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Die scharfe Silhouette des Reiters im Gegenlicht liess ihn an Wallenstein denken, obwohl die Haltung des Mannes, der Minuten vorher wie ein Phantom hinter einer Bodenwelle aufgetaucht war und dann genau vor dem feuerroten Ball der untergehenden Wintersonne die lockeren Zügel auf Magenhöhe angezogen hatte, ohne Straffheit, ohne Klasse war. Dass Sembritzki, der vielleicht hundert Meter von diesem fremden Reiter entfernt am östlichen Rand dieses bevorzugten Galoppgeländes der Berner Freizeitreiter seinen Welf zum Stehen gebracht hatte, sich nicht brüsk abwandte, mit einer scharfen Volte den Phantomreiter aus der Sonne drängte, hing damit zusammen, dass ihn gerade die eigenartige Asynchronität des Gemäldes irritierte, das einen Reiter vor untergehender Sonne darstellte. Oder war es Misstrauen? Meldete sich da plötzlich ein längst abgestumpftes Gefühl wieder? Instinkt?
Alles Amateurhafte, Unfertige war Sembritzki schon immer verdächtig gewesen. Und der Mann auf dem Pferd vor der sinkenden Sonne, deren obere Peripherie jetzt die Schulterpartie anschnitt, war kein guter Reiter, dies mindestens nicht nach westeuropäischen Massstäben. Sembritzki zuckte zusammen. Da hatte ihn ein Stichwort mitten ins Herz getroffen.
Er schnalzte mit der Zunge, gab Schenkeldruck, und Welf galoppierte auf den feurigen Sonnenball zu. Sein Atem schoss in weissen Wolken aus seinen Nüstern. Sein Rücken dampfte. Und Sembritzki fühlte die feuchtkalte Luft im Gesicht, die aus dem tiefen Geläuf stieg. Einen Meter vor dem Reiterstandbild brachte er Welf zum Stehen. Dann musterte er den andern mit zusammengekniffenen Augen. Aber der glutrote Abendschein blendete ihn. Da liessen sich die Züge des Fremden nicht präzise ausmachen. Sembritzki war sich trotzdem sicher, dass er den Mann nicht kannte, ihn nie zuvor gesehen hatte.
«Gehen Sie mir aus der Sonne, Kamerad!», sagte Sembritzki lachend.
«Ich stehe Ihnen nicht mehr lange vor der Sonne. Da ist schon der Abendstern!»
Der andere zeigte, ohne sich umzuwenden, über die Schulter, wo Venus im fahlen nebligen Blau glitzerte.
Sembritzki riss Welf scharf nach links, parierte dann dessen Galoppsprung, brachte ihn wieder auf Westkurs und schoss am andern vorbei unter der funkelnden Venus auf das nahe Wäldchen zu.
Abendstern! So drückte sich nur ein Laie aus. Und der Fremde mit viel Sinn für theatralische Auftritte hatte sich in zweifacher Hinsicht als Amateur erwiesen: als Reiter und als Astronom. Doch der Gedanke, dass der Phantomreiter in anderer Hinsicht keineswegs unprofessionell sein mochte, liess Sembritzki nicht los.
Die Irritation verliess ihn erst wieder, als er in der Bibliothek seiner Wohnung sass, unten an der Aare, diesem grün reissenden Fluss, der Bern wie eine Girlande umhalste. In diesem Haus, wo Casanova sich einst in einer völlig verpatzten Liebesnacht mit rotbackigen Bernerinnen herumgequält hatte, lebte er nun schon über drei Jahre. Und hier besann er sich, durch die Begegnung auf dem abendlichen Ausritt in Bewegung gesetzt, auf scheinbar längst versunkene Zeiten. Wenn Sembritzki jetzt auch auf die Kante des gewaltigen Schreibtischs starrte, den er erst nach hartnäckigem Feilschen einem österreichischen Kollegen hatte abkaufen können, gelang es ihm nicht, all das abzuschütteln, was ihn so bedrängte. Im Gegenteil. Da vermengten sich sein Beruf als Antiquar, die Begegnung mit dem Phantomreiter, die Sätze, die vor seinen Augen tanzten, zu einem unentwirrbaren Knäuel. Zum wievielten Male wohl las er:
Geburtsstundenbuch wine eines jetlichen Menschens Natur und Eigenschafft / sampe allerley zufählen / ausz den gewissen Leuffen deren Gestirn / nach rechter warhafftiger und grundtlicher ahrt der Gestirnkunst / mit geringer müh ausgereitet / und derselb vor züfelligem Unfahl gewarnet.
Noch nie hatten ihn die Sätze des mittelalterlichen Geburtsstundenbuchs so getroffen wie gerade heute. Er fühlte sich bedroht. Und die Sterne aus versunkenen Jahrhunderten boten ihm ihre Hilfe an. 1570 hatte der Schweizer Pegius dieses erste astrologische Lehrbuch in deutscher Sprache herausgegeben, und der Gedanke, dass es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit in der Bibliothek des sternenhörigen Wallenstein befunden hatte, bedrängte Sembritzki in diesem Augenblick wie nie zuvor. Wallenstein hatte sich im Umweg über die Gestirne über den Charakter seiner Feinde in fernen Landen ins Bild zu setzen versucht, hatte die Zukunft, seine strategischen Überlegungen von der Interpretation seiner Astrologen abhängig gemacht. Da kam ein Satz von ganz weit her zurück, dem Sembritzki schon so oft nachgeträumt hatte: «Die Sterne sind eine Art verkürzter Nachrichtendienst.»
Aber Sembritzki, der Agent, der sich der alten Schule verpflichtet fühlte, wusste auch, dass Wallenstein im Grunde genommen ein rational denkender Mensch gewesen war, der sich zwar von den Sternen lenken liess, sich bei seinen Entscheidungen doch letztlich auf seinen Instinkt, auf seine Erfahrungen, auf den gesunden Menschenverstand verlassen hatte. Und dieser gesunde Menschenverstand, die Schärfe seines geschulten Instinkts, machte jetzt denn auch Sembritzki stutzig. Wo war das kleine lila Buchzeichen, das er am Vormittag dort zwischen die Seiten gelegt hatte, wo Pegius die zu seiner Zeit bekannten sieben Planeten, die sieben Häuser dargestellt hatte? Sembritzki wusste genau, dass er dieses Buchzeichen nicht entfernt hatte. Und er wusste auch, dass er die Lage des gewichtigen Bandes auf seinem Schreibtisch nicht verändert hatte. Als er dann das Buchzeichen zwei Seiten weiter hinten fand, bemerkte er auch die andern kaum wahrnehmbaren Veränderungen an seinem Arbeitsplatz. Da lag sein privates Telefonbuch, mit all den Adressen, die ihm wichtig waren, nicht mehr genau bündig zur linken oberen Schreibtischkante. Seine Bekannten belächelten die pedantische Genauigkeit, mit der er all seine Dinge zu ordnen pflegte, zwar als Tick. Aber es war mehr als das. Im Verlauf der Jahre hatte er sich angewöhnt, alle Dinge, mit denen er lebte, immer am selben Ort und in einer bestimmten Lage zu platzieren, damit ihm sofort auffiel, wenn sich jemand an seinen Sachen zu schaffen gemacht hatte. Sembritzki konnte sich auf sein fotografisches Gedächtnis verlassen. Doch was konnte denn bei ihm überhaupt noch gefunden werden?
Sembritzki lächelte. Seit über drei Jahren wohnte er hier unten am Fluss. Seit über drei Jahren gab es keine Papiere mehr, für die sich jemand interessieren mochte. Sembritzki beschäftigte sich jetzt vor allem mit Astrologie. Und am Abend brütete er oft über dem mittelalterlichen Planetensystem, über den gewaltigen Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter oder Saturn. Und immer, wenn er so dasass, tauchten hinter den Gestirnen verschwommene Gesichter auf von Männern und Frauen, die in seinem jetzigen Leben nichts mehr zu suchen hatten. Manchmal war da die Erinnerung an ein kleines Stück Papier, das unter der hintersten Bank einer düsteren Kirche steckte. Manchmal kamen zwei, drei Worte zurück, die in tschechischer Sprache geflüstert wurden: eine Ortsbezeichnung, ein Termin. Auf einem Bierdeckel standen sie. Oder auf einer Pissoirwand, auf dem Deckelinnern einer Zigarettenschachtel. Und in solchen Augenblicken kam ihm auch immer der Titel eines Romans von Alexander Kliment in den Sinn: Die Langeweile in Böhmen. Er dachte an einen abendlichen Gang über die Prager Karlsbrücke zur Kleinseite hinüber, und immer wieder kamen Sätze in ihm hoch, die er schon auswendig zitieren konnte: «Da ich unsere heimische Landschaft kreuz und quer durchstreift, durchdacht und durchlebt hatte, trat ich für sie ein. Sie wird geschändet. Sie verkommt. Stirbt. Wird gemein und gefühllos ausgeblutet.» Nicht wörtlich mochte er diese Sätze nehmen. Sondern als Ausdruck seiner Sehnsucht nach diesem Stück Erde.
Sembritzki stand auf und ging zum südlichen Fenster seines Arbeitszimmers, von dem aus er auf den dunklen Fluss hinunterschauen konnte. Das Rauschen des Wassers, das sich etwas weiter unten am kleinen Wehr brach, drang durch das geschlossene Fenster bis zu ihm herauf. «Böhmen ist ein kleines Land mitten in Europa, und wer dort wohnt, kann nirgendwohin mehr ausweichen, um neu zu beginnen.» Und wie immer, wenn sich Sembritzki an diese Sätze erinnerte, wurde ihm klar, dass er diesem Land mitten in Europa verfallen war. Dass er sich aus dieser Vergangenheit nie mehr würde lösen können. Und er wusste auch, wenn er den Blick ins Zimmer zurückwarf, wo unter dem scharfen Licht eines Spots der gewaltige Band des Martin Pegius lag, dass gerade dieses Buch gewissermassen Bindeglied zu dieser versunkenen Welt war, zu Prag, zu Böhmen: «Die Landschaft und ich, wir sind ineinander aufgegangen, das ist meine Welt, mein Schicksal, meine Geschichte, meine Sprache, mein Gedanke, mein Projekt, man mag es nennen, wie man will; so ist es, und ich gehöre dazu.»
So hatte Kliement geschrieben. Und vieles von dem konnte Sembritzki, der Wahlschweizer mit masurischen Vorfahren, der mit deutschem Pass in der Schweizer Hauptstadt wohnte und den Beruf des Antiquars mit Überzeugung betrieb, auch für sich beanspruchen. Böhmen war eben doch mehr als...
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