Schweitzer Fachinformationen
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Als ich am 24. Februar 2022 vor dem Fernsehgerät die Bilder des russischen Einmarsches in die Ukraine verfolgte, war schnell klar, dass dieser Tag Europa von Grund auf verändern würde. Russische Raketen bombardierten ukrainische Städte, Millionen Menschen flüchteten in Richtung Westen und die Gefahr einer militärischen Eskalation schwebte über Europa. Gleichzeitig stellte der Krieg die weltweiten Energiemärkte auf den Kopf, die Preise für Öl und Gas schossen in die Höhe und das umstrittene Pipelineprojekt Nord Stream 2 wurde gestoppt. Verunsicherung machte sich breit, wie lange noch russisches Erdgas fließen würde und wie Europa durch den nächsten Winter kommen sollte. Der ohnehin geplante Ausstieg aus Erdgas wurde auf einmal zu einer moralischen Frage, und wir Europäer waren damit konfrontiert, wie lange wir noch das russische Regime mit unseren Devisen unterstützen wollten. Die lange gehegte Formel vom »Wandel durch Handel«, mit dem Russland enger an den Westen gebunden werden sollte, erschien über Nacht wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Kurzum, der Ukraine-Krieg legte offen, dass das fossile Wohlstandsmodell Europas an sein Ende gelangt war. Innerhalb weniger Tage wurde das eingeläutet, was wir heute unter der »Zeitenwende« verstehen.
Etwas mehr als ein Jahr später, am 20. März 2023, stellte der Weltklimarat seinen neuesten Bericht vor, den Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über einen Zeitraum von acht Jahren erstellt hatten.1 Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, bezeichnete die Ergebnisse des Weltklimarats als »Akte der Schande«, als eine Auflistung leerer Versprechen der Weltgemeinschaft, die uns auf den Weg in eine unbewohnbare Welt führen. Guterres nutzte seinen eindringlichen Appell dazu, klare Forderungen an die Industrieländer zu stellen. Diese sollten schon bis 2040 ihre Emissionen auf Netto-Null reduzieren. Für neue Öl- und Gasprojekte dürfe es keine Genehmigungen mehr geben und existierende Öl- und Gasprojekte dürften nicht ausgeweitet werden. Andernfalls wären laut Weltklimarat die Folgen für Europa verheerend: häufigere und intensivere Hitzewellen, vermehrte Trockenheit und Wasserknappheit. Es wären auch Regionen in Zentraleuropa betroffen, wo derartige Ereignisse bisher unbekannt waren. Und die bereits jetzt sichtbaren Auswirkungen der Erhitzung wie Überschwemmungen, Murenabgänge oder Ernteausfälle würden weiter zunehmen - auch bei uns.
Diese beiden Ereignisse sind Kristallisationspunkte für die Lage, in der sich Europa derzeit befindet, und Ausgangspunkt für dieses Buch: »Europa im Schwitzkasten«. Damit sind zunächst die sich zuspitzenden Folgen der Erderhitzung auf Europa und die wachsende Klimaangst in weiten Teilen der Bevölkerung gemeint. »Europa im Schwitzkasten« dient auch als Schlagwort für die Rückkehr des Krieges nach Europa und die damit einhergehende Herkulesaufgabe, nicht nur vom russischen Gas, sondern auch von fossilen Energiequellen insgesamt unabhängig zu werden. Kann die Energiekrise in Folge des Ukraine-Kriegs ein Katalysator für mehr Klimaschutz sein oder verliert Klimaschutz mehr und mehr an Rückhalt in breiten Teilen der Bevölkerung, die sich von Klimaprotesten genervt zeigt und sich mit den Folgen der Teuerung herumschlagen muss? Nicht zuletzt geht es in »Europa im Schwitzkasten« um die geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China und die schwierige Rolle Europas im Kreuzfeuer zwischen diesen beiden Großmächten im Rennen um die globale Vormachtstellung. Es ist ein Appell für ein Ende der Naivität in der EU und für ein Hinwenden zu einem stärkeren strategischen Denken.
Energie und Geopolitik sind eng miteinander verwoben. Die Versorgung mit Energie prägt seit Langem die Weltpolitik. Jede internationale Ordnung in der modernen Geschichte basierte auf einer Energieressource: Kohle war die Grundlage für das britische Weltreich im 19. Jahrhundert, Öl stand im Mittelpunkt des darauffolgenden »amerikanischen Jahrhunderts«, und heute erwarten viele, dass China im 21. Jahrhundert die Supermacht der erneuerbaren Energien wird. Auch die globale Energiewende wird nicht zum Ende des Ringens um Macht und Einfluss führen, sondern vielmehr zu einer grundlegenden Umgestaltung. In der neuen Ära der Energieunsicherheit werden alle Staaten versuchen, politische und wirtschaftliche Vorteile aus diesem Umbruch für sich herauszuschlagen. Auf der einen Seite können gerade die europäischen Staaten, die derzeit auf die Einfuhr von Öl und Gas angewiesen sind, ihre Energiesicherheit stärken und die frei gewordenen Mittel in die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen investieren. Auf der anderen Seite wird für die öl- und erdgasexportierenden Länder eine Phase der Instabilität folgen, durch die sie gezwungen sind, sich neu zu erfinden, um in der Umbruchszeit nicht auf der Strecke zu bleiben. Diese Entwicklungen werden alles andere als geradlinig sein. So führen für Europa die Bemühungen, weniger abhängig von Öl und Gas zu werden, zu einer steigenden Abhängigkeit von China, dem wichtigsten Produzenten von Solarpaneelen, Batterien und den für die Energiewende nötigen kritischen Rohstoffen. Gerade Klimatechnologien werden in den nächsten Jahren zu einer neuen Arena im globalen Wettstreit, bei dem es für Europa gilt, in diesem sich abzeichnenden »Grünen Kalten Krieg« nicht auf der Strecke zu bleiben.
Die »Geopolitik der Energiewende« wird die internationale Politik auf absehbare Zeit bestimmen. Wir befinden uns in einer Phase der Weltunordnung, in der der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Weltgegenden immer schärfer wird. Die Veränderungen durch die Klimakrise wirken wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger und können bestehende Spannungen und Konflikte weiter verstärken. Besonders verwundbar gegenüber diesen Klimarisiken sind viele Staaten des Südens. Dazu gehören große Teile Afrikas, die Inseln im Pazifik oder die Staaten Südostasiens. Das sind gleichzeitig jene Regionen, die historisch gesehen am wenigsten Treibhausgase ausgestoßen haben, jetzt am stärksten von der Klimakrise betroffen sind und nicht über ausreichende Mittel verfügen, sich gegen die drohenden Folgen zu wappnen. Aus europäischer Perspektive ist es nur zu einfach, den Zorn des Südens auf die im Vergleich reichen Länder des Nordens zu unterschätzen. Diskussionen um die Bedeutung von Klimagerechtigkeit werden daher zunehmend eine Rolle spielen. Europa wird dem Globalen Süden in einer heißer werdenden Welt ein besseres Angebot machen müssen, um etwas gegen diesen Mangel an Vertrauen zu tun.
Mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer steht Europa damit erneut vor einem massiven Systemwandel. Die immer dringlicher werdende Klimakrise macht eine Abkehr von unserer Wirtschaftsweise und unserem gewohnten Lebensstil nötig. Ein solcher Wandel umfasst alle Lebensbereiche: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Gas, den massiven Ausbau von Solarenergie und Windkraft bis hin zu einem veränderten Mobilitätsverhalten. Die Liste ist ebenso lang, wie die Aufgabe komplex ist.
Klima, Energie und Ressourcen sind die dominierenden Themen unserer Zeit. Viele entscheidende Fragen - von Demokratie bis Ungleichheit oder Migration - sind damit eng verknüpft. Es mag pathetisch klingen, aber ob es die Weltgemeinschaft schafft, eine nachhaltige Ökologisierung zu entwickeln, davon hängt ganz wesentlich die Zukunft der Menschheit ab. Wir befinden uns demnach in einer historischen Phase, in der klar ist, dass wir nicht weitermachen können wie bisher, aber das Bild unserer Zukunft noch nicht klar gezeichnet ist. Die Argumente der alten Welt haben ihre Strahlkraft eingebüßt, die Vorstellung der neuen ist verschwommen. Zugleich erscheinen unsere Strukturen ebenso festgefahren wie zerbrechlich. Viele Lösungsansätze liegen auf dem Tisch, aber es ist offen, ob wir als Gesellschaft den Umbau hinbekommen.
Umbrüche gab es auch in der Vergangenheit. Bei der jetzigen Energiewende stehen wir durch die Klimakrise unter besonderem Zeitdruck. Es ist eine industrielle Revolution im Schnelldurchlauf. Das macht diesen Umbruch zum größten Systemwandel in unserer Wirtschaft seit 1989. Das Ausmaß des erforderlichen Wandels mag in der Tat entmutigend erscheinen. Dabei sollten wir allerdings nicht vergessen, dass in der Vergangenheit das Tempo des Wandels oft unterschätzt wurde. Das Weltwirtschaftsforum in Davos hat darauf hingewiesen, dass sich die Vorhersagen für die Fortschritte bei den wichtigsten Technologien der Energiewende immer wieder als viel zu konservativ erwiesen haben. Gerade das Wachstum der Solarbranche wurde in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch unterschätzt, Prognosen mussten laufend nach oben korrigiert werden. Diese Dynamik des sich gegenseitig verstärkenden technologischen Fortschritts und der Kostensenkung, die in vielen Ländern vorangetrieben wird, ist immer wieder zu beobachten.
Die Welt hat auch bisher bewiesen, dass sie mit gemeinsamem Handeln...
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