Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Im Zug hatte sich Elena sofort gesetzt und stur zum Fenster gedreht: war sie beleidigt? Das blasse Gesicht mit den nicht gewöhnlichen, aber auch nicht schönen Zügen war von einer Masse schwarzer Locken umrahmt. Die dunklen Augen, trauriger als üblich, verfolgten das ununterbrochene Aufeinanderfolgen der Strommasten. Es war offensichtlich, dass sie sie nicht bewusst wahrnahm, so sehr war sie auf etwas konzentriert, das sie quälte. Sie wagte nicht den Blick zu wenden, um ja nicht der gerunzelten Stirn des Vaters zu begegnen, der sich seinerseits mit einem gewissen Nachdruck hinter der zerknitterten Zeitung verbarg. Seltsamerweise hatte er sich nicht dazu geäußert, hatte kein einziges Wort über den Vorfall verloren. Er schien nicht verärgert zu sein; einzig die gerunzelte Stirn zeugte von einer gewissen Belästigung oder besser gesagt von einer leichten Verstimmung.
Der negative Ausgang der Prüfung, das voraussehbare Versagen der Tochter war für ihn von äußerst geringer Bedeutung: gewissermaßen Frauengeschichten und nichts weiter, eine Marotte seiner Frau. Diese hatte sich in den Kopf gesetzt ihre Tochter Klavier studieren zu lassen. Er hatte sich nicht eingemischt, hatte nur die Schultern hochgezogen, so als wolle er sagen, es sei nicht seine Angelegenheit. Er war in der Tat der Meinung, dass die Erziehung der Kinder, vor allem der Tochter, nicht in seinen Aufgabenbereich als Vater falle. Seine Aufgabe war es, das Geld nach Hause zu bringen. Um den Rest solle sich die Ehefrau kümmern.
Dann aber, auf Anraten von wer weiß wem - ein schlechter Rat, wie sich herausgestellt hatte - hatte sie darauf bestanden, sie in Neapel im namhaften Konservatorium San Pietro a Majella einzuschreiben, mit diesem wunderbaren Ergebnis, grübelte er weiter. Und er, um sie zufrieden zu stellen, um seine Frau zufrieden zu stellen, versteht sich - er stellte sie immer zufrieden, seine kleine Gemahlin - war bis nach Neapel gefahren, in diese ungemütliche, lärmende, immer noch zerstörte Stadt, obwohl bereits zehn Jahre seit Kriegsende vergangen waren und wohin er nie einen Fuß hätte setzen wollen.
Eine unnötige Ausgabe: Reise, Hotel, ganz zu schweigen von seiner Zeit, die er besser an seinem Schreibtisch verbracht hätte, auf dem sich inzwischen sicher sehr viel Arbeit angehäuft hatte. Dieses Versagen hatte jedoch auch eine positive Seite: Das ständige Hämmern auf den Tasten, wenn man das überhaupt Musik nennen konnte, würde ein Ende haben.
Er atmete erleichtert auf.
Gewiss, die Musik hatte ihn nie interessiert, auch hatte er nie groß etwas davon verstanden, angenommen, dass es da etwas zu verstehen gab; Frauengeschichten, die bereits schwach wurden, wenn sie bloß ein Klimpern des Klaviers hörten. Mit der Zeit hatte er eine regelrechte Unduldsamkeit und, warum auch nicht, ein offen geäußertes Unbehagen entwickelt. Er sagte nämlich, der Klang dieses verdammten Instruments habe die Macht einen Nerv auf der Höhe seines Ohrs gefährlich überdehnen zu können, wodurch das empfindliche Gleichgewicht seines Gehirns gestört würde. Das Ergebnis dieser Störung waren schreckliche Kopfschmerzen. Sie könne klimpern so viel sie wolle, aber in den wenigen Stunden, die er zu Hause verbrachte, wollte er keinen 'Lärm' hören. Nach einem Arbeitstag in den Gerichtssälen, wo das unaufhörliche Geschrei des Publikums seine Nerven strapazierte, habe er Anrecht auf ein wenig Ruhe.
Elena studierte mittlerweile seit Jahren und war überzeugt, dass ihr Vater sie nicht ein einziges Mal hatte spielen hören, vielleicht manchmal an einem Sonntagmorgen, als sie noch zur Stärkung der Finger auf den Tasten geübt hatte. Nach den Protesten ihres Mannes hatte die Mutter ihr verboten, sonntags zu üben. Jeden Tag schaute die Mutter dann ab einer bestimmten Stunde nur noch auf die Uhr und lugte in einem ständigen Hin und Her zur Haustür, nervös, ungeduldig. Sie beruhigte sich erst, wenn sie ihn um die Ecke biegen sah. Dann atmete sie tief durch und beeilte sich, den Deckel des Klaviers zuzuklappen, ohne der Tochter die Zeit zu lassen, auch nur den Satz zu Ende zu spielen, die Finger von der Tastatur zu lösen.
Es war Elena übrigens nie in den Sinn gekommen, dass ihr Vater ihr vielleicht zuzuhören gewünscht haben könnte. Sie war sogar selbst davon überzeugt, dass dieses 'lästige Geräusch' nur Frauen gefallen könne: Musik habe etwas Weibliches, Sentimentales an sich, hatte ihr Vater mehrmals erklärt, ohne eine gewisse Verachtung zu verbergen, zweifellos etwas Unseriöses, eines echten Mannes unwürdig.
Elena hat sich nie gefragt, warum alle Komponisten Männer waren. Sie war noch nicht alt genug, um sich solche Fragen zu stellen. Außerdem handelte es sich für sie nur um Namen: Bach, Mozart, Schubert. Dass hinter diesen Namen menschliche Wesen standen, Männer, vielleicht groß und dick, mit Perücken und Westen, sehr viel ernster und majestätischer als ihr Vater, vielleicht mit Familie und Kindern, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Jedenfalls bat ihre Großmutter mütterlicherseits, jedes Mal wenn sie zu Besuch kam, fast wie zur Bestätigung dieser Auffassung, höflich darum, ihr ein schönes Musikstück vorzuspielen, wobei sie laut Definition ihres Vaters bei jedem Arpeggio dahin schmachtete.
Mit vier oder fünf Jahren hatte sie ganz allein zu spielen begonnen, vielleicht um die Langeweile zu vertreiben, da sie dazu verurteilt war, zu Hause zu bleiben und es ihr strengstens verboten war, auf die Straße zu gehen und mit den anderen Kindern der Nachbarschaft zu spielen, wie es Nello, ihrem älteren Bruder, erlaubt war. Angesichts ihres Interesses hatte sich ihre Mutter neben sie gesetzt und ihr die ersten musikalischen Grundkenntnisse beigebracht: Noch bevor sie lesen und schreiben konnte, hatte sie die Bezeichnung der Noten und alles Notwendige gelernt, um die ersten Bayer-Übungen zu spielen. So ging es ein paar Jahre lang weiter. Dann änderte sich von einem auf den anderen Tag alles. Angetrieben von wer weiß welchem Ehrgeiz, den man in einer kleinen, unsicheren Person wie ihr, die sich ganz der Pflege des Hauses und ihres Mannes widmete, überhaupt nicht vermutete, beschloss ihre Mutter, sie zu einem echten Musiker, einem alten Operngeiger in Ruhestand, einem Nachbarn der Mutter, zu bringen. Das Urteil fiel positiv aus. Das Kind war überraschend musikalisch, selbst für sein Alter, und es müsse ernsthaft zum Studium angehalten werden. Von diesem Moment an gab es keine ruhige Minute mehr. "Elena die Tonleitern. Elena die Arpeggi. Elena die Übungen. Elena, noch eine halbe Stunde." Jeden Nachmittag die gleiche Geschichte.
Sobald Nello sah, dass sie sich anschickte mit ihren Übungen zu beginnen, oder er ein Geräusch aus ihrem Zimmer kommen hörte, das an den so genannten Polyphem-Salon angrenzte, in dem sich das Klavier befand, sprang er, den Vater nachahmend sofort auf und erklärte, dass auch er irgendwo einen Nerv habe, der sich auf sehr gefährliche Weise verdrehe. Er riskiere sogar, sein Gehör zu verlieren. Schlussfolgerung: er rannte aus dem Hause und sagte, dass unter diesen Umständen niemand von ihm hätte verlangen können, dass er dort seine Hausaufgaben mache. Andererseits, wer weiß, wie er es immer anstellte, einer der Klassenbesten zu sein, obwohl er nie ein Buch anrührte oder sich anderweitig dafür umtat. Als auch sie zur Schule ging und er sie mit hochrotem Kopf über Bücher und Hefte gebeugt sah, versäumte er nie, sie auszulachen.
»Nur die Dummen müssen lernen! Im Grunde genügt ein klein wenig Intelligenz!« Von einem verächtlichen Blick begleitete Worte, die alleine schon genügt hätten, sie aus der Haut fahren zu lassen. Hastig zog sie einen Schuh aus oder ergriff den nächstbesten Gegenstand und warf ihn ihm hinterher. Ganz so als hätte er nichts anderes erwartet, grinste er hämisch, schnappte den Gegenstand im Flug, um sich dann über sie lustig zu machen.
Nello war vier Jahre älter als sie und groß, immer unausstehlich größer als sie. Und präpotent: er behandelte sie immer von oben herab, wenn nicht gar mit Verachtung.
Seit ihrer Geburt hatte er sie als Eindringling betrachtet, eine von wer weiß woher Gekommene, die man sofort an den Absender zurückschicken müsse: wiederholt hatte er der Mutter erklärt, dass er dazu bereit wäre. Er selbst hätte sich um die Rückgabe gekümmert. Die Versuche der Mutter und der Großmutter, ihn zu überzeugen das Schwesterchen lieb zu haben waren vergebens, im Gegenteil, seine Abneigung nahm tagtäglich zu und häufig hatte er den Wunsch geäußert, sie ins Meer zu schmeißen: Von dort sei sie gekommen, wiederholte er und dorthin müsse man sie zurückbringen und er reagierte seinen Zorn ab, indem er sie ungesehen zwickte und auf jegliche Weise ärgerte. So wie er sie zum Heulen gebracht hatte, kniff er zufrieden die Lider zusammen und grinste vor Vergnügen.
Im Laufe der Jahre änderte sich nichts daran. Um sie zum Weinen zu bringen, flüsterte er...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.