kargen Anzeige hatte kursiv gesetzt ein Merksatz des Demokrit gestanden: Es werden mehr Leute durch Schulung, als durch natürliche Begabung tüchtig.
Diesen Satz hatte sein Vater mit Tusche auf Pergament festgehalten und ihm goldgerahmt zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt. Hatte er etwa damit früher auch im Lehrerzimmer hausiert, wo er bei seinen Kollegen ebenfalls eine dominierende Position eingenommen hatte? Ein Leittier!
Benjamin Lorant wunderte sich über die Gelassenheit, mit der er die Nachricht vom Tod seines Vaters entgegengenommen hatte. Als ob es sich um ein Stück Literatur handelte, um Fiktion, nicht um Wirklichkeit. Letztlich folgenlos. Aber vielleicht hing dies auch damit zusammen, dass er seinen Vater in manchem als Kunstfigur erlebt hatte, einerseits als Regisseur in einem Projekt, das die Entwicklung seines Sohnes zum Gesamtkunstwerk zum Ziel hatte, andererseits in der Rolle des Liebhabers, der sich immer wieder in bildungsträchtige Bereiche verstieg, in die ihm seine in dieser Hinsicht eher unbedarfte Geliebte nicht zu folgen vermochte. Und weil Benjamin ja keine Möglichkeit hatte, Näheres über das Sterben seines Vaters zu erfahren, ohne sich selbst auszuliefern, beliess er ihn in diesem fiktionalen Bereich. Trotzdem begleitete ihn der Vater, welcher auch immer, noch heute wie ein Schatten.
Er hob den Blick. Oben auf dem Dach des monumentalen Hotelkomplexes flatterte die Schweizer Fahne im steifen Nordostwind. Es war nicht seine Flagge, obwohl er immer wieder einmal Heimatgefühle verspürte, wenn er das weisse Kreuz mit den satten Balken auf blutrotem Grund betrachtete. Unmittelbar unter der Flagge befand sich das Zimmer, in dem er mit Gisela die Hochzeitsnacht verbrachte, während im Hotelrestaurant im Erdgeschoss ihre Familie weitergefeiert hatte. Aber schliesslich hatte ihr Vater das Essen ja auch bezahlt. Dass von seiner Familie niemand an dieser Feier teilgenommen hatte, schien Gisela nicht wirklich bedauert zu haben. Er hatte ihr ja gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft von seiner kaum mehr existenten Familie erzählt, dass seine Eltern bei einem Autounfall in der Nähe von Pretoria ums Leben gekommen waren, Onkel und Tanten in der ganzen Welt verstreut seien. Und die einzige offizielle Blutsverwandte, Benjamins Schwester Peggy, die in Kapstadt als Buchhändlerin arbeitete, musste ihre Zusage wegen einer akuten Blinddarmentzündung zurücknehmen. Entsprechende Briefe aus Südafrika waren nie eingetroffen, und Gisela hatte diese Entschuldigung, die ihr Benjamin mündlich mitgeteilt hatte, nicht geglaubt und ihn einmal mehr gefragt, ob denn ihr geschwisterliches Verhältnis so oberflächlich sei, dass seine Schwester es nicht für nötig befände, an der Hochzeitsfeier ihres Bruders teilzunehmen. Benjamin hatte nur stumm mit den Achseln gezuckt. Was hätte er auch antworten können? Er hatte sich seine Schwester in Kapstadt vorzustellen versucht, hatte probeweise verschiedene Standorte für sie geprüft, an denen er sie auftreten liess: in ihrer Buchhandlung ganz oben auf der Leiter vor dem Bücherregal, wo sie berufshalber hinpasste, auf einem Barhocker am Tresen, wo sie sich schon wegen ihrer langen wohlgeformten Beine gut ausnehmen würde. Und er inszenierte auch immer wieder einen...
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