Schweitzer Fachinformationen
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Alles fing im Apple Store an. Harvy entdeckte auf einem der Holztische das neue iPhone: dünn und leicht sah es aus, silbergrau leuchtete es ihm entgegen. Er befühlte sein altes in der Hosentasche, seine Finger glitten über den Sprung im Display. Manchmal brachen die Anrufe mitten im Gespräch ab oder es kam erst gar keine Verbindung zustande. Vielleicht bockte der Akku oder was auch immer. Selbst Jeff vom Handy-Hospital hatte nur ratlos den Kopf geschüttelt, und Jeff war eine Koryphäe.
Bei seinem Job als Fahrradkurier hatte das unsägliche Gerät Harvy schon manchen Auftrag gekostet. Und auch in dem Coffee-Shop, wo er arbeitete, sorgte es immer wieder für Unmut, wenn Chefin Clarice ihn nicht erreichen konnte. Sollte er den Coffee-Job verlieren oder von den City Bike Messengers keine Aufträge mehr erhalten, wäre alles aus. Sein kompliziertes, sorgsam aufgebautes Musikerleben würde in seine Einzelteile zerfallen.
Das schlanke Ding auf dem polierten Tisch funkelte Harvy verschwörerisch an. Aber er war blank. Eigentlich war er blanker als blank, gerade stotterte er Schulden ab, und die waren nicht klein. Doch wenn nicht alles noch schlimmer werden sollte, wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, aus diesem verfluchten Schlamassel herauszukommen, dann brauchte er ein neues Handy, eines, das tadellos funktionierte.
Er schielte auf das glänzende Teil, hatte Lust, es zu schnappen und einzustecken, aber Dutzende von Apple-Mitarbeitern standen in blauen T-Shirts um die Tische herum, es wäre Wahnsinn, einfach zuzugreifen und das Telefon in der Jackentasche verschwinden zu lassen. Gewiss würde der Alarm losgehen, wenn er es vom Kabel losmachte, oder ein Kunde würde es bemerken und einen Mitarbeiter rufen. Überall waren Kameras. Sicher gab es Ladendetektive. Es war aussichtslos. Kamikaze.
Jennifer zupfte ihn am Ärmel. »Komm, lass uns gehen«, drängte sie. Jennifer hatte ihn über die Marmortreppe auf die Galerie der Grand Central Station gelockt, in diesen gigantischen Apple Store, den größten, den es gab. Nun blickte sie hinunter zur goldenen Uhr, die immer vorging, auf das Gewusel der Pendler, die zu ihren Zügen nach Poughkeepsie und New Haven hetzten, und dann hoch zum Deckengewölbe, in den türkisfarbenen Sternenhimmel mit dem kleinen schwarzen Fleck, der an den jahrzehntelangen Qualm im Bahnhof erinnerte. Harvy sah auf das iPhone.
»Einen Moment noch«, erwiderte er. So einfach wollte er sich nicht geschlagen geben. Dass das neue iPhone so offen dalag und sich seiner Hand geradezu anbot, provozierte ihn. Es dort zu lassen, wäre feige. Die Vorstellung, das Unmögliche zu wagen und es einzustecken, war ungleich reizvoller. Er liebte dieses Herzklopfen und den Kitzel, die sich jedes Mal einstellten, wenn er zugriff. Außerdem war das Gerät unentbehrlich, um ihn aus dem Strudel zu ziehen.
Natürlich wusste er, dass das Ganze eigentlich nicht ganz richtig war - er stahl. Aber ließ die Firma Apple die Geräte nicht in China zu widerwärtigen Bedingungen herstellen? Mussten die chinesischen Arbeiter nicht unter menschenunwürdigen Umständen Handyteile zusammenbauen, ohne Pinkel- und Kaffeepause, zwölf Stunden am Stück, für einen Hungerlohn, für den er keinen Finger rühren würde? Dem Unternehmen gegenüber, das im großen Stil Moralverstöße betrieb, um den Gewinn zu maximieren, waren Skrupel nicht angebracht. Er kämpfte ums Überleben, niemand konnte ihm ernsthaft etwas vorwerfen. Mit dem gesunden Menschenverstand war die klitzekleine Umverteilung durchaus nachvollziehbar.
Ja, er war in Therapie. Stunde um Stunde saß er bei einem Shrink ab, und zusammen versuchten sie, Harvys Griffe und seine Glücksgefühle dabei zu erklären. »Pathologisches Stehlen« lautete die Diagnose, die Doktor Cohen stellte. Seit Harvy ein einziges Mal erwischt worden war, bewahrte ihn das Straflager auf der Couch immerhin vor dem Gefängnis.
Doktor Cohens Fimmel jedoch, minutenlang nichts zu sagen außer »Fahren Sie bitte fort« und danach alles auf seinen Vater zurückzuführen, der für eine Spritztour einmal einen Cadillac geknackt hatte, war Harvy von Anfang an genauso auf den Wecker gegangen wie seine Theorien über abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle. Dass das Stehlen eine Ersatzbefriedigung für unterdrückte Wünsche sei - ein Witz! Dass die entwendeten Objekte bloß einen symbolischen Wert besäßen und auf verdrängte Bewusstseinsbereiche hinwiesen - absurd! Wenn er jetzt nach diesem iPhone griff, dann, weil das seine Rettung war, weil er sonst seine Jobs verlor und sein Leben auseinanderfiel.
Jennifer warf ihm ihren Na-was-ist-denn-los-Blick zu. Doch er brauchte noch ein bisschen Zeit. Er lächelte entschuldigend zurück. Jennifer trug ein blaues Kleid und braune Pumps, die laut auf dem Marmorboden klackerten. Ihr langes rotes Haar umrahmte ein hübsches Gesicht mit Wangengrübchen. Jeder halbwegs normale Mann hätte sich in sie verliebt.
Vor Kurzem hatten sie sich auf einer Partnerbörse kennengelernt. Jennifers E-Mails waren charmant und einfallsreich gewesen. Aber das Internet und die Realität hatten sich schnell als zwei ziemlich verschiedene Paar Stiefel erwiesen.
Er fühlte ein Kribbeln im Bauch. Dass Jennifer bei diesem ohnehin riskanten Einsatz dabei war und nichts ahnte, befeuerte ihn zusätzlich. Er überlegte, ein billiges Kabel zu kaufen, um das Verkaufspersonal abzulenken, dann scheinbar absichtslos durch den Laden zu schlendern und im richtigen Moment zuzugreifen. Aber vermutlich ging es auch ohne dieses Manöver. Er sah sich um, einen Augenblick war kein Verkäufer in der Nähe, ihm gegenüber hatte sich ein Chinese in eine App vertieft und ein Schwarzer spielte mit einem anderen Gerät. Er wandte sich mit dem Rücken zu Jennifer, damit sie nichts sah, und nahm das silbergraue iPhone in die Hand. Er fühlte die abgerundeten Kanten, fühlte, wie glatt es war, leicht wie eine Hostie. Wenn er es vom Kabel zog und der Alarm losginge, würde er es gleich wieder festmachen und so tun, als sei es ein Versehen gewesen. Mit Daumen und Zeigefinger fasste er das weiße Kabel und befreite das Telefon von seiner Nabelschnur. Harvy hielt den Atem an. Nichts tat sich, kein Alarm, kein Piepsen, gar nichts. Der Chinese war noch immer versunken, der Schwarze auch. Die nächsten Blaushirts standen ein paar Tische weiter hinter einer Theke im angeregten Gespräch mit Kunden. Rasch ließ er das Gerät in seiner Jackentasche verschwinden. Er spürte die wunderbare Leichtigkeit in seiner Tasche, gleich darauf bemerkte er die Blicke eines Mitarbeiters, der ihn musterte. Der Mann schaute wohlwollend, offensichtlich hatte er nichts mitbekommen. Eine Woge des Glücks überwältigte Harvy, er hätte weinen können vor Freude, und nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, immer wieder in die Jackentasche zu greifen, um zu spüren, wie sich das Ding anfühlte.
Er winkte Jennifer, spazierte lachend zu ihr und den iPads hinüber, wollte sie galant hinausführen, als der Alarm doch noch losging - genau dort, wo er gestanden hatte. Verdammt!, fluchte er in sich hinein, und sogleich standen bei der Marmortreppe, über die man den Shop verlassen musste, verkabelte Sicherheitsleute, kahl rasierte, stiernackige, im Fitnessstudio gestählte Kraftpakete, die mit ausgesuchter Freundlichkeit die Taschen und Jacken von allen Hinausströmenden untersuchten. Verdammt!, schimpfte Harvy immer wieder im Stillen und fragte sich, ob es einen anderen Ausgang gab. Weiter hinten, in der nächsten Galerie, befanden sich eine Treppe und ein Lift, aber die führten zu den Büros der Blaushirts und in die Reparaturabteilung. Von der hintersten Galerie hätte man über ein Mäuerchen auf die Rolltreppe, die vom Metlife Building in die Halle führte, hinunterspringen können, aber das war zu waghalsig.
»Was ist denn hier los?«, fragte Jennifer überrascht, als sie die Security-Leute bei der Marmortreppe entdeckte.
»Keine Ahnung. Hat wohl jemand etwas mitgehen lassen«, versuchte er so beiläufig wie möglich zu erwidern.
Er musste handeln. Er konnte das iPhone irgendwo unauffällig ablegen, aber wenn das jemand bemerkte, war er geliefert. Er konnte es Jennifer in die halb offene Tasche schmuggeln. Oder er könnte versuchen, in seiner Jackentasche das vergilbte, speckige Lederetui seines alten iPhones unauffällig über das neue zu stülpen, in der Hoffnung, sich so bei der kahl rasierten Rübennase vorbeizumogeln, die nur darauf zu warten schien, auch dem ehrenwertesten, mit ethisch hohen Standards versehenen Umverteilungsaktivisten den Schädel einzuschlagen.
»Ich muss mal zur Genius Bar, ich habe noch eine Frage zur neuen Bike App, bin gleich wieder da«, sagte er zu Jennifer, die sich über sein Zaudern zu wundern begann, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er verschwand in der kleinen Halle zwischen den Galerien, wo sich weniger Leute aufhielten und wo er glaubte, die Etui-Warenbewegung ungestörter vornehmen zu können. Ein blutjunger Verkäufer, der beim Lift stand, ein Babyface mit unschuldigem Ausdruck, beäugte ihn skeptisch, und ein vierschrötiger Kraftprotz bei den Computertischen gaffte ihn aus dumpfen Augen düster an, so dass er während des Etuiwechsels spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Auch im Nacken fühlte er den Schweiß, der ihm über den Rücken in die Unterhose rann. Aber in der Jackentasche lief alles glatt, und wenn die Security-Leute bei der Treppe, wie er annahm, ein bisschen bescheuert waren, dann hatte er eine Chance. Wenn die Kahlköpfe allerdings doch nicht so auf den Kopf gefallen waren, wie sie aussahen, dann gute Nacht, dann gab es, ganz zu schweigen von der Demütigung vor Jennifer, eine Anzeige, ein...
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