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'Das Licht der Welt erblicken' ist eine gängige, bisweilen aber beschönigende Metapher für den Akt des Geborenwerdens, und für Carl Friedrich May, der am 25. Februar 1842 gegen 10 Uhr abends in einem kleinen Weberhäuschen in der Ernstthaler Niedergasse 122 auf die Welt kam, wird sie sicher nicht gegolten haben, denn es war dunkler Winter und das Licht der Welt erschöpfte sich in ein, zwei blakenden Öllampen und Kerzen. Auch der kleine Ort Ernstthal, an den Nordausläufern des Erzgebirges gelegen, war für den Neugeborenen alles andere als ein Glücksfall, lag er doch in einem herabgewirtschafteten Rest deutscher Kleinstaaterei, der Herrschaft Schönburg, und war einer "jener verlorenen menschlichen Siedlungsplätze [...] deren Bewohner aber mit stetigem Fleiß das Vermögen der Gesellschaft mehren helfen, ohne jedoch an diesem Reichtum selbst teilzuhaben: ein Wohnplatz der Bedürftigen, der armen Leute."55 Es scheint, dass der kleine Karl bei seiner Geburt einen schwächlichen, wenig widerstandsfähigen Eindruck machte, denn keine 24 Stunden später, am 26. Februar, wurde er in der unweit gelegenen Kirche St. Trinitatis getauft - zumindest die jenseitige Welt sollte ihn willkommen heißen. Dort hielten sich schon drei zuvor geborene Geschwister auf, doch Karl überlebte, auch wenn eine Weile unklar blieb, ob er ihnen nicht doch noch würde folgen müssen. Denn schon kurz nach der Geburt, so May in seiner Autobiografie, erkrankte er schwer, verlor das Augenlicht und siechte vier volle Jahre dahin. Ursache war nicht etwa eine angeborene, eine ererbte Störung, sondern der Umstand "der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei"56, denen das Kind zum Opfer fiel. Als er schließlich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte das Augenlicht wieder, "und ich wurde ein höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der es mit jedem anderen aufnehmen konnte"57 - young Shatterhand also.
Karl Mays Geburtshaus in Ernstthal
Da die Erkrankung folgenlos ausheilte, hätte May sie in seiner Erinnerung als Episode ablegen können, als vielleicht ungewöhnliche, letztlich aber glücklich und vollständig überwundene Kinderkrankheit, wie andere später über ihren Keuchhusten erzählen oder ein juckendes Ekzem, die sie einst als Kinder quälten. Doch May gab in seinem Lebensrückblick der frühkindlichen Erkrankung eine qualitativ überhöhte Bedeutung, sie wurde zu einem Schicksalsschlag, der seinen weiteren Lebensweg wie auch seine Persönlichkeitsentwicklung entscheidend bestimmte. Vor allem in der zeitweiligen Erblindung sah er den zentralen Zugang zum Verständnis seiner Person und seines Werks, seines Gespaltenseins zwischen Innen- und Außenwelt, und somit sollte sie seine später manifest gewordene Psychopathie legitimieren: "Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu kritisieren, sonst keiner!"58 Für Mays apologetisches Arsenal sicher eine wichtige Waffe, geradezu eine Totschlagkeule, denn keiner seiner Kritiker wird diesen Ansprüchen genügt haben - genauso übrigens wie keiner seiner Leser und Bewunderer, denen mangels eigener überstandener Blindheit daher ebenfalls der Weg ins Innere seines Gesamtwerks verwehrt war.
Doch neu oder auch nur originell war die Argumentation, die Waffe nicht, in abgewandelter Form hatte er sie schon einmal Jahre zuvor benutzt, als sich in Frankfurt ein Feuilletonredakteur namens Fedor Mamroth in mehreren Artikeln über seine Erzählungen mokierte und ihm öffentlich den guten Rat gab, er möge darauf verzichten, "Jules Verne und Apostel Paulus in einer Person darzustellen [...] und dabei, wenn möglich, seinen Stil zu verbessern."59 In einer seitenlangen Replik verwies May auf eine Artikelserie namens Geographische Predigten, die er einst 1875 in der kurzlebigen Zeitschrift Schacht und Hütte veröffentlicht hatte,60 und bezeichnete diese längst verschollenen Texte als Schlüssel zum Verständnis seines literarischen Wirkens: "...wer die 'Geographischen Predigten' nicht gelesen hat, ist vollständig unfähig, meine Voraussetzungen und Ziele zu kennen, meine Art und Weise zu begreifen, mein Denken und Wollen zu verstehen und ein gerechtes Urteil über meine Werke zu fällen; die Herren von der Kritik haben aber, wie es scheint, nicht die mindeste Notiz von ihnen genommen."61 Zu offensichtlich war hier Mays taktische Absicht, seinen Kritikern jegliche Berechtigung zur Kritik abzusprechen, so folgte auch keiner seiner späteren Biografen dieser Argumentation und forderte etwa, um das "Denken und Wollen" Mays zu verstehen, sei die Lektüre der Geographischen Predigten unabdingbare Voraussetzung. Seine Schilderung einer frühkindlichen Blindheit aber ist lange Zeit nicht hinterfragt worden und auch heute immer noch fester Bestandteil zahlreicher Lebensbeschreibungen; mehr noch, ihre vorgebliche Auswirkung auf Mays - auch pathologische - Persönlichkeitsentwicklung und literarischen Sonderweg wurde oft ohne Diskussionen übernommen. Die überbordende Fantasie Mays, sein Hang zum Imaginären, die außerordentliche Kraft der Autosuggestion, sein recht eigenwilliger Wahrheitsbegriff - all dies und noch viel mehr wurde demnach durch die Erblindung begründet oder zumindest entscheidend geprägt. Nach Heinz Stolte, der einst die erste Dissertation zu May vorlegte, formte die Blindheit "das Gesetz seines geistigen Lebens".62 Hainer Plaul sah in der übermäßigen Verzärtelung und Verwöhnung, die das blinde Kind von Mutter und Großmutter erfahren haben musste, den Ausgangspunkt einer narzisstisch-neurotischen Fehlentwicklung Mays.63 Für Claus Roxin zählte die Erblindung zu den Ursachen einer Reifeverzögerung, die dann die spätere "gleichwohl erhebliche Kriminalität des jungen May"64 kausal bedingt hat. Hans Wollschläger nahm die Blindheit als Grundbedingung seiner postulierten Urszene, in der das blinde Kind mit eigenen Ohren anhören musste, wie seine Mutter einen Geliebten hatte: "Mutterschuld und Blindheit: diese beiden Erinnerungshülsen blieben für May zeitlebens miteinander verlötet."65 Und der Theologe Hermann Wohlgschaft sah in ihr und in ihrer Heilung gar eine Parallele zum biblischen Geschehen: Mays "Blindheit wurde - in einem langen Heilungsprozeß - verwandelt in tieferes Sehen".66
Einzig Arno Schmidt, der die Selbstdarstellung Mays für objektiv verlogen und sogar in Einzelheiten verdächtig hielt, blieb der tradierten Blindheitserzählung gegenüber skeptisch: "...falls das stimmt; das 'autos epha' ist hier verdächtiger denn sonstirgendwo".67 Durch seine Studie Sitara und der Weg dorthin, in der er provokativ Mays Romane als ein "unerschöpfliches Chaos von Kitsch & Absurditäten" abklassifizierte, war er bei den meisten damaligen May-Forschern zu einer persona non grata avanciert und seine Warnung blieb unbeachtet, auch von Hans Wollschläger, mit dem er jahrelang eine vertrauensvolle und intensive Korrespondenz führte. So wurde allmählich die frühkindliche Blindheit in zahlreichen biografischen Darstellungen zu einem Axiom, ohne dass das Fundament, auf dem das Deutungsgebäude errichtet war, auf seine Tragfähigkeit geprüft wurde.
Im Vergleich zu anderen recht detailreichen Schilderungen seiner Kindheit sind Mays Angaben zu Natur und Therapie der Blindheitsphase recht mager und unergiebig, lediglich zur Genese betont er ausdrücklich, dass diese Erblindung nicht eine Folge der Vererbung, sprich einer genetisch bedingten physischen Minderwertigkeit, war. Diese prononcierte Zurückweisung einer angeborenen Erkrankung ist nur aus dem Kontext der Auseinandersetzung Mays mit seinem Hauptgegner Rudolf Lebius zu verstehen. Lebius, der May publizistisch und juristisch mit einem geradezu pathologischen Hass verfolgte, hatte kurioserweise als Erster einen Zusammenhang zwischen Mays frühkindlicher Erkrankung und seinem späteren schriftstellerischen Werk postuliert. In einem Artikel behauptete er, "daß man bei May auch die Ursache des atavistischen Charakters seiner Schriften feststellen kann. Er machte im frühesten Alter eine schwere chronische Krankheit durch, die offenbar kulturhemmend gewirkt hat."68 Zu den Kennzeichen eines solchen atavistischen Charakters gehörten laut Lebius u.a. ein "Defekt des Schamgefühls, der Ehrlichkeit, des Mitleids [...] die Verquickung von Blutdurst und Wollust" und vieles mehr; beleidigende Eigenschaften also, die May zu Recht abstritt. In seiner Selbstbiografie antwortete er: "Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten, körperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige und gesunde Naturen [...] Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen ist eine Böswilligkeit, die ich mir verbitten muss."69 Ursache seiner Erkrankung plus anschließender Blindheit waren daher äußere Einflüsse einschließlich der "verderblichen Medikasterei"; ob es hier die hilflosen Eltern waren, ein obskurer Heilkundler oder der überforderte Stadtphysikus, die an dem Knaben pfuschten, ließ May offen. Die Blindheit allerdings, in der das Kind aufwuchs, war allumfassend und dauernd:
"Ich sah nichts. Es gab für mich weder Gestalten noch Formen, weder...
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