Schweitzer Fachinformationen
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Nur eine einzige Straße führte nach Bear Isle, die wie eine Brücke die Halbinsel mit dem Festland verband. Daher war Bear Isle, obwohl sie das Wort im Namen trug, keine richtige Insel und trotzdem beinahe gänzlich von Wasser umgeben.
Auf beiden Seiten säumte ein schmaler Streifen Wald die holprige Straße, ähnlich einer Allee, dicht bewachsen mit den für die Gegend typischen Weymouth-Kiefern, die aufgrund ihres hellen Holzes White Pines genannt wurden und hier seit vielen Jahrhunderten wuchsen. Baum des Friedens wurde diese Kiefer von den Indianern genannt, die früher im Winter die innere Rinde des Baumes aßen und eine Art Tee aus den langen grünblauen Nadeln brauten. Aus den altgewachsenen Stämmen fertigten sie ihre Einbäume.
Ruckartig riss ich das Lenkrad herum, aber es war zu spät. Mit einem blechernen Geräusch fuhr ich durch eines der zahllosen Schlaglöcher, mit denen die Straße gespickt war. Sofort nahm ich den Fuß vom Gas. Ein Unfall wäre das Letzte, was ich noch brauchte. Ich öffnete das Seitenfenster, und ein würziger, erfrischender Geruch drang ins Wageninnere.
Weihnachten kam mir in den Sinn. Eine Erinnerung, die durch den harzigen Duft an die Oberfläche stieg, und mit ihr auch das Bild der geschmückten Kiefer, die jedes Jahr im Wohnzimmer vor dem Kamin stand. Darunter die bunt eingepackten Geschenke.
Wie hatte ich nur vergessen können, wie gut es hier roch?
Hinter dem Kiefernwald lagen die schroffen, steil abfallenden Felsen, die ins Meer ragten und ebenso wie die Kiefern das Bild dieser Landschaft prägten.
Den beliebten Sandstrand fand man allerdings erst, wenn man weiterfuhr und die dunkle Allee weit hinter sich gelassen hatte. Auf ihn stieß man nur, wenn man fest daran glaubte, dass dort tatsächlich noch etwas anderes kommen könnte als Wald und Wildnis.
Hierher kamen früher die Indianer in den Sommermonaten, wenn sie zum Fischen und Jagen unterwegs waren, bis man sie nach und nach Richtung Westen gedrängt hatte und sie schließlich ganz aus der Gegend verschwunden waren. Auch hatten damals zahllose Bären auf der Halbinsel gelebt, denen sie ihren Namen verdankte. Heute gab es hier nur noch wenige von ihnen.
Die Einwohner von Bear Isle waren einfache Menschen, die hauptsächlich vom Hummerfang lebten und von den Blaubeeren, die hier wild wuchsen. Blaubeeren begegnete man auf der Halbinsel überall: in den Läden in Form von Muffins, Gelee und Säften oder gedruckt auf Schürzen, Tassen und Postkarten.
Als ich endlich das Ortsschild sah, war es halb vom dichten Blattwerk des unbändig wachsenden Efeus überwuchert, so dass nur das Wort Isle zu lesen war.
Schon als Kind empfand ich es als beklemmend, dass ich beinahe nur von Wasser umgeben war. Die Vorstellung, dass es nur diese eine Straße gab, die mich hier rausbrachte, wenn ich fliehen musste, ließ mich an eine Maus denken, die in der Falle saß. Dabei gab es nichts, weshalb wir Bear Isle hätten fluchtartig verlassen müssen. Selbst Tornados, die hier ab und zu im Sommer an die Küste kamen, hatten die Halbinsel nie erreicht. Und dennoch war ich irgendwann geflohen.
Es war ein Drama gewesen, das Auto am Flughafen zu mieten. Sie hätten meine Reservierung nicht erhalten, hatte die Frau am Schalter gemeint. Dabei war ich mir sicher, genau mit dieser Dame vor wenigen Stunden gesprochen zu haben, die mich nun an der Rezeption des Autovermieters fragte, ob ich tatsächlich angerufen hätte, und ganz offensichtlich versuchte, mich loszuwerden.
Ich bin schnell gereizt. Eine unschöne Eigenschaft, die ich nicht immer kontrollieren kann. Heute musste ich nett sein, ich brauchte dringend einen Wagen. Trotzdem konnte ich einen unfreundlichen Ton in meiner Stimme nicht ganz vermeiden und fragte die korpulente Dame hinter dem hölzernen Tresen, der gerade so hoch war, dass es aussah, als hätte sie ihre üppigen Brüste darauf abgelegt: »Sie haben also da draußen keinen einzigen Wagen stehen?« Dabei zeigte ich mit dem Finger durch die große Scheibe dorthin, wo aneinandergereiht zahllose frisch polierte Wagen standen, in allen Kategorien von Economy bis hin zur Luxusklasse. Ich hätte jeden Wagen genommen und fragte sie spitz: »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«
Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich einen Fehler machte, wenn ich mich nicht bremste. Ich versuchte es anders.
»Meine Mutter ist gestorben. Ich muss dringend weiter nach Bear Isle.« Wider Erwarten lief mir eine einzelne Träne über die Wange. Es auszusprechen war etwas anderes, als es still in mir zu tragen. Wenn ich es in Worte fasste, schien es mir erst bewusst zu werden, schien ich es greifen zu können.
Die dicke Frau hievte ihre Brüste vom Tresen und wandte sich ihrem Computer zu. Mit ihren unnatürlich langen, an der Spitze mit glitzerndem Lack manikürten Nägeln, tippte sie einzelne Buchstaben und Zahlen ein, die für mich keinen Sinn ergaben. Das klackernde Geräusch war nervtötend. Über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg warf sie mir einen prüfenden Blick zu, blähte ihre Nasenflügel auf und schien in den Weiten ihres Computers einen Wagen für mich zu suchen. Schließlich wurde sie fündig, und ich mietete ihn für zweieinhalb Wochen. Länger konnte und wollte ich nicht auf Bear Isle bleiben.
Erleichtert setzte ich mich kurz darauf hinters Steuer und fuhr los. Der Wagen roch neu, obwohl der Meilenstand das Gegenteil bewies. Schon immer hatte ich die Vermutung, dass Autovermietungen ein Spray mit der Duftnote »Neues Auto« benutzten. Eine Mischung aus Leder- und Plastikaromen, um dem Fahrer vorzugaukeln, er hätte einen funkelnagelneuen Wagen gemietet. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte, dass es bereits nach Mitternacht war, und augenblicklich überkam mich eine überwältigende Müdigkeit. Seit den frühen Morgenstunden war ich unterwegs. Gleich nachdem mir der Bote den Briefumschlag mit dem grün aufgedruckten T überreicht hatte, war ich ohne Unterlass in Hektik. Ein Telegramm. Wer schickte heute noch ein Telegramm, hatte ich mich gefragt, während ich die wenigen Worte las, die mir gleichzeitig den Atem raubten. Gleich darauf hatte ich das Nötigste in meinen Koffer gepackt und war zum Flughafen geeilt, um den nächsten Flug nach Boston zu bekommen. Nun hatte diese Frau mich eine weitere Stunde Zeit gekostet. Mein Nacken schmerzte, und ich beschloss, heute nicht mehr die zweihundertfünfzig Meilen nach Bear Isle zu fahren.
In großen, rot blinkenden Lettern machte ein kleines Motel auf sich aufmerksam: Peabody's Inn. Ich nahm die Ausfahrt, parkte den Wagen vor der Rezeption und ließ mich kurze Zeit später in Unterhose und T-Shirt auf das harte Bett fallen. Das Essen, das ich im Flugzeug zu mir genommen hatte, rumorte in meinem Magen. Unruhig stand ich abermals auf und ging das Zimmer ab, in dem es viel zu warm war. Vor dem Fenster blieb ich stehen und schaute hinaus. Nur wenige Autos standen auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Vorsorglich vergewisserte ich mich, ob ich die Tür verriegelt hatte, und zog die Vorhänge zu. Nun war es stockfinster, und ich hoffte, gleich einschlafen zu können. Aber ich täuschte mich. Kurz war ich versucht, doch weiterzufahren. Aber das war keine gute Idee. Heute würde ich es auf keinen Fall mehr nach Bear Isle schaffen. Nach kurzer Zeit knipste ich die Nachttischlampe wieder an, deren Licht das kleine Zimmer in ein schauriges Gelb tauchte, und zog die Decke bis unters Kinn. Ich hatte schon immer Angst vor Dunkelheit und engen Räumen. Hätte ich mir wenigstens noch eine Flasche Rotwein besorgt. Während ich verzweifelt zu schlafen versuchte, dachte ich an meine Kindheit, an meine Mutter und an meine Schwester, die die Dunkelheit mochte. Ich hatte keine Erinnerung daran, wann mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass Emma anders war. Emma, meine große Schwester. Wenn wir abends in unseren Zimmern im Bett lagen und bereit für das abendliche Gebet waren, kam Mutter in unsere Zimmer. Emma bekam immer den ersten Gutenachtkuss, dann erst war ich an der Reihe. Stets mit dem gleichen Ritual. Mutter malte mit dem Zeigefinger ein kleines Kreuz über meine Stirn, dann hauchte sie mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Gute Nacht, Ally«, flüsterte sie stets, dann schloss sie den Rollladen, bis alles im Dunkeln lag. Aber Emma bekam nicht nur den ersten Kuss. Jeden Abend, wenn Mutter mein Zimmer verließ, hörte ich, wie Emma sie laut rief. Dann ging sie ein weiteres Mal über den Flur in Emmas Zimmer, und ich hörte sie flüstern. Ich hatte nie verstanden, was sie Emma sagte, bestimmt aber gab sie ihr einen weiteren Kuss. Ein einziges Mal nur hatte auch ich sie erneut gerufen, mit dem Ergebnis, dass Emma sie abermals rief. Es wäre wohl endlos so weitergegangen, und es hatte mir keine Befriedigung gebracht.
Besser war es, solange Emma und ich noch gemeinsam in einem Zimmer schliefen. Dann lauschte ich, nachdem Mutter das Zimmer verlassen hatte, den tiefen Atemzügen meiner Schwester, die ich zählte, bis ich selbst eingeschlafen war. Bis zu dem Tag, an dem ich unser gemeinsames Zimmer verlassen musste und mein eigenes bekam. Und obwohl es nur quer über den Flur lag, fühlte ich mich plötzlich alleine mit all meinen Ängsten. Ich wurde nicht gefragt, welches Zimmer mir lieber war. Es war klar gewesen, dass ich diejenige war, die das neue Zimmer bekam. Ich wurde nie gefragt. Immer nur sagte Mutter: »Du verstehst das doch, Ally.« Bei allem immer diese Worte: »Du verstehst das doch.« Dabei war ich doch selbst noch ein Kind. Seit diesem Tag schlich ich mich regelmäßig, wenn ich nachts in der Dunkelheit Angst hatte, hinüber in Emmas Zimmer.
»Emma, bist du wach?«, flüsterte ich in die Dunkelheit, und Emma antwortete in ihrer...
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