Schweitzer Fachinformationen
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Du hast keinen weiter angeguckt. Es wäre nicht möglich gewesen, ohne sofort einen Blick aufzugabeln, sie hätten alle gar nicht gewusst, wohin so schnell mit ihren Augen, hättest du aufgesehen, und du wolltest sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, nicht wahr. Die meisten hast du erkannt, schon am Gang, an den verschämten Flüsterstimmen, als sie in die Kirche gestolpert kamen, an den Händen und den gehegten Beerdigungsjacken, als sie wie kopflose Puppen auf einem altersschwachen Fließband an dir vorbeiruckten und kurz ihre rauhe Hand in deine kalte legten, um dann eine Winzigkeit länger bei Peter zu verweilen. Er stand lang und sprachlos neben dir, für einen Augenblick wusstest du, dass er nicht dein Bruder ist. Aber umgekehrt, nämlich, dass er sehr wohl der Sohn von Anna Hanske ist. Du bist die rechtmäßige Erbin, wie lächerlich. Wie lächerlich du da rumgestanden hast, mit Peter an vorderster Front, und dem Feind nicht ins Angesicht zu blicken wagtest und nur an deine Rückendeckung dachtest. Du wusstest, dass Michael und Paul direkt hinter dir stehen, du hast dich an ihre Anwesenheit geklammert, ohne sie zu spüren, dein Rücken war kalt, als träten deine Hacken bereits auf freies Feld, als wären da nichts als Stoppeln, deine Familie abgemäht. Du hast dich nicht getraut, hinter dich zu greifen.
Der Pastor war dein Misstrauen nicht wert; als er dir die Hand gab, hast du in den graublauen Augen etwas gesehen, wofür du dir keine Entsprechung denken konntest hier und was dich an der Information, er habe den sogenannten Leichenschmaus befürwortet und organisiert, zweifeln ließ. Und warum hatte Peter das zugelassen? Das fragst du doch nicht ernsthaft. Aber du hast eine Weile gebraucht, um dahinter nicht nur die Wehrlosigkeit Peters zu sehen, sondern auch die Klugheit des Pastors.
Der Kuchen kam dir widerlich süß und schwer vor, er hat dich an die steifen, gerüschten Kindergeburtstagskaffeetrinken erinnert, bei denen es Muckefuck gab und man nicht krümeln durfte. Beim Anblick der Sahnetorte wurde dir stets übel, und du lehntest sie rundheraus ab, worauf man dir sowohl Undankbarkeit als auch Hochnäsigkeit vorwarf, »bei euch gibs wohl wat Bessres, wa«, und dir den Mund mit trockenem Sandkuchen stopfte, den man weder kauen noch schlucken konnte. Und so saßt du da, mit einem Klumpen im Mund, der dich stumm machte und dir den Atem nahm, der den Gaumen bedrängte und ein schmerzendes Gewölbe sein ließ und dir Tränen abpresste. Du wolltest keine Heulsuse sein. Du warst auch keine. Du hast nicht geweint, als Süwerts Hund dich gebissen hat und du die Tollwutspritze in den Bauch bekamst; du hast vor ihnen nicht geweint, als das Blut dir aus der Schulter spritzte, an der das neue Messer stolz ausprobiert worden war; du hast nicht geweint vor ihm, damals, nachdem. Wieso hättest du das ausgerechnet jetzt ändern sollen.
Aber du hast auf einmal gewusst, als du den Kuchen mit dem sauren Kaffee runtergespült hast, dass es gut war, dass sie ihn gebacken hatten, für Anna Hanske. Dass es gut war, dass sie alle hier herumsaßen und an Anna Hanske denken und auf Anna Hanske trinken mussten, dass der Pastor es verstanden hatte, sie in ihren eigenen Bräuchen zu fangen. Anna Hanske war unter der Erde. Aber hatte es dort bequemer als die hier, wie verspätete Gäste, an ihrem Tisch, wo man sich ja immerhin anständig, immerhin benehmen musste, und Anna Hanske konnte endgültig kein gutes Benehmen mehr abverlangt werden.
Dieses Haus ist dir fremd. Hier hast du nicht gewohnt, zwischen diesen wurmstichigen Schränken, unter diesem schweren Dach hast du keinen Schlaf gefunden, hast du sowieso nicht. Welcher von den Balken hat einen Hauch deines trostlosen Atems, eins deiner Moleküle gespeichert? Es muss alles gelöscht worden sein, als du begonnen hast, dieses Haus aus dir Schicht für Schicht zu löschen, bis es nur noch wie ein Abziehbild auf einem durchsichtigen Hintergrund klebte, wie die zarten, knittrigen Blumenbilder auf dem Spiegel in deinem Mädchenzimmer, bunter getrockneter Schneckenschleim, unberührbar, es muss begonnen haben, bevor du das Haus verlassen hast. Vielleicht war das der Grund dafür, und wieder verwirren sich Ursache und Folge, und wieder versuchst du vergeblich, in diesen schlingernden Kreisen einen Anfang zu erhaschen. Lass das. Verkauf es, so schnell wie möglich. Es ist deines Bleibens hier nicht länger. Als nötig.
Als sie weg waren, bist du gedankenlos zu der Ecke gegangen, in der immer der Besen stand, und du hast ihn dort, nicht verwundert, gefunden und die Krümel von den Dielen gefegt, »ein Teppich kommt mir nicht ins Haus, so ein Dreckfänger«, hatte Anna Hanske, ja, deine Mutter, auch öffentlich, gesagt und gelacht über die Putzteufelinnen, die nicht ahnten, was in ihren Persern hauste. Dass die sie ihrerseits auslachten, wenn auch ohne Lust und nur mit Häme, wegen ihrer nackten Dielen, tat ihrer Heiterkeit keinen Abbruch, im Gegenteil. »Die Nachbarn machen immer die beste Komödie«, sagte sie. Ja, hast du gedacht, besonders wenn wir die Nachbarn sind.
Peter war sofort und entschieden gegen eine Schenkung, das Wort erschien dir selber maßlos übertrieben, du hast versucht, es nüchtern, deutlich, rechtlich auszusprechen bei diesem Telefonat, das dir nach mehr als zwanzig Jahren wieder die Stimme deines Bruders an dein, in deinem Ohr, wie soll dieser Satz zu Ende gehen? Er hat dich gefragt, ob du inzwischen mit Akzent sprichst. Du musstest dir eingestehen, dass du die Stimme nicht sofort und selbstverständlich als die deines Bruders erkannt hättest. Auch nicht, wenn da noch Spuren des einstigen Stotterns gewesen wären, mehr, als diese kaum merkliche Achtsamkeit. Du könntest sagen: Er ist nicht dein Bruder. Und dass du nur deshalb das Wort >Schenkung< in den Mund nehmen musstest wie ein Fremdwort, das einem dann peinlich ist, weil der andere es nicht versteht, weil man das vorher wusste. Dass du nur deshalb sagen musstest: »Ich dachte, du könntest es vielleicht brauchen.«
Du hast nicht einen Moment angenommen, Peter könnte das Haus bewohnen wollen, so ein Wille wäre dir abwegig vorgekommen, dir. Peter sagte, er brauche nichts, er sei zufrieden mit seiner Wohnung in Neubrandenburg, es gehe ihm gut. Du hast versucht, dir vorzustellen, wie gut es ihm geht mit seiner Neubrandenburger Wohnung, in der er mit seiner Neubrandenburger Frau lebt, von der dir aber nie eine Vorstellung geglückt ist, und erst recht nicht von seinen zwei Kindern, es waren doch zwei, oder.
»Ich dachte, du könntest es verkaufen«, sagtest du. Peter lachte, und du hast dich durchaus geärgert, durchaus wie früher, wenn er sich freundlich, überlegen über die abwegigen Ideen der kleinen Schwester mokiert hatte. Du hattest durchaus den Eindruck, in seiner brüderlichen Stimme liege eine Zufriedenheit, und zwar darüber, dass etwas, worauf er lange gewartet hatte, endlich eingetreten sei, als er sagte: »Nein. Verkaufen kannst nur du es.«
Er stand allein, ernst und in Schwarz, im Ankunftsbereich in Tegel, du warst erleichtert, ihn gleich erkannt zu haben, »it's him«, hast du zu Michael und Paul gesagt und in Richtung des unbeweglichen Mannes jenseits der Scheibe geblickt, der in deine Richtung sah und kein Zeichen des Erkennens gab. Dir fiel das Wort >unverwandt< ein. Du hattest kein schlechtes Gewissen, du fühltest dich mit deinem Unbehagen im Recht, denn du hattest nachgerechnet, dass die Zeit, die ihr verwandt miteinander, zum Miteinander verwandt habt, bereits von der Zeit, in der ganze fünf Briefe als seidene Fäden zwischen euch hin- und hergegangen waren und versucht hatten, das KÜNSTLICHE GESTRICKE zusammenzuhalten, um ein wenig, aber doch unsagbar deutlich geschlagen worden war. Michael fragte dich, ob er auch etwas Schwarzes hätte anziehen sollen. »Maybe«, hast du gesagt, und er murmelte einen Vorwurf. Paul war seltsamerweise völlig in Schwarz, was dir gar nicht aufgefallen war, weil er oft dunkle Sachen trägt, und du hattest es aufgegeben, ihm zu sagen, wie blass es ihn mache. Es war nur dumm, weil es nun aussah, als trüge er es zur stummen Zurechtweisung seiner respektlosen Eltern, es wirkte, wenn auch unbeabsichtigt, so aufgesetzt, dass du ärgerlich dachtest: Er kannte sie doch gar nicht. Und wie gesagt, du hattest kein schlechtes Gewissen.
Als du auf Peter zugingst, hast du dich dicht an Michaels Seite gehalten; der Gepäckwagen, den er vor sich herschob, war dir wie ein Schutzschild. Du hast Peter nicht angesehen, bis du vor ihm standest, du hast während des kurzen Weges auf das Geräusch deiner Absätze gelauscht und sinnlose kleine Dinge zu deinem Mann, deinem Sohn gesagt, auf die sie nicht geantwortet haben. Und dann habt ihr, Peter und du, im gleichen Moment Hallo gesagt, eure Stimmen gingen eine in der anderen unter, du hättest nicht sagen können, ob es tatsächlich Peter war, der dich begrüßte, ob tatsächlich du es warst, aus deren Mund ein »Hallo« kam. Und so warst du erschrocken, als du dein folgendes »Na« zwischen all den Stimmen um euch herum deutlich, überlaut hörtest, als wäre dir etwas Persönliches, ein Medikament, ein Tampon, durch Ungeschicklichkeit aus der Handtasche gefallen, auf das sich nun ausgerechnet die Aufmerksamkeit richtete, obschon sich niemand traute, es aufzuheben. Dann umarmte dich Peter. Durch sein schlechtes Aftershave hindurch, für das du sofort seine unbekannte Frau verantwortlich machtest, konntest du jenen Geruch wahrnehmen, der dich mit schmerzvollen, groben Stichen wieder an einen verblichenen Fetzen anheftete, den du dir vor langer Zeit mit einem Ruck abgerissen hattest, und er war erschreckend viel größer als damals. Peter gab Michael und Paul, die beide nicht wussten, ob sie lächeln sollten, die Hand, er sagte, ein wenig zu...
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