Schweitzer Fachinformationen
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Werner Zager
Glaube und Vernunft im liberalen Christentum
Vorangestellt sei eine knappe Klärung der Begriffe »Vernunft« und »Verstand«. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden beide Ausdrücke nicht voneinander unterschieden und bezeichnen das »geistige Vermögen im Gegensatz zur Sinnlichkeit«. In der philosophischen Schulsprache dagegen unterscheidet man zwischen dem »Vermögen des diskursiven Nachdenkens, das sich urteilend und schließend zwischen den Begriffen hin und her bewegt« (lat. ratio) und dem »Vermögen der intuitiven Einsicht, das seinen Gegenstand in einem einheitlichen Akt geistiger Anschauung unmittelbar erfaßt« (lat. intellectus).1 Während im deutschen Sprachgebrauch bis ins 17. Jahrhundert Vernunft als Übersetzung von ratio und Verstand als Übersetzung für intellectus diente, kehrte IMMANUEL KANT die Bedeutungen um, was zu einer bis heute andauernden Verunsicherung bei der distinkten Verwendung der beiden Begriffe führte.2 Ich selbst werde mich der Sprachregelung Kants anschließen, die sich im wissenschaftlichen Bereich weithin durchgesetzt hat: Verstand bezeichnet danach das diskursive, d. h. hin- und herlaufende, analysierende und schrittweise vorgehende Denken. Darüber steht die Vernunft als geistiges Vermögen, Einsichten zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, sich ein Urteil zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten.
Wie hat sich MARTIN LUTHER (1483-1546) das Verhältnis von Glauben und Vernunft gedacht? Um diese Frage im Blick auf die reife Gestalt der Theologie Luthers zu beantworten, empfiehlt sich die Beschäftigung mit seiner Disputation De homine (Vom Menschen) aus dem Jahre 1536.
Auch wenn GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729-1781) sich auf »Luthers Geist« berief, begegnet uns in seinen theologisch-philosophischen Schriften doch eine ganz andere geistige Welt als die der Reformationszeit. Lessing wusste sich dem Prinzip der Aufklärung verpflichtet, »alle Denktraditionen und Lehren einer kritischen Prüfung zu unterziehen«.25 Dabei verband er »rückhaltlose Offenheit für eine historische Erforschung der biblischen Berichte« und der christlichen Religion mit dem unbedingten Streben nach Erkenntnis der Wahrheit.26
Nach IMMANUEL KANT (1724-1804) sind alle Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, gescheitert. Damit ist aber nicht jedes Denken über Gott oder gar der Gottesglaube unmöglich. Lässt sich doch laut Kant Gott als Postulat der praktischen Vernunft, d. h. als eine für moralisches Handeln notwendige Annahme erweisen:
Ganz anders als LESSING und KANT, die die natürliche Religion über die Offenbarungsreligion stellten, verfährt FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER (1768-1834). Hatte doch die Romantik einen Zugang zu den lebendigen Religionen eröffnet.67 Und so heißt es in seinen 1799 zuerst anonym veröffentlichten Reden Über die Religion: »[.] die Religion [.] ist ihrem Begriff und ihrem Wesen nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches; sie muß also ein Prinzip sich zu individualisieren in sich haben, weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte«.68 »Die sogenannte natürliche Religion ist« dagegen nach Schleiermachers Urteil »gewöhnlich so abgeschliffen, und hat so philosophische und moralische Manieren, daß sie wenig von dem eigentümlichen Charakter der Religion durchschimmern läßt.«69
Bereits die Überschrift seiner Gifford-Vorlesungen, die ALBERT SCHWEITZER (1875-1965) in den Jahren 1934 und 1935 in Edinburgh hielt, macht deutlich, dass Schweitzer sich mit dem Anliegen des Stifters, Lord ADAM GIFFORD, einig wusste: Natürliche Ethik und natürliche Religion. Hatte doch dieser die »Überzeugung, daß das rationale Denken zu den höchsten ethischen und religiösen Wahrheiten gelange«.81
In seinem 1924 veröffentlichten Vortrag Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung95 kommen RUDOLF BULTMANNs (1884-1976) Kritik an der liberalen Theologie und seine Hinwendung zur dialektischen Theologie prägnant zum Ausdruck. Sein gegenüber der liberalen Theologie erhobener Vorwurf, sie habe »nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt«, hält ihn aber nicht davon ab, deren Verdienste »für die Aufhellung des Geschichtsbildes« und »vor allem für die Erziehung zur Kritik, d. h. zur Freiheit und Wahrhaftigkeit« zu würdigen.96
Für WOLFHART PANNENBERGs (1928-2014) Theologie ist der Titel des von ihm 1961 herausgegebenen Sammelbandes Offenbarung als Geschichte108 Programm geblieben. Danach ereignet sich Gottes Offenbarung nicht direkt, sondern indirekt in der Geschichte, wobei das Offenbarwerden Gottes erst am Ende allen Geschehens erfolgen wird.109 Eine solche »Ausweitung der Heilsgeschichte zur Universalgeschichte« sieht Pannenberg in der Prophetie Israels vorbereitet und in der Apokalyptik systematisch durchgeführt.110 Diese Struktur des Geschichtsdenkens setze nicht nur das Urchristentum voraus, sondern sie bleibe auch bestimmend für die »abendländische Geschichtsphilosophie bis hin zu Hegel und Marx«.111
Im Folgenden möchte ich in thesenhafter Form Stellung nehmen zu den zuvor geschilderten Möglichkeiten, wie Glaube und Vernunft im Gefolge Luthers innerhalb eines liberalen Protestantismus aufeinander bezogen werden. Dabei geht es mir nicht um abschließende Urteile, sondern um die Eröffnung eines Gesprächs.
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