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Die unvergessliche Reise eines trauernden Sohns zum Grab des Vaters
"Sohn ohne Vater" erzählt auf mitreißende, eindringliche Weise von einem trauernden Sohn, vom Zusammenhalt einer Familie, der trügerischen Erinnerung und einer Reise in ein fremdes Land – zur Mutter und zum toten Vater.
Es ist früh am Morgen, als die Mutter anruft, um ihm zu sagen, dass sein Vater gestorben ist. Der Erzähler weiß nicht, was er tun soll. Er ist allein in seinem Schmerz. Wer kann ihm helfen, wer ihn trösten? Nach und nach wird ihm klar: Er muss in die Türkei. Er muss zu seiner Mutter, muss sie stützen – und am Grab des Vaters stehen, um sich von ihm verabschieden zu können.
Der Erzähler, ein Schriftsteller aus Kiel, leidet unter Flugangst. Er bittet zwei Freunde, ihn mit dem Wohnmobil mitzunehmen. Gemeinsam planen sie die Reise: über Linz, Szeged und Edirne bis nach Edremit und zurück. Über fünftausend Kilometer. Es ist der Beginn eines abenteuerlichen, fiebrigen Roadtrips quer durch Europa, der geprägt ist von den flirrenden Erinnerungen an den Vater und seine vielen Leben: an den Ehemann, an den Akkordarbeiter, an den Geschichtenerzähler oder den Siebzigjährigen, dessen gefärbte Koteletten eine ganze Feriensiedlung in Aufruhr versetzen konnten.
Mit seinem neuen Roman stellt sich Feridun Zaimoglu die Frage, wie wir jene erinnern, die uns am nächsten stehen und uns doch manchmal seltsam fremd erscheinen, die uns lieben und prägen, um die wir uns sorgen – und die wir trotz allem irgendwann einmal gehen lassen müssen.
"Alles wahr, wenn auch auf ganz besondere Art: Feridun Zaimoglus Roman 'Sohn ohne Vater' ist ein Fabulierkunstwerk, zusammengehalten vom Handlungsfaden einer phantasmagorischen Trauerreise in den Süden."
Meine Mutter ruft mich in aller Frühe an. Sie sagt: >Dein Vater ist tot. Er ist zum Gerechten geschritten.< Sie sagt nicht: >Er ist zum Herrn gegangen.< Ich staune über ihre Worte, ich schaue stumm auf den Bildschirm meines Mobiltelefons. Ich lege mir die Hand auf den Mund, damit sie nicht bemerkt, dass ich mit den Zähnen knirsche. Ich erfahre, dass er wegen der strengen Seuchengesetze noch heute begraben wird. In drei Monaten wäre er neunzig geworden. Mein Vater ist tot. Gott hat es so gewollt. Ich darf nicht denken: Das ist eine Strafe Gottes. Ich muss es ertragen. Wer an Ihn glaubt, muss die Bitternis ertragen.
Mutter erzählt: >Sie haben ihn abgeholt, gestern Vormittag, sein Fieber stieg, er konnte nichts bei sich behalten, der Nachbar, der Sanitäter, der Hausmeister, sie hoben ihn vom Bett, der Hosenboden deines stolzen Vaters hing plötzlich durch und tropfte, ich machte ihn schnell sauber, ich wickelte das sauberste Tuch im Haus um seine Lenden, sie trugen ihn weg, die Zugehfrau ging mit, ich drückte ihr das Zweittelefon in die Hand, und nur wenige Minuten später rief ich an, sie hielt ihm das Telefon ans Ohr, ich sagte: Du fehlst mir jetzt schon, und er schrie, er schrie gegen die Angst, mein stolzer Mann schrie aus voller Kehle: Du fehlst mir auch!<
Das ist nicht zu ertragen. Es schüttelt mich. Meine Mutter schluchzt nur einmal auf. Sie muss auflegen, es klingelt bei ihr an der Tür. Ich stehe auf, ich gehe durch die Räume, ich sage: >Es weht der Gotteswind übers öde Land. Ich bin unbedroht von den stockenden Schatten.< Woher kommen diese Worte? Das ist kein Gebet. Mein Vater ist tot, meine Mutter ruft nach mir, ich muss mich auf die Reise machen. Ich kann wegen meiner großen Angst nicht fliegen. Ich stelle mir tausend Störungen vor, die Motoren bleiben stehen, die Maschine stürzt ab. Mein Herz vereist vor Entsetzen. Ich kann nicht Auto fahren. Das ist mir ein stinkendes Leben ohne meinen Vater. Er starb allein, unter einer Decke, in einem kleinen Zimmer im Krankenhaus, sein Herz zersprang. Das stelle ich mir vor.
Ich rufe meine Schwester an, sie hat es schon von meiner Mutter erfahren. Wir weinen, als wollten wir unsere Gesichter erbrechen. Wir haben keinen Vater mehr in diesem Leben. Wir wollen ihn wiederhaben. Schluss. Gottlos ist der Mensch, der den Toten beweint, auf dass er sofort wiederkomme. Woher kommen diese Worte? Nach einer halben Stunde beendet sie das Gespräch.
Ich gehe durch die Zimmer, ich denke: Wenn ich mich setze, stirbt mein Vater ein zweites Mal. Raus. Ich gehe durch verlassene Straßen, ich will keinem Bekannten begegnen. Am Standbild des Schwertträgers auf dem Rathausplatz bleibe ich stehen, ein Mann aus der Vorstadt steht bei der Statue, er erkennt mich als einen früheren Kunden. Er ist Friseur, fragt, was mit mir los sei. Ich sage: >Ich habe heute keinen guten Tag.<
Ich ziehe weiter. Hochschauen, das Blau des Himmels, wolkenlos, still. Ich werde als Nächstes sterben. Ich bin der nächste Tote. Tod. Das Wort würde ich mir gerne in einem Atem aus dem Mund rupfen. In der Fußgängerzone führen mir Kinder ein Kunststück vor: Sie rollen Lakritzschnecken auf, trennen sie in der Mitte in zwei lange Streifen, halten einen Streifen an einem Ende und stecken sich das andere Ende in den Mund, sie schlucken und schlucken, bis der Streifen fast zur Gänze in ihrem Mund verschwindet. Dann ziehen sie langsam daran, als würden sie eine Angelschnur aus dem Tümpel ziehen. Ich gebe ihnen eine Handvoll Münzen. Verhasste große Gefühle, verhasstes Unglück. Wo ist mein Vater?
Mutter ruft an: Vater wird bis zur Beerdigung nun doch noch ein ganzer Tag gewährt, dann muss er unter die Erde. Die Nachbarn helfen, der reichste Mann des Viertels hilft, die Frauen im Haus helfen, sie fragt: >Wo bist du, mein Sohn?< Ich starre blind in die Luft, und weil ich ungebührlich lange schweige, legt sie auf. Wie kann ich mich in den passenden Worten mitteilen? Zu spät. Ein Bekannter kommt mir entgegen. Er schaut mich grimmig an, als wollte er mich tadeln, weil ich ihn nicht grüße. Wir gehen aneinander vorbei.
Ich habe Augenrauschen, Lichtflocken verwirbeln mir die Sicht. Was hat Vater mir als Kind gesagt? Wenn du aus dem Haus gehst, zieh die Schuhbänder fest und streich die Hose an den Knien glatt. Ich halte mich daran.
Ich muss einkaufen: Nagellack gegen den Fußpilz meiner zuckerkranken Mutter. Chanel No 5, Eau de Parfum im großen Sprayflakon. Schokolode und Pralinen zum Verschenken. Für den Pinscherrüden meiner Mutter Lammlungenwürfel, Pansenhappen, Kaustangen, Ochsenziemer, also gedörrter Ochsenpenis. Keine Geschenke an meinen Vater. Geschenke an die Mutter. Was ist ziemlich? Sie wird sich in ihrer Trauer nicht parfümieren. Ein buntes Seidentuch. Bunt ist schlecht. Über ziemliche Geschenke denke ich später nach. Ich muss Ohrstöpsel einpacken, gegen den Lärm der Menschen auf den Straßen in der Nacht. Hygienetücher, Hygienespray, Seife, Handtücher, Cholesterinsenker, Blutdrucksenker, Vitamintabletten. Bücher: dicke Taschenbücher. Wie komme ich zu meiner Mutter? Wie komme ich zu meinem toten Vater? Die Türkei ist ein fernes Land. Ich streife weiter durch die Straßen, als ich auf die Uhr schaue, stelle ich fest, dass zwei Stunden vergangen sind.
Der Bus fährt mich vom Bahnhof in die Vorstadt. Wohntürme, besprühte Müllcontainer, alle jungen Männer sind angezogen wie Sportler beim Aufwärmen. Meinetwegen können sie sich in Trainingsanzügen nach ihrer Heimat sehnen. Sie spucken immer wieder aus, als würden sie mit dem Mund harnen. Es ist mir egal. Der Frisierladen des Bekannten in der Einkaufsstraße wirbt mit einem Herrenhaarschnitt für zwanzig Euro. Ich muss nicht warten, er bittet mich auf den Stuhl am Schaufenster, rasiert mir Schläfen und Nacken kahl. Das Schnitthaar am Boden besteht aus kümmerlichen Locken. Es läuft Popmusik mit Hall und Stimmenverzerrung. Das Telefon vibriert lange in meiner Tasche. Ich verzichte auf Wachs im Haar und Talkumpuder für den Nacken. Ich lege ihm den Geldschein und vier Euro Trinkgeld in die Münzschale.
Draußen, am zerriebenen Zebrastreifen, rufe ich meine Mutter zurück, ich kann den Blick nicht von den Blumenkübeln mit Blumenerde ohne Blumen lösen, was ist hier nur los, und dann, weil Mutter bemerkt, dass ich nicht bei der Sache bin, schließe ich doch die Augen, was ich sonst vermeide, es schließen nur die schlimmsten Schwindler, Täuscher und Witwentröster am helllichten Tag die Augen, ich öffne sie wieder. Ich bin auf einen Schlag alt, was soll mich erneuern nach seinem Weggang? Mutter erzählt, dass die junge Seele eines alten Toten, dass also die Seele meines Vaters, ungebunden und verwirrt, noch nicht in die andere Welt hineinrage, sie verbleibe noch in dieser Welt. Die junge Seele, ohne Haut und ohne Wunden, sehe auf die Lesebrille herab, auf die Tablettenschachteln, auf die Wollstrümpfe, auf das Duftwasser im Plastikzerstäuber, auf die Weste, die, einmal längs und einmal quer gefaltet, immer links am Fußende des Bettes zu liegen hatte, sie sehe die Zahnprothese, die der Arzt ihr über einen übergewichtigen Krankenpfleger habe zukommen lassen. Die junge Seele sehe herab und denke: Das ist mein Eigentum. Das ist jetzt, weil mein Leib nicht mehr ist, ein fremdes Eigentum. Das ist Besitz ohne einen Besitzer.
Mutter erzählt, dass sie in diesem Augenblick, in dem sie mit mir rede, auf die Kuhle im Kissen schaue, auf dem sein Kopf lag, bevor sie ihn hinaustrugen. Können Tote denken? Ja, weil auch sie Schmerzen haben, denn der Schmerz vergeht erst am Tag der Auferstehung. Ich sage mit fester Stimme: >Die Familie zerfällt nicht!< Mein Vater wurde nicht mit unbedeckten Lenden aus dem Haus getragen.
Ein Mädchen bläst trotz Mahnung der Mutter seinen Kaugummi auf, die Mutter droht dem Kind, ihm beide Arme zu brechen, wenn es nicht sofort damit aufhöre, sie wird auf mich aufmerksam, ich wende den Blick ab.
Die junge Seele ist keine schlafende Seele. Die junge Seele ist bei meiner Mutter. Ich sollte jetzt etwas sagen, ich sollte nicht dumm und dumpf schweigen, ich sage: >Bald bin ich da. Bald helfe ich.< Ich sage: >Jetzt sind wir im großen Durcheinander. Bald werden wir uns zu einer schönen Klarheit durchringen. Ich mache die frommen Übungen, für die Seele meines Vaters.< Sie hat aufgelegt, ich verübele es ihr nicht. Was rede ich da?
Zurück zu Hause. Der Tod ist innen. Ich habe Angst, dass er mir in der ersten Nacht nach seinem Tod erscheint. Ich ziehe an den Perlen der Gebetskette, ich stimme das Gotteslob an. Ich müsste alle Lampen einschalten, alle Lichter sollten brennen. Es ist nicht meine Aufgabe, den Platz meines Vaters einzunehmen. Hinten im Hof peitschen lose Kabel das Regenfallrohr am Gemäuer. Die Natriumdampflampe, die an gespannten Stahldrähten über der Straße hängt, schwankt im starken Wind.
Wieso muss ich gerade jetzt an den beschädigten Jungen denken? Wegen Vater. Man nannte den Jungen auch den verdrehten Jungen, der sich oft lauthals in Wiederholungen erging wie ein verrückter Tüftler. Es gab in der Feriensiedlung, in die sich meine Eltern damals eingekauft hatten, nicht wenige Männer, die ihn für einen maskierten Mathematiker hielten. Mein Vater mutmaßte, dass der Junge - gefangen in seinem Kopf, aber nicht gefangen in der Welt - die Menschen, unter denen er gezwungen war zu leben, für beschränkt hielt. Er war geistig behindert.
Einmal, nach einem besonders heftigen Anfall des Jungen, wandte sich der Krämer der Siedlung an die Männer, die auf den Bänken vor seinem Geschäft saßen, und sagte: >Die Nabelschnur hätte sich um seinen...
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