Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
144 olé!
Das Personal der Notfallstation des Universitätsspitals in 4031 hat auch in der Nacht auf Dienstag, den 8. Dezember, für kargen Lohn hart durchgearbeitet. Die junge Frau mit den erzbrutalen Kopfschmerzen hat, wir sagten es, starke Schmerzmittel erhalten und liegt in den frühen Morgenstunden in der Röhre MRI, EKG, EEG, Abklärung. Die Freundin, die sie hergebracht hat, ist übernächtigt direkt zur Arbeit. Das Mitglied der Fechtnationalmannschaft hat ein leichteres Analgetikum erhalten und wird, falls sich die Schwellung ausreichend zurückgebildet hat, voraussichtlich gegen Mittag oder am frühen Nachmittag an der Achillessehne operiert werden. Der Nasenbeinbruch ist gerichtet, geschient, verbunden und nach Hause entlassen. Der Mann mit Herzanfall liegt oben auf der Intensivstation und kann vermutlich heute oder morgen auf die Station überwiesen werden. Nach einigen Tagen wird er in die Reha eintreten, falls in einer Klinik ein Platz frei wird.
Der erschöpfte Mann, Ende vierzig, gross, Marathonläuferstatur, der gestern im Taxi ins Universitätsspital gefahren wurde, liegt an diesem Morgen weiterhin in Koje D21 der Notfallstation. Drei mal vier Meter misst das Abteil. Weisse Wände, die Decke mit fein gelochten weissen Platten verkleidet. Fünfeinhalb Platten in die eine Richtung, viereinhalb Platten in die andere. Das weiss er, weil er immer wieder hochschaut. Die Gesamtzahl der Platten zu zählen schafft er nicht. Die Konzentration. Etwas mehr als zwanzig müssen es sein, versucht er zu rechnen. Fünfeinhalb mal viereinhalb? Fast fünfundzwanzig, denkt er. Das Sedativum, denkt er, verhindert, dass ich das genauer ausrechnen kann. F = a x b. Fünfeinhalb mal viereinhalb. Was ergibt das? Dreht er den Kopf nach rechts, was er in diesem Augenblick tut, sieht er den Monitor. «IntelliVue» ist der Typ, die Marke ist die der Stereoanlage, die er als Kind hatte, war noch in Belgien hergestellt. «Puls», «Blutdruck», «Sauerstoffsättigung», sieht er auf dem Bildschirm. Und Ziffern. Die Werte sagen ihm nichts, obwohl er damit öfter zu tun hat. Laktatwerte, Sauerstoffsättigung der Muskeln, Körperfettanteil, Körperwasser. Er bekommt jeweils die Berichte.
An einem Haken an der Wand hängt ein weisser Plastikbeutel, Effektensack. Durch den Plastik erkennt er sein Handy, den Schlüssel, das Portemonnaie und die Zeitung. Dass er die hierher mitgenommen hat? Daneben ein Gummihandschuhdispenser mit drei Grössen. An der Decke eine Metallschiene, an der das Krankenhauspersonal etwas befestigen kann, ein Gerät, eine Vorrichtung, einen Apparat. Neben der Liege ein verchromter Ständer. Daran hängt ein durchsichtiger Beutel, aus dem durch einen Schlauch eine farblose Flüssigkeit in seine Armbeuge tropft.
Der Kotzbeutel heisst «SicSac» und wird als «Spuckbeutel» bezeichnet. Steht auf dem Behälter an der Wand. Dass es nach Desinfektionsmitteln riecht, erklärt sich von selbst. In allen Büchern über Spitalszenen hängt Desinfektionsmittelgeruch in der Luft. Das ist vorhersehbar und deshalb nicht der Erwähnung wert.
Zuerst alle dreissig, später alle sechzig Minuten hat eine Gesundheitsfachfrau EFZ, ein Gesundheitsfachmann EFZ, ein oder eine cand. med. oder Dr. med. die Bildschirmanzeige überprüft und einige Worte mit dem Mann gewechselt. Mittlerweile versteht er wieder, was sie von ihm wissen wollen, zumindest hat er diesen Eindruck. Doch er wendet aussergewöhnlich . viel Kraft auf, um sich . zu konzentrieren, damit er aufnehmen kann, was Dr. med. Gunhild Makowski gerade zu ihm sagt. Will sie ein EKG in seinem Hirn machen? Fragt sie ihn nach Kängurulasagne? Kann ja nicht sein. Sicher will sie wissen, wie er sich fühlt. Eine Frage, dieser Reflex funktioniert noch in ihm, erfordert eine Reaktion, ein Verhalten, das dem Menschen eingeschrieben, antrainiert ist. Also antwortet er . die Wörter suchend . «Schon einigermassen», weil er annimmt, dass sich die Medizinerin nach seinem Befinden erkundigt hat. Sie mustert ihn aber bloss kurz - und kritisch, wie ihm scheint. Seine Antwort hat wohl nicht auf ihre Frage gepasst.
«So können wir Sie nicht nach Hause lassen», sagt sie, «ich lasse Sie auf die Station verlegen. Wir haben jetzt ein freies Bett.»
Das hat er verstanden. Die Ärztin kontrolliert noch einmal das Krankenblatt auf dem Klemmbrett.
«Können wir jemanden benachrichtigen?»
Er lächelt.
«Sie haben angegeben, dass Sie verheiratet sind.»
Er lächelt nur und ist wieder eingeschlafen.
***
Häuslich.
07:58 Uhr. Aus der Clarawache ist Marcel Oberholzer in den Waaghof überführt worden, der häusliche Randalierer von letzter Nacht. Zwei Sicherheitspolizisten bringen ihn zur Einvernahme in den Raum S 311. Zerknittert sieht er aus, als hätte er sich im Kleinbasel durch alle Hinterhöfe gerollt. Im Beisein des Pflichtverteidigers lic. iur. Peter Hauri eröffnet ihm Gülay Sermeter, er werde mit dem Verbot belegt, sich Frau Rossi, ihrem Arbeitsplatz, den beiden Kindern und Frau Rossis Eltern zu nähern oder diese Personen in welcher Form auch immer zu kontaktieren.
«Aber ich wohne dort!»
«Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen», antwortet Sermeter. Detektivkorporal Markus Gormann sitzt als Zeuge dabei. «Dieses Verbot gilt vorerst für 14 Tage.»
«Und wo soll ich schlafen? All meine Sachen sind in der Wohnung.»
Er klingt jämmerlich. Nach vier Stunden unruhiger Schlaflosigkeit in der Zelle im Waaghof fehlt ihm die Energie, um wütend zu werden.
«Wir können Ihnen das Nötigste aus der Wohnung holen lassen», sagt Gormann. «Sie haben sicher Bekannte, bei denen Sie unterkommen können.»
Fast gleichzeitig nehmen Romina Wäckerlin und Freddie Dominguez in Müllers Einzelbüro Francesca Rossis Zeugenaussage auf. Rossi konnte auch nicht schlafen und hat sich zwei Stunden vor dem vereinbarten Termin am Empfang gemeldet. Damit sie es hinter sich hat, wie sie sagt. Romina und Freddie gehen mit ihr das Protokoll durch, das Jeanneret von der Sicherheitspolizei letzte Nacht erstellt hat. Hier eine Präzisierung, dort eine kleine Streichung, da eine Ergänzung. Tendenz abwiegelnd. Sie erklärt, sie wolle Oberholzer - «Marcel» - noch eine Chance geben.
«Wirklich? Die wievielte?», hakt Wäckerlin nach. Akteneinträge wegen Vorfällen, in die Oberholzer und Rossi oder Oberholzer und eine allfällige Vorgängerin von Rossi involviert waren, liegen zwar nicht vor. Doch oft decken Frauen Gewaltexzesse ihres Partners über Jahre, oder das Verhalten erreicht nicht die Schwelle, die sie zu einer Anzeige bewegt. Stichwort Dunkelziffer. Dass Oberholzer einzig dieses eine Mal gegenüber Rossi ausgerastet ist, bezweifelt Wäckerlin. Was fehlt einem, der «wegen Bakterien und anderen Erregern im feuchten Schwamm im Spülbecken» die Wohnung auseinandernimmt? Oder - anderes beliebtes Motiv - wegen eines «zu interessierten» Blicks seiner Partnerin auf einen anderen Mann diese beschimpft und verhöhnt und bedroht und schlägt? Dem Alkohol allein ist so etwas nicht zuzuschreiben.
«Und Ihre Kinder?», fragt Wäckerlin weiter.
Rossis Mundwinkel zuckt. «Lara und Louis können nochmals einige Tage bei meinen Eltern bleiben. Ich habe das heute Morgen mit ihnen besprochen.»
Verschiedenes.
Müller beschäftigt sich unterdessen im Einzelbüro mit anderen Aktenvorgängen, die in seinem Posteingang gelandet sind. Einmal geht es um einen Linksextremen, der mutmasslich aus Protest gegen den Kapitalismus das Schaufenster einer Grossbank mit Parolen besprüht hat. Art. 144 StGB (Sachbeschädigung). Danach kümmert sich der Kommissär um einen Rechtsextremen, der gegen die Einwanderung vorzugehen beabsichtigte, indem er laut mehreren Zeugen vor einer Dönerbude in der Klybeckstrasse Passanten beschimpfte. Seine Hauptargumentation gemäss Aufzeichnung der Patrouille letzte Nacht: «Man darf ja heutzutage nichts mehr sagen. Das ist Diktatur! Aber ich lasse mir meine Meinung nicht verbieten. Ich sage, wie es ist.» Leute, die behaupten, sie dürften heutzutage gar nichts mehr sagen, hören in der Regel nicht mehr auf zu quasseln, denkt der Müller. Sie posaunen permanent ihren Schrott heraus, ihre Ressentiments, ihre Abneigung, ihren Hass. Für Art. 261bis StGB reichen die Schimpfwörter, die der Mann ausgestossen hat, wohl nicht. Aber, falls die Zeugen zu einer Strafanzeige zu bewegen sind, sicher für Art. 173 (Ehrverletzung) und für Art. 186 (Hausfriedensbruch), sollte der proper gescheitelte Aufrührer seinen Unmut auch innerhalb des Schnellimbisses geäussert haben und die Zeugen aussagewillig sein.
Aspirantin Werner und Aspirant Blaser fahren derweil in die Breite: In der Farnsburgerstrasse steht ein als gestohlen gemeldetes Fahrzeug. Lustigerweise finden die Aspis bei der Untersuchung des Autos im Handschuhfach eine kleinere Menge Kokain. Der Besitzer des Wagens wird später angeben, das Beutelchen gehöre «aber garantiert nicht» ihm.
In allen Fällen gilt die Unschuldsvermutung.
Im System liest der Müller die Strafanzeige einer Feministin, die im Internet, in «sozialen» Medien, von angeblich erwachsenen Männern, die gerne von den Werten der abendländischen Zivilisation...
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