Schweitzer Fachinformationen
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Nebelschwaden umlagerten noch Haus und Hof. Selbst während der heißesten Monate stülpte sich diese milchige Masse wie hergezaubert so um vier, fünf Uhr in der Früh plötzlich über das enge, gewundene Tal, das womöglich nur wenig zuvor noch wie entkleidet in einer kristallklaren, silbernen Vollmondnacht gelegen hatte. Es ist gegen Norden hin offen und saugt, eigenartigerweise vor allem im Sommer, wie ein Trichter allerhand Feuchtkühles widerstandslos in sich auf. Dessen Pegel erreicht und nimmt natürlich auch den Buckel, auf dem das Gehöft liegt, mit links. Zwar verschwindet alles kurz vor oder nach Sonnenaufgang ebenso plötzlich wieder, wie es gekommen ist - doch das half Manfredo wenig; denn genau während dieser dumpfen, frostigen Zeit musste er zu den Schafen. Er, der Älteste - er allein. Seine Eltern schliefen meist noch, ebenso seine beiden Brüder. Diese hätte er am liebsten eigenhändig aus den Federn gerissen und gleich noch gewaltig abgespritzt, so unbekümmert schlummerten sie trotz des gnadenlosen Gepiepses seines Weckers weiter, ja ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge schienen ihn richtig zu verhöhnen. Immer nur er musste hinaus, hinaus zum Schafgehege, musste mühsam ein paar wenige Liter Milch aus Wollknäueln pressen, die vor Müdigkeit noch kaum auf allen Vieren zu stehen vermochten. Die ungelenken Damen stupsten sich dauernd, stolperten, purzelten beinahe übereinander, während er, über sie gekrümmt, an ihren schwabbligen Eutern mehr zerrte als zog. Zum Heulen war das, zum Davonrennen! Doch wohin, wohin zum Teufel sollte er denn rennen? Er hatte ja keinen andern Beruf erlernt, und der Vater würde erbärmlich fluchen, wenn die Arbeit nicht rechtzeitig erledigt war. Also band er halt sein starkes, welliges, schwarzes Haar, das ihm gut bis auf die Schultern reichte, wie üblich zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlich aus dem Zimmer.
Draußen klingelte ihm seine Arbeit nun vollends schonungslos entgegen; sie drängelte und pustete bereits im Unterstand. Ein liebliches Bild wohl, wenn man nicht gerade zu melken hatte. Die Schweizer und Deutschen, die alle Jahre hierher kamen, würden wohl, sollten sie doch einmal zufällig zu dieser Unzeit erwachen, durch dieses sanfte Geläut gleich wieder eingelullt und prall mit Begeisterung gefüllte Ansichtskarten aus dem "toskanischen Paradies" nach Hause schreiben. Sie kannten es ja nur im Sommer. Von Schlottern draußen wie im hohen, schlecht geheizten Schlafzimmer hatten die keine Ahnung! Am Abend, wenn sie, noch feucht vom erfrischenden Bad, vom nahen Bewässerungsweiher herunterkamen, schauten sie ihm jeweils zu, interessierten sich leidenschaftlich für die Käseherstellung, fanden seine Plackerei oft nicht weniger idyllisch als den zwar einst künstlich angelegten, jetzt aber üppig eingewucherten kleinen See. Manchmal grinsten sie gar noch, wenn er wegen der zahllosen Bremsen, Flöhe und Mücken Gott und die Welt verfluchte. Am liebsten würde er ihnen dann an die Gurgel springen, allen zusammen und gleich mehrmals - aber dafür war er bei weitem zu schüchtern. Auch taugte sein schmächtiger Körperbau zu derlei Kraftakten nicht, und die Folgen wären ohnehin nichts als Scherereien.
Sogar beim Fluchen schimpfte er ja fast nur in sich hinein, holte die unwirschen Silben wieder wie in seinen Schlund zurück. Darüber wiederum regte er sich maßlos auf, zog er doch so Giacomo, seinem mittleren Bruder, gegenüber, der auf diesem Gebiet nicht die geringsten Hemmungen hatte, immer und immer wieder den Kürzeren. Damit hatte er natürlich noch mehr Grund, in sich hineinzufluchen. Weil er einfach nicht fluchen konnte, nicht wirklich fluchen konnte, auch diesmal nicht - und schon schloss sich inmitten der Schafe unter leichten Krämpfen, aber ohne Aufhebens ein wunderschöner, allerhöchstens etwas schweißtriefender Teufelskreis.
Die Kessel schepperten. Die Luft war eigentlich würzig und nur um zwei, drei geringe Morgengrädchen zu kühl; die Nebel hatten sich verzogen und der Himmel wölbte sich schwarzblau zu seinen orange-grünen Rändern hin - doch was half das, wenn man in dem engen Gehege kauerte, wo nur die zwei, drei kühlfeuchten Morgengrädchen blieben? Giacomo würde heute ohnehin nach Sardinien abreisen, und Gabriele, der Jüngste, auf dem besten Wege, tatsächlich Geometra (Vermesser) zu werden, war mit seinen Abschlussprüfungen vollauf beschäftigt. Er half ohnehin schon längst nicht mehr auf dem Bauernhof. Zurück blieb nur Manfredo. Allein.
Allein mit dem Vater, der sich wegen seines willfährigen Asthmas nicht bücken konnte. Schuld daran waren die Minen - überhaupt der Norden, das Ausland. Aber wenn es ums Kommandieren oder ums Abkanzeln ging, dann fehlte ihm die Luft nie. Allein auch mit der feingliedrigen Mutter, die andauernd wegen jedem und allem in Sorge war, oft nicht ohne Grund - aber ohne dass ihre Kümmernis dem Sohn auch nur um ein Jota weitergeholfen hätte.
Lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Nein, ganz bestimmt nicht! Die große weite Welt jenseits der Hügelzüge lockte. Arezzo lockte. Schließlich fehlte es in dieser südtoskanischen Hunderttausendseelenstadt an nichts, was eine Stadt zu Stadt, ja zu Welt macht. Kinos, Geschäfte mit prallvollen Auslagen, Unmengen Verkehr zu Stoßzeiten, Gesetze, die zu übertreten sich lohnte, In-Lokale mit In-Mädchen, Drogen, Nutten nicht nur wie hier am Straßenrand oder wie in den Filmen im Fernsehen in jenen Nachtlokalen, wo sie dich, irgendwelche kolumbianische oder asiatische Schönheiten, zum Champagnersaufen verführen und nachher, wenn das Lokal schließt . Doch auch diese nahe große weite Welt war nur für Geld zu haben, für nicht eben wenig Geld. Und mit dem, was man vom Schafskäse, den Lämmern und den paar Knäueln Wolle und vor allem aus dem Geldbeutel des Vaters abbekam, war halbwegs Staat nur in Palazzo del Pero, dem nächsten Kaff, zu machen. Daran änderte auch nichts, dass der Käse als der beste weitherum galt und die Lämmer zu Ostern oder Weihnachten schnell zu Mangelware wurden und tatsächlich überaus lecker schmeckten, besonders wenn man sie am Kaminfeuer schmorte. Schafe sind dumm, und dumm sind jene, die sich um sie kümmern. Zudem ist man zwar von hier, hier in der Nähe geboren, hier aufgewachsen - und doch nicht von hier. Sardinien gehört zu Italien, bekanntlich, aber Sardinien ist Sardinien, und die Toskana ist die Toskana: Sardo-bastardo und so. Ihr redet ja zu Hause eine andere Sprache, und so. Fresst hauchdünnes Fladenbrot, carta musica, schöner Name zwar, aber die Schafskeulen schauen euch schon zu den Ohren hinaus. Seid klein wie Südländer und Diebe obendrein, ganz besonders die aus der Provinz Nuoro . - Mal, da waren wir in Sardinien, am Meer natürlich, da haben wir einen Ausflug ins Innere gemacht, haben den Wagen nur eben mal hingestellt, um uns die Aussicht ein wenig anzusehen; eine Dreiviertelstunde später kommen wir zurück, und - dass sie uns die Fensterscheiben und die Räder noch gelassen haben, das war ja grad ein Wunder! Alles andere war weg, aber wirklich alles! Zum Glück hatten wir noch einiges im Bungalow am Meer zurückgelassen, aber trotzdem: die Fotoausrüstung - futsch! Futsch auch das Fischerzeug ., sowas erzählen sie sich sogar hier! - Als ob die in Florenz nicht noch viel, viel mehr Ärger hätten! Da wird dir doch das ganze Auto auch gleich noch mitgeklaut, ratzekahl, nur noch der Straßenteer bleibt da - und die wenigsten der Ganoven sind Sardi-bastardi! Und unter ihnen gibt es nicht weniger Drogensüchtige und Verbrecher als bei uns dort in Nuoro - im Gegenteil. Und überhaupt ist das alles ja eh maßlos . und überhaupt .
Ja, Sardinien, da war man immer hingefahren, als kleines Kind schon. Schlecht war es einem immer geworden und man hatte gekotzt im Auto; dann die lange Überfahrt mit der Fähre, acht Stunden und mehr, dann wieder Auto. Doch dann das Dorf. Man war dort zu Hause, das heißt, die Eltern waren dort zu Hause, stammten sie doch beide aus demselben Nest in den Bergen. Jeder kannte sie, und jeder kannte ihre Geschichte, wenn auch jeder wieder auf eine andere Weise. Man munkelte einiges, vor allem über den Vater. Erst Mitte dreißig kehrt er zurück nach Hause, zurück eben aus dem Norden, aus dem Ausland, wie ja so viele, bestimmt, aber jetzt erst kommt er und macht einer aus dem Dorf den Hof. Ehrenhaft, weil er erst in ein gemachtes Nest die Taube setzen will? Flatterhaft, weil er sich erst bindet, nachdem er sein Vergnügen anderswo längst schon gehabt hat? Wer weiß; er selbst jedenfalls verbreitet nach Kräften eine gewaltig schöngefärbte Fassung der ersten Version. Immerhin ist die Hochzeit gefeiert worden, wie es sich gehört; mit vielen Geladenen und tagelangem Festen, und man war nicht kleinlich gewesen. Warmes Wetter und laue Nächte hätten, so sagen die Eltern, dazu geführt, dass manch einer draußen auf Feld und Wiese nächtigte, was zu zwei, drei weiteren...
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