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Zwei Dschungel-Pastorinnen schreiben Kirchengeschichte (Lukas 10,42 und 1. Samuel 16,7)
Ja, bin ich denn hier im Neuen Testament gelandet? Ist hier etwa Ephesus, Korinth oder irgendein Dorf in Galatien? Nein, ich bin ganz sicher in Indien. Genauer gesagt: im Siler-Dschungel. Am Rande der Zivilisation (jedenfalls aus Sicht der indischen Städter). Sozusagen hinter den Bergen, fast bei den sieben Zwergen.
Eine stundenlange Rutscherei über die schmalen und kurvenreichen Straßen des dichtgrünen Dschungels liegt hinter uns. Durch heftigste Regenfälle hindurch, die abgelöst wurden von brütender Hitze, sind wir in einem - mit Verlaub - Kaff gelandet. Es trägt den etwas knurrig klingenden Namen Marri Gudem. Und sieht genauso aus. Ein Nest an der Straße. Mit wenigen kleinen Häusern, die den Charme einer provisorischen Bruchbude ausstrahlen. Aber mit einer nett gestalteten kleinen Kirche. Die Grundfläche etwa so groß wie ein Wohnzimmer in meiner fernen Heimat.
Genau hier erlebe ich etwas, das ich nie mehr vergessen werde. Und was so oder so ähnlich auch Lukas in seiner Apostelgeschichte hätte berichten können. Diese Erfahrung ist für mich so anders, so ungewöhnlich, so unglaublich - wie könnte ich sie nur jemandem erzählen, der nicht selbst dabei war? Ich versuch es und gebe mein Bestes. Und hoffe, Sie können meine Verblüffung wenigstens etwas nachempfinden.
Alles beginnt wie üblich bei indischen Kirchenbesuchen: Wir werden wie wichtige Persönlichkeiten begrüßt. Mit Blumenketten behängt. Mit Namaste-Gruß und Verbeugung geehrt. Ein Trommler gibt als Kirchenmusiker den Takt vor. Die versammelte Menge klatscht und singt begeistert ihre Kirchenhits. Mitglieder der Gemeinde und etliche Gäste füllen die Kirche. Fast alle haben sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen. 80, vielleicht 100 Menschen sind zusammengekommen. Volles Haus. Draußen hören noch einmal einige Dutzend Zaungäste zu und feiern mit.
Nach den leicht pathetisch klingenden Grußworten soll ich auf Wunsch von Bischof Singh eine Andacht halten. Singh übersetzt jeden meiner deutschen Sätze in Telugu. Ein weiterer Pastor wiederum übersetzt von Telugu in Oriya, die Sprache, die fast alle hier sprechen. Für mich bedeutet das: kurze, klare Sätze. Einfache Gedanken. Nicht Glaubenstheorie. Sondern Praxis. Von Jesus, dem Brot des Lebens, spreche ich. Von dem, der die Sehnsucht und den inneren Hunger von uns Menschen kennt. Und der uns geben will, was wir zum Leben brauchen.
Nach Gebet und Segen stehen wir noch etwas mit den Gemeindegliedern zusammen. Überschwänglich bedanken sie sich für unseren Besuch. Sie fühlen sich geehrt und ermutigt durch Menschen, die sich aus so weiter Ferne zu ihnen aufgemacht haben. Das können wir deutlich spüren.
Ich bin kurz darauf schon wieder draußen vor der Kirche, habe mir meine Slippers übergestreift (in die Kirche geht man hier stets barfuß oder in Socken) und will mich schon auf den Weg machen zu unserem zuverlässigen Fahrer Keke und seinem geländetauglichen Auto.
Da werde ich zurückbeordert. Warum auch immer. Ich drehe mich um. Schlüpfe wieder aus den Slippers heraus. Und kämpfe mich auf Socken durch die Besucherinnen und Besucher hindurch zurück in den Kirchenraum.
Drinnen entdecke ich ein schüchtern wirkendes Paar. Die junge Mutter hat ihre etwa ein Jahr alte Tochter auf dem Arm. Bischof Singh erklärt uns das Anliegen der jungen Eltern. Und ich habe zunächst den Eindruck, dass ich mich verhört haben könnte.
Die beiden haben sich durch den Kontakt zur Pastorin der Gemeinde in Marri Gudem dazu entschieden, ein Leben als Christen zu wagen, erklärt Singh. Morgen soll ihre Taufe sein. Und jetzt bitten sie uns heute um einen Liebesdienst: Sie haben ihrem Kind vor einigen Monaten ein Amulett um den Hals binden lassen, das ihnen irgendwelche Priester verkauft haben. Die meisten Menschen hier im Dschungel sind Animisten. Leben in ständiger Furcht vor bösen Mächten. Versuchen, sie positiv zu stimmen durch blinden Gehorsam, bestimmte Rituale oder Opfer.
Dieses Amulett um den Hals sollte ihre Tochter also schützen vor der Macht der bösen Geister. Vor Krankheit. Vor Armut und vor was weiß ich noch allem. Doch jetzt haben die jungen Eltern eine klare Entscheidung getroffen: Sie wollen sich frei machen von den bösen Mächten, die sie bisher in Angst und Schrecken versetzt haben. Sie setzen ihr Vertrauen nicht länger auf die Macht der Geister oder die Kraft von Amuletten. Sie möchten sich Jesus anvertrauen, ganz und gar. Und deshalb soll ihr Kind frei werden von diesem Hokuspokus.
Das Problem dabei lässt sich in den angespannten Gesichtern der beiden ablesen: Sie haben trotz allem noch so viel Respekt, so viel Angst vor der Macht des Armbandes, dass sie uns um Unterstützung bitten: Bitte schneidet ihr das Amulett von unserer Tochter ab. Und betet für uns und unser Kind.
Friederike Rust und ich sehen uns kurz an. Sie scheint genauso überrascht zu sein wie ich. Doch kneifen gilt nicht. Für theologische Grundsatzüberlegungen bleibt keine Zeit. Hier geht es um eine für die jungen Eltern schier lebenswichtige Angelegenheit. Vor ihrer eigenen Taufe soll ihr Kind frei werden. Frei durch die Kraft Jesu.
Also. Packen wir's an. Bzw. schneiden wir's ab.
Singh und ich nehmen die junge Familie schützend in unsere Mitte. Mit ausgebreiteten Armen bilden wir eine Art Schirm über ihren Köpfen. Friederike bekommt eine Schere in die Hand gedrückt. Sie tritt auf die junge Familie zu. Anspannung und Angst der jungen Eltern sind mit Händen zu greifen. Singh nickt mir zu. Ich fange an, auf Deutsch zu beten. Zu danken für diese jungen Leute und ihr Kind. Dafür, dass sie den Weg mit Jesus gehen wollen. Dafür, dass Jesus stärker ist als alle anderen Mächte dieser Welt. Dass er sie und ihr Kind schützen und segnen möge. Jesus, du bist stärker. Jesus, du machst frei.
Ehrlich gesagt: Ich zittere innerlich bei diesem für mich so ungewohnten Gebetsthema. Was genau betet man in einer solchen Lage? Im Theologiestudium hat mir das niemand beigebracht. Was könnten die beiden Eltern denn irgendwie nachvollziehen und mitbeten? Ich will auf gar keinen Fall irgendetwas Falsches oder Missverständliches von mir geben.
Gleichzeitig jauchzt mein Herz. Denn ich weiß: Gerade hier im Dschungel gibt es noch jede Menge finsteren Aberglauben. Rituale, Traditionen, Verhaltensregeln, die Menschen knechten und zu Sklaven böser Mächte und ihrer menschlichen Helfershelfer machen. Umso erfreulicher, dass diese jungen Leute bei Jesus Freiheit suchen. Und hoffentlich finden werden. Genau hier, in dieser Gemeinde. Angeregt und ermutigt durch ihre Pastorin.
Zwei kräftige Schnitte, dann sind die Schnüre mit dem Amulett durchtrennt. Einige Mitarbeiterinnen aus der Gemeinde jubeln. Der Vater wirkte bis zum Gebet ziemlich unsicher auf mich. Nach dem Amen wagt er ein Lächeln. Er strahlt mich an. Befreit. Erlöst. Vergnügt. Wir nehmen uns in die Arme wie Brüder. Obwohl wir uns nicht kennen. Und vermutlich nie wiedersehen werden.
Wie man sich doch täuschen kann .
Denn schon am nächsten Morgen treffe ich die beiden überraschenderweise doch noch einmal. Zusammen mit etwa 25 anderen Frauen und Männern sind sie zu einem Flusslauf im Dschungel gewandert. Hier wollen sie ihren Neuanfang mit Jesus festmachen. Sich taufen lassen. Ganz untergetaucht werden. Abschied nehmen von ihrem alten Leben. Und dann wieder auftauchen. Befreit zu einem neuen Anfang. Zu einem neuen Leben.
Was die beiden wohl nicht wissen. Und was auch ich erst im Nachhinein verstehe: Diese Taufe ist für die Nethanja-Kirche ein geradezu historisches Ereignis. Denn an diesem Morgen tauft zum ersten Mal eine der frischgebackenen Nethanja-Pastorinnen gemeinsam mit zwei gestandenen Nethanja-Bischöfen.
Verantwortlich für die Gemeinde, in der die jungen Eltern zum Glauben an Jesus gefunden haben, ist nämlich kein Mann. Sondern die zupackende Sajeeva. Ihr Gatte David ist schon seit vielen Jahren Pastor. Seit genau 36 Jahren, erklärt sie mir. Und als ich sie frage, wie lange sie schon als Pastorin arbeitet, lacht Sajeeva. "Genauso lang. 36 Jahre. Ich habe David von Anfang an unterstützt und eigentlich schon immer wie eine Pastorin gearbeitet."
Ein erstaunlich gesundes Selbstbewusstsein, finde ich. Denn die Nethanja-Kirche tat sich jahrzehntelang schwer mit der Gleichberechtigung von Frauen. Wie viele Kirchen weltweit. Gemeindeleiter, Pastoren, Dekane, Bischöfe - alles Männer. Frauen "durften" nur als sogenannte Bibelfrauen mithelfen, als Sozialarbeiterinnen, als aktive ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Mehr war nicht drin. Ganz egal, welche Ausbildung diese Frauen hatten oder wie wertvoll ihre Dienste in Gemeinde und Seelsorge waren.
Erst im Januar 2023 wurden nach einigen theologischen Diskussionen die vier ersten Frauen in der Nethanja-Kirche zu...
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