Schweitzer Fachinformationen
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Im Eingang des Schulhofs steht mein Lehrer, er schaut mir nach. Meine Vorderseite kann ich endlich vor ihm verbergen, und ich knöpfe meinen weißen Kittelkragen auf, halte beide Enden zusammen, damit er nicht abfällt. Bald wird Blut aus meiner Nase schießen, ich weiß es. Der Bonbonmann hat sich in seine Ladenhöhle zurückgezogen, die von einer Stoffserviette umwickelten Karamelstangen liegen wie Holzscheite im Schaufenster. Am liebsten würde ich stehenbleiben und sie lange ansehen. Dann kommt immer Herr Bonbonmann heraus, gibt mir einen Splitter Süßigkeit. Das Versprechen, das ich meinem Lehrer gab, muß ich einlösen. Sonst bekomme ich einen dritten Verweis und werde eine ganze Woche lang als schlechtes Mädchen angesprochen. Ich gehe weiter und immer weiter, halte den Mund so lange geöffnet, wie ich kann: der Bissen Staubkuchen knirscht zwischen meinen Zähnen. Der Himmel läßt Brot regnen in kleinen harten Teigkrümeln, und wer danach schnappt, kann glücklich werden oder sich daran verschlucken.
Als ich heraufschaue, um einen großen Brocken zu entdecken, nach dem ich greifen kann, sehe ich einen Fellbalg am Fenster im obersten Stock des Hauses, in dem der Schuldirektor wohnt. Er beult sich, es ist Leben in ihm, und plötzlich wird er abgeworfen und fliegt durch die Luft, ein Tierknäuel, ein Wolleball, ein Fell, das jetzt auf den Pflastersteinen vor dem Haus liegt. Fulya steht nackt am offenen Fenster, sie klatscht in die Hände.
Schaut her, schreit sie, zwischen meinen Schenkeln ist ein leckeres Rippchen. Kommt, schnappt es euch!
Ein Mann, den ich kenne, weil er den Mann meiner Mutter freitags zum Gebet abholt, wendet sofort den Blick ab und bittet den Herrn der Strafen, seine Kraft an unzüchtigen Kleinweibern zu zeigen. Zwei verschleierte Frauen beißen das Gesichtstuch fest, damit es nicht verrutscht, sie suchen nach kleinen Steinen im Staub und werfen nach der nackten Fulya. Sie zielen nicht richtig, sie treffen nicht richtig.
Auch ihr Rabenvögel könnt was haben, schreit sie von oben, saftig ist mein Rippchen, es schmeckt allen, mein Rippchen, werft mit Münzen, ihr blöden Vögel, nicht mit Steinen.
Sie verteilt Handküsse und preist sich, und dann trommelt sie auf dem Schätzchen, das ein Mädchen nicht vorzeigen darf. Ihre Mutter ist vom Einkauf zurückgeeilt, sie stößt einen Verzweiflungsruf aus und läßt in ihrer Wut die volle Tasche fallen.
Du Lästerteufelin! ruft sie, du meine Schande und mein Unglück! Zieh' dich sofort an, geh' da vom Fenster weg. Na warte, Mädchen, du kannst dich auf was gefaßt machen. Scher' dich ins Schamzimmer, sage ich, hörst du nicht, was für ein schwarzer Tag, mein Gott!
Komm' Leyla, schreit Fulya und dreht sich schnell um ihre Achse, lass' auch dein Rippchen sehen. Ihr Menschen und Männer! Ihr Mäuse und Rabenvögel! Klatscht meinem saftigen Rippchen zu!
Die Schleierfrauen laufen wütend weg, sie sind der kleinen Teufelin nicht gewachsen. Ihre Mutter verschwindet im Haus, und da Fulya weiß, daß sie eine Tracht Prügel bekommen wird, genießt sie die letzte Minute ihrer Verrücktheit.
Süße, rufe ich ihr zu, mach' jetzt lieber das Fenster zu.
Rippchen! Rippchen! Saftiges Rippchen!
Deine Mutter ist böse auf dich.
Sie soll doch mein Rippchen essen, schreit sie, und dann wird sie am Arm gepackt und in die Wohnung gezerrt.
Das vierjährige Teufelchen schreit auch unter den Schlägen seine lustigen Kinderverse heraus, ihre Mutter schließt schnell das Fenster, und ich gehe weiter. Fulya wird einige Tage Ruhe geben, sich dann aber wieder nackt am Fenster zeigen. Wegen ihr steht Senem Hanim in dem Ruf, besonders schamlos zu sein. Sie sollte nachts ihre Schlafzimmertür schließen, sagt meine Mutter, das Kind lauscht und merkt sich jedes Wort. Senem Hanim hat beteuert, daß sie wirklich nicht weiß, woher ihr Kind diese unaussprechlichen Worte aufgeschnappt hat. Keiner glaubt ihr, und sie läßt ihre Wut an Fulya aus.
Die Glasscheiben des Männercafés sind beschlagen, ich sehe nur Köpfe und Körper, aber kein bekanntes Gesicht. Ich klopfe so lange gegen die Tür, bis der Besitzer heraustritt.
Was willst du? sagt er.
Ist Halid Bey in deinem Haus?
Du willst deinen Vater sprechen? Komm' doch einfach rein.
Nein, nein, sage ich, ich warte lieber hier draußen. Kannst du ihm bitte Bescheid geben? Mein Lehrer wird böse, wenn ich zu lange ausbleibe.
Er verschwindet im Kaffeehaus, wenig später erscheint der Mann meiner Mutter - er blickt mich an, als hätte man sein Gesicht mit der schwarzen Erde vom Totenacker eingerieben. Er nimmt den Filzkalpak ab, kratzt sich am Kopf und setzt ihn wieder auf.
Was hast du Dummkopf hier zu suchen?
Hier, sage ich und zeige ihm das neue Schulheft, der Herr Lehrer möchte endlich das Geld dafür haben. Deshalb hat er mich zu dir geschickt.
Habe ich euch Drecksbrut nicht gelehrt, daß es für alles eine Frist gibt? Eine Frist für Demut. Eine Frist für Gehorsam. Und eine Frist, daß man den Hausherrn aufsuchen kann. Du willst Münzen eintreiben? Hier, ich gebe sie dir.
Sein geschwärztes Gesicht ist plötzlich ganz nah an meinem, der Atem, der seinem aufgerissenen Tiermaul entströmt, streift meine Stirn, sein Handrücken prallt auf meine Nase, und vielleicht möchte er das Leben aus mir pressen, oder er will, daß ich den Springtanz der Kinder aufführe, und er kann mich nicht darum bitten. Nach zwei Zuchtschlägen ist er verschwunden, mein Kittelkragen klebt mir am Hals, rot und naß. Rot und naß kehre ich um, ein Lämmchen stolpert im Klee, singt Yasmin, singt mich manchmal nachts in den Schlaf, und wenn ich mich neugierig aufrichte, drückt sie mich singend ins Bett, rot und naß gehe ich den Weg zurück zum Schultor, dort wartet mein Lehrer und mustert mich, die schnell zurückgekehrte Schülerin, und da er nicht spricht, sage ich: Ich bin unterwegs hingefallen und habe auch das Geld für das Heft verloren.
Das ist nicht mehr wichtig, sagt er, wir tun so, als hätte ich das Geld von dir bekommen. Können wir uns darauf einigen?
Ja, sage ich, das ist schön.
Ich bringe dich zu der Sekretärin, sie macht dich sauber, und ich glaube, sie schenkt dir auch einen neuen Kragen. Na, freust du dich?
Ja.
Er nimmt mich bei der Hand, nach zwei Schritten bleibe ich stehen und reiße mich los. Ganz bestimmt werden sie mich ausfragen, meine Zunge muß gelähmt bleiben, immer dann, wenn man von mir Antworten verlangt, die ich nicht geben darf. Meine Schultasche ist noch im Klassenzimmer, ich kann nicht, ich kann nicht, und ich laufe weg, mein Lehrer ruft mir hinterher, ich kann nicht, ich springe über die großen Steine, über die man leicht stolpern kann, mit Kram und Tand kann man dich locken, sagt meine Mutter, und einen Tandkasper nennt sie mich, du bist ein Kramkasper, weil du den Himmelszauber auf den Straßen aufsammelst und heimbringst, halte still, sei nicht so aufgeregt, ich kann nicht, ich kann nicht.
Ein Bergbach fließt durch den Garten hinter unserem Haus, eine Kratzspur Gottes, in dem sich Wasser gesammelt hat, jedes Haus hat sein Rinnsal. Wenn Djengis mich ärgern will, erzählt er das kurze Märchen: Gott habe in schlechter Laune hingespuckt, und wir Menschen würden Gottes Spucke trinken, und unser Durst würde den Herrn immer an die Stunde seiner Mißgunst erinnern, aber Er vergesse sowieso nichts und niemanden. Ich kann nicht, ich kann ihm nicht glauben.
Aus Stroh und Lehm sind die Wände unseres Hauses. Wir bewohnen die ebene Erde, über uns und unser Leben hat eine andere Familie einen Boden geschichtet, damit sie uns mit einer Decke beschenken und versiegeln kann. Manchmal beobachten sie mich von oben, doch heute rührt sich keine Gardine. In gebückten Kindersprüngen bewege ich mich um das Haus herum, lege mich auf den Bauch, meine Lippen berühren das treibende Wasser, und der erste Schluck ist wie Karamel im Mund. Ist wie ein Mund voll Zuckerwürfel, ein Mund voll Süßteig, ist wie Puderkaramelzucker im Mund. Ich tauche meinen Schulkragen in den Bach vor meinen Augen, in dünnen Schlieren geht mein getrocknetes Nasenblut ab, rosa bleiche Schlangenlinien, die verschwimmen, verfärben und verschwinden. Mein Kopf im Bach: meine Blindheit im Wasser ist eine Dunkelheit.
Djengis flämmt mit seinem Feuerzeug die Härchen auf seinem Oberarm ab. Die schwarz verpfropften Haarenden reibt er ab, das Gekrispel färbt seine Fingerkuppen. Die amerikanischen Filmhelden sind unbehaart, und die schönen Gazellen der Nachbarschaft begehren leicht beflaumte junge Männer. Tolga findet es nicht lohnend, seinen Körper nach den Ideen der Modegecken zu formen: Er sitzt neben seinem Bruder, schaut ihm verwirrt zu. Über seine neuen Schuhe, die es im Basar billig in Einheitsgröße gibt, kann er sich so recht nicht freuen. Er hat die Fersennähte aufgetrennt, das Leder drückt aber den Spann, und aus alter Gewohnheit rollt er die Zehen ein. Nächstes Jahr ist Gott großzügiger. Sagt die Mutter. Jetzt kommt sie ins Zimmer, die Zofe, die Magd, die Bettlerin. Da uns der Prügler keine Schandohren aufgesetzt hat und wir nicht fürchten müssen, daß das Böse auf unsere Köpfe prasselt, sind wir ruhig: Er ist weg, er geht seinen Geschäften nach. Nach einem langen Blick aus dem Fenster setzt sich meine Mutter auf den Erddiwan, tunkt einen harten Brotkanten ins Wasser und saugt und nagt so lange, bis sie einen Bissen abbeißen kann. Es ist ihr Frühstück an diesem Morgen.
Yasmin und Selda werden in Nadelkünsten unterrichtet, sie besuchen das Institut für weibliche Handfertigkeiten. Der Mann meiner Mutter wollte sie erst nicht in die Unzucht entlassen. Senem Hanim suchte ihn auf und sagte: Deine Töchter...
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