Schweitzer Fachinformationen
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»Hanging On The Telephone« (Blondie).
Samstag, 16. Februar. Die Gassenküche an der Markgräflerstraße wird erst morgen um 09:30 Uhr zum Sonntagsbrunch wieder öffnen und regulär am Montag, 07:30 Uhr. Ebenso sinnlos wäre es, heute beim »Schwarzen Peter« aufzukreuzen, dem Verein für Gassenarbeit. Sie kümmern sich um die Menschen, »deren Lebensmittelpunkt im öffentlichen Raum ist«. Das klingt fast schön. Unter der Büronummer vor Montag, 14:00 Uhr, bei dieser Organisation keine Chance. Aber natürlich enthalten unsere Verzeichnisse die Namen und Koordinaten der Verantwortlichen. Das Kriko ruft die privaten Nummern an. Combox, Combox, momentan nicht erreichbar, »hinterlassen Sie bitte eine Nachricht. Danach legen Sie auf oder bestätigen Sie mit der Rautentaste. - Piiiieeeeep«.
Als Erster ruft Ralph Cecchetto vom Schwarzen Peter zurück. Freddie Dominguez nimmt den Anruf des Gassenarbeiters entgegen. Cecchetto kennt die meisten, die auf der Straße leben. Nur die Durchreisenden nicht. Er hilft auch anderen Menschen in prekärer Lage.
Dominguez teilt ihm mit, dass Karlheinz Locher tot ist.
Schweigen im Telefon. Klar weiß Cecchetto, wer das ist. Zuletzt habe er ihn vor »etwa einer Woche« gesehen. »Kein auffälliger Mann«, sagt er. Damit meine er, Locher sei kein »Polytoxikomann« (so schreibt es Dominguez mit) in fortgeschrittenem Zustand. Zu Aggressivität neige Locher nicht, »im Gegenteil, er war recht beliebt, soviel ich weiß«. Leider sei er »psychisch aus dem Gleis gefallen«, könne sich nur schwer und höchstens für kurze Zeit konzentrieren und an nichts dranbleiben. Deshalb habe Locher nicht einmal zwei, drei Stunden am Tag arbeiten können. Ein Eingliederungsprogramm hätte er nicht durchgehalten.
Plötzlich spricht man von einem Menschen, den man kannte, in der Vergangenheitsform. Sozialarbeiter Cecchetto verspricht, sich bei Kolleginnen und Klienten umzuhören. »Lochi war keiner von der problematischen Sorte.«
Ähnliches hört Romina Wäckerlin, als sich Renate Roth meldet, die Verantwortliche der Gassenküche. »Manchmal hat er bei uns mitgeholfen«, erinnert sie sich. »Brot schneiden, Tisch decken und abräumen, Geschirr spülen. Aber lange hat er nie durchgehalten. Schlagartig ist ihm jeweils in den Sinn gekommen, dass er wegmuss.« Roth bestätigt, dass Karlheinz Locher »umgänglich« gewesen sei. »Wir mochten ihn.« Sie erklärt: »Dass jemand hinter ihm her war, ihn gesucht hätte? Nein, so etwas habe ich nicht bemerkt. Aber ich frage am Montag meine Mitarbeitenden. Vielleicht ist jemandem etwas aufgefallen. Wenn Sie mich fragen«, sagt sie, »litt er . natürlich ist er Alkoholiker . aber das hat, denke ich, mit einem Burn-out zu tun. Von >Stress im Job früher< hat er erzählt. Ich denke, sein Zustand . das waren die Folgen eines Burn-outs, das nicht behandelt wurde. Wegen des Drucks im Job hat er zu trinken begonnen und ist abgestürzt und auf der Straße gelandet. So hat er das gesehen. Alkohol, Job weg, Privatleben kaputt. Aus allem rausgefallen. Der klassische Weg. Er hätte eine feste Unterkunft gebraucht, einen Entzug und eine Psychotherapie.«
Mhm, denkt Detektivkorporalin Wäckerlin. Unsereins hat doch auch Stress und zieht den Schwanz nicht ein.
Wäckerlin hört, wie die Leiterin der Gassenküche ihren Kopf schüttelt. »Einfach nur schrecklich, dass er tot ist.«
Über Lochers früheres Privatleben wisse sie nichts, antwortet Roth auf Nachfrage. »Alkohol, den Job verlieren, eine Trennung, psychische Probleme und keine Wohnung - weiter runter geht's nicht mehr.«
Karlheinz Locher (46). Halb totgeprügelt und erfroren an der Dorenbach-Promenade, das Ende eines Obdachlosenlebens.
Darf ein Leben so enden?
»Non Stop« (Kraftwerk).
Nach der kurzen Besprechung um 14:00 Uhr im Waaghof zum Abgleich des Kenntnisstands treibt die Müllermannschaft die Ermittlungen weiter. Odermatt und Vakulic rüsten sich mit Kaffee auf und setzen sich erneut mit der Bilderflut der Überwachungskameras vom Bahnhof auseinander.
»Ticktack ticktack ticktack«, kommentiert Odermatts Armbanduhr den Lauf der Zeiten. Austexten, dreidimensional plastisch veranschaulichen können wir diesen Vorgang nicht, tempus fugit, aber a) wissen Sie das, b) ist diese Redensart alt wie Babylon, c) können wir daran nichts ändern, d) haben wir keine gestalterischen Möglichkeiten, die Zeit in Echtzeit darzustellen. Besser so. Sonst läsen Sie ewig an Müllers letztem Gefecht. Minutiös ausformuliert, kann es Wochen dauern, bis ein Aktendeckel zuklappt und der Mutmaßliche im Singular oder im Plural als Tatsächlicher verurteilt hinter Schloss und Riegel sitzt.
Was ich hervorheben will: Mit Amber Odermatt und Vlado Vakulic hat Kommissär Müller Benedikt zwei Top-Aspis gefunden. Die beiden geben wirklich ihr Bestes.
Mit jeder Zeile, die ich schreibe, mit jeder, die Sie lesen, quetscht sich eine weitere Sekunde durchs Nadelöhr der Gegenwart in Richtung Vergessen.
Odermatt und Vakulic visionieren und observieren.
Ad repetendum.
***
Die Ex.
In der Notschlafstelle hat Lajos Szabó gestern die frühere Frau von Locher erwähnt. »Frühere Frau« = Scheidung = Scheidungsverhandlung = Akte beim Gericht und Eintrag im Zivilstandsregister. So macht Müller Karlheinz Lochers einstige Gattin ausfindig: Sarah Knutti (39).
Dass die Aspiranten gestern nicht auf sie gestoßen sind, erklärt sich wohl durch ihren Mangel an Erfahrung: vergessen, das Zivilstandsregister zu überprüfen. Ständig kann und will der Kommissär nicht Mikromanagement betreiben und jedes Detail begleiten, anleiten, kontrollieren. Die Nachwuchskräfte sollen lernen. Erfahrung sammeln können sie nur, wenn er sie lässt. Dazu gehören Fehler und Versäumnisse. Vertrauen in die Mitarbeiter ist gut, ständige Kontrolle schadet dem Vertrauen. Müllerüberzeugung.
Sarah Knutti wohnt an der Hauptstraße in 4127 Birsfelden. Nicht feudal. »Hauptstraße« heißt die brrrm brrm Hauptstraße nicht grundlos. Müller erreicht Frau Knutti, als sie gerade vom Wochenendeinkauf zurückkehrt. Sie nimmt das Gespräch an, obwohl Nummer unbekannt. Sie ist etwas »A bout de souffle« (Jean-Luc Godard), also pustelos, weil 4. Stock ohne Lift, zwei volle Einkaufstüten, falls Sie das interessiert, vielleicht aus Marktforschungsgründen oder weil Sie uns alle allenfalls als Physiotherapeutin mit Tipps zur Vermeidung von Rückenproblemen versorgen können. Vergessen Sie's.
»Ja, ich bin heute Nachmittag zu Hause«, teilt Sarah Knutti dem Müller mit, »aber ich weiß nicht, ob es sich für Sie lohnt herzukommen. Mein letzter Kontakt mit Karlheinz liegt weit zurück. Acht, neun Jahre.«
Doch sie sperrt sich nicht dagegen, dass Müller und Wäckerlin in den Wagen steigen, um nach Birsfelden hinauszurollen.
Überblendung - oder doch lieber Kameraschwenk?
Außen. Tag. 14:45 Uhr. Trüb. Tief hängende Wolken. 0 Grad Celsius.
Im Hintergrund quietscht grün das Tram 3 vorbei.
Birsfelden, Hauptstraße, Altbau, rußgeschwärzte Fassade. Unglamourös, aber solide. »Ich und die Wirklichkeit« (Deutsch Amerikanische Freundschaft). Die Wahrheit. Das Leben. Manches verläuft anders als in Träumen, eigentlich das meiste. Hoffnungen zerbrechen, die Zukunft löst sich auf im Säurebad der Gegenwart oder bricht sich herunter in eine endlose Folge banaler und anstrengender Verrichtungen.
Sarah Knutti (39). Schulterlanges braunes Haar, zwei, drei graue eingewoben. Dunkelblaues Sweatshirt mit aufgedrucktem Pflanzenmotiv (weiß), Jeans, schwarze Socken, Birkenstockschuhe, Modell: Madrid in Silber. Dem Müller sympathisch. Unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Schatten ab, leicht bloß. Sie huscht nicht behände wie ein junges Einhorn durch die nebligen Auen von Avalon. Sondern verkörpert gewissermaßen den heutigen Wochentag: Samstag, den Tag nach MoDiMiDoFr, wenn nach 42+ Arbeitsstunden zur Wiederherstellung einzig noch der So bereitsteht. Denn Samstag bedeutet: viel erledigen, StaubsaugenEinkaufenDieKinderherzenBeziehungpflegenAufräumenAnrufetätigenPutzenElterntelefonierenSchulproblemelösenBeiHausaufgabenhelfenAltglaswegbringenMalmitjemandemsprechenZeitungsstapeldurchlesenEtwasmitdenHändentunDerganzeAntiverblödungsabwehrkampfDenBodenaufwischenMitdenKindernrausundnichtnur-dasMinimumanhäuslicherKommunikationUndsoweiter und hoffentlich genügend Ruhezeit und im Idealfall, wenn die Kräfte reichen, sogar etwas Spaß.
»Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagt Frau Knutti zu Müller und Wäckerlin. Sie weist ins Wohnzimmer. »Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.« Der Kommissär fragt sich, wo sich die Unordnung versteckt haben soll. Vielleicht meint Sarah Knutti die Schultasche auf dem Boden neben dem Sofa oder die Zeitung auf dem Salontischchen, die geöffnete Post (Bank, Krankenkasse, Werbung) daneben oder die Gegenstände, die darauf hinweisen, dass hier auch Kinder leben: ein Tablet mit glitzernder Softgummihülle, mehrere Haargummis in Rosa und Hellblau .
Wohnzimmer also, Sofa, Tischchen, Kaffee. Der Kommissär informiert Sarah Knutti genauer darüber, was die Polizei über den Tod ihres Ex-Mannes weiß: »Opfer eines Tötungsdelikts« und »Dorenbach-Promenade« und »schwierige Lebensumstände«.
Sie wirkt getroffen und seufzt. »Das hat er wirklich nicht verdient«, sagt sie, fügt aber an: »Wir waren nur fünf Jahre zusammen. Wir haben nicht zusammengepasst, und .«
»Und?«
»Das wissen Sie selbst . der Alkohol. Er hat angefangen zu trinken.«
Müller schweigt still, betrachtet die graublauen Augen von Sarah Knutti und fragt sich, welche Pflanze auf ihrem...
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