Schweitzer Fachinformationen
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Schwäbischwerd, Januar A.D. 1606
Langsam versank die Sonne am Horizont. Ein Turmfalke flog über die Stadt, hob sich wie ein Scherenschnitt vom blutroten Himmel ab.
Wind kam auf und schleuderte vereinzelte Schneeflocken wie eisige Geschosse gegen den Falken. Der Raubvogel kreiste noch einige Augenblicke, dann stieß er einen schrillen Schrei aus und schoss auf die große Kirche zu, die stolz zwischen den Bürgerhäusern emporragte. Sicher landete er in einer schützenden Nische des Turmes und legte die Flügel an.
Der Turm gehörte zur Stadtpfarrkirche Zu Unserer Lieben Frau. Die ehemals größte katholische Kirche in der Stadt, die seit über fünfzig Jahren in der Hand der Lutheraner war, stand ungerührt in der Dämmerung, und ihr langer Schatten fiel auf die Straße, genau zwischen die beiden prächtigen Häuser, die sich gegenüberstanden.
Zwischen das Haus Heidfeldt und das Haus Ackermann.
Die Holzscheite im Ofen knackten. Wegen der Dämmerung war es dunkel in der Stube, denn die kleinen Butzenscheiben ließen schon bei Tag nur wenig Licht in den Raum herein.
Der Gestalt, die einsam an einem der Stubenfenster stand, war das nur recht. So konnte sie ungestört ihren Gedanken nachgehen. Die Knaben waren in der Küche und ärgerten mit Sicherheit das Gesinde, bis Bartholomäus, der alte Küchenknecht, sie mit der Schöpfkelle verjagen würde. Dann würden sie ihre Mutter suchen, sie mit der untrüglichen Sicherheit eines Jagdhundes finden und sich bei ihr verstecken.
Helene Ackermann lächelte und strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht.
Ihre Söhne. Ihr Leben.
Ein Holzscheit barst im Kamin.
Das Lächeln verschwand. Flammen stiegen in ihren Gedanken auf, verdrängten die Bilder ihrer Söhne, und in den Flammen war ihr Gesicht, das sie ab und an in ihren Träumen sah, seit jener schrecklichen Nacht, als sie -
Als wir sie verraten haben. Sie und die gesamte Stadt, nur um unsere Haut zu retten. Nichts anderes war es.
Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, es blieb Verrat an Leib und Leben, an ihrem Fleisch und Blut. Sie hatte versucht es zu vergessen, und als das nicht gelang, hatte sie das Gespräch mit Christoph gesucht. Aber der sah alles anders. Was geschehen war, war geschehen, hatte er nach ihrer Flucht immer wieder, beinahe schon gebetsmühlenartig, wiederholt. Was der Herrgott nicht ändern kann, können wir schon gar nicht ändern. Somit können wir ein Leben lang unserer Schuld nachtrauern, oder wir können das Leben, das uns geschenkt wurde, mit jedem Atemzug genießen.
Irgendwann hatte Helene ihm geglaubt, aber die Träume waren geblieben.
Deutz wurde zwischen den Heidfeldts und den Ackermanns nicht mehr erwähnt, und die Männer machten das, was sie am besten konnten: ein Unternehmen aufbauen. So wie alle Männer seit Anbeginn der Zeit - ob Soldat oder Kaufmann, ob Bauer oder König - taten sie, was getan werden musste. Und wenn etwas schiefging, wuschen sie sich die Blutschuld von den Händen und machten einfach weiter.
Es war an ihren Frauen, die Toten zu beweinen.
»Was machst du denn hier im Dunkeln?«
Helene fuhr herum. Ihr Herz pochte, sie fühlte sich ertappt. Es war aber nur ihr ältester Sohn, der grinsend an der Tür stand, ein Talglicht in der Hand.
»Lorenz! Musst du deine Mutter so erschrecken?«
Der junge Mann trat ein und stellte das Licht auf den fein gearbeiteten Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand. »Heute ist ein Tag der Freude. Und die Mutter des Bräutigams steht in der dunklen Stube wie ein Geist.«
»Noch bist du kein Bräutigam. Also hüte deine Zunge.« Sie drohte ihm mit dem Finger, wie sie es immer getan hatte und es auch jetzt noch gelegentlich tat. Wenn auch nur spielerisch, denn er zählte achtzehn Lenze und war ein Mann.
Und ebenso spielerisch gehorchte Lorenz ihr. »Du hast recht. So nehmt meine Entschuldigung an, werteste Frau Mutter, in tiefer Demut.« Er beugte sein Haupt und verneigte sich mit Schwung.
Sie lachte und blickte ihn liebevoll an. Große, blaue Augen, aus denen der Schalk blitzte, ungebändigtes, dichtes Haar. Ein einnehmendes Wesen, seinem Vater gleich, und doch so anders. Wo Christoph sich bis heute Wagemut und Leichtsinn bewahrt hatte, fiel bei Lorenz zwischen all dem Lachen und den Scherzen zunehmend ein ernster, kluger Wesenszug auf. Eine Klugheit, die ihn schneller als alle anderen durch das Gymnasium geführt hatte. Und die ohne Zweifel schon bald ihrem Unternehmen dienlich sein würde.
Lorenz richtete sich auf. Seine Mutter machte einen Schritt auf ihn zu, strich ihm sanft über die Wange. »Wie bist du nur so schnell herangewachsen? Mein großer Sohn .« Sie zog ihre Hand zurück, sah ihm in die Augen. »Bist du dir sicher?«
Er wurde ernst. »Und wenn nicht? Würde das einen Unterschied machen?«
»Ich hoffe nicht. Wir haben alles bereits ausgehandelt, und Vertrag ist Vertrag, auch wenn die Heidfeldts unsere Freunde sind.«
Lorenz lächelte verschmitzt. »Mutter, ich liebe Anna. Das habe ich immer schon. Und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr mein Leben zu verbringen. Heute wollen wir es verkünden, die Hochzeit folgt in Bälde, und mit Gottes Segen wird es gut sein. Für immer.«
Für immer .
Es war tröstlich, dass die Jugend eher handelte als wusste, dachte Helene. Sie selbst hatte schon sehr früh erkannt, was das Leben für einen bereithielt, dafür hatte ihre Kindheit im Hause einer Tagelöhnerfamilie gesorgt. Aber sie würde wie eine Löwin dafür kämpfen, dass ihren Kindern Derartiges erspart blieb.
Sie hatte es gut hier in Schwäbischwerd, sie alle hatten es gut hier, auch wenn der heutige Abend kein leichter werden würde. Doch das ließ sie ihrem Ältesten gegenüber unerwähnt. Lorenz wusste wahrscheinlich selbst ganz genau, was auf sie zukommen würde, wenn sich der Rat querstellte.
Er bot ihr seinen Arm. »Darf ich die Herrin des Hauses nach unten geleiten? Die Kutsche wartet.«
»Die Kutsche? Es sind doch nur ein paar Schritte zum Roten Hund.«
Er deutete zum Fenster. »Mutter, hast du eigentlich nur vor dich hingeträumt oder tatsächlich hinausgesehen?«
Sie wandte sich um, blickte durch das Butzenfenster. Dicke Schneeflocken stoben vom Himmel. Die Straße war bereits mit einem dichten weißen Saum überzogen.
Lorenz hatte recht getan. Bis sie spätnachts vom Roten Hund wieder heimkehrten, würde der Schnee knöchelhoch liegen. Und er würde locker sein, sodass man auf dem darunterliegenden Eis und dem Unrat ausrutschen konnte.
Helene schmunzelte und hakte sich im Arm ihres Sohnes ein. »Die Kutsche, also. Ist dein Vater schon da?«
»Nein, aber er hat mir versichert, dass er rechtzeitig im Hund sein wird. Er ist noch am Hafen, denn morgen früh kommen die Güter, die für Augsburg bestimmt sind.«
»Wenn die Landsknechte sie nicht abfangen.«
»Es sind keine gesichtet worden. Und Vater sagt, dass es bald vorbei sein wird.«
Helene teilte den Optimismus ihres Mannes nicht. Seit bald dreizehn Jahren führte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Krieg gegen die Osmanen im Osten. Jahr für Jahr schifften sich in der Gegend um Schwäbischwerd Kriegshaufen ein und fuhren die Donau stromabwärts, den Streitscharen des Sultans entgegen. Da den Söldnern und Landsknechten die Zeit schnell lang wurde, während sie auf die Schiffe warteten, plünderten sie regelmäßig alle Städte in der Umgebung der Häfen. Niemand hinderte die Männer daran, weil man sie für den Festungskrieg gegen die Heiden brauchte.
»Gebe Gott, dass dein Vater recht behält.« Helene sah an Lorenz vorbei, zur offenen Tür. »Wo sind deine Brüder?«
»Haben sich, glaube ich, damit abgefunden, dass sie nicht mitdürfen. Sie sind in der Küche bei Bartholomäus, maulen und lassen sich mit Essen und süßem Kram vollstopfen.«
»Es sei ihnen gegönnt. Wir sollten gehen, bevor sie es sich anders überlegen.« Helene wusste, dass sie ihren Zwillingen Lucas und Philipp zu viel durchgehen ließ. Aber es hatte nach Lorenz lange gedauert, bis wieder Kinderlachen im Haus erklungen war, denn die beiden Töchter, die Helene nach ihm geboren hatte, waren kurz nach der Taufe gestorben. Daher war sie überglücklich gewesen, als Lucas und Philipp am Leben geblieben waren. Das Glück hielt bis heute an und führte zu übermäßiger Nachsicht.
Mutter und Sohn verließen die Stube. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und bis auf die glosenden Holzscheite machte sich Dunkelheit in der Stube breit.
Draußen trieb der Wind den Schnee durch die breite, dämmrige Straße. Zwar regte der Rat von Schwäbischwerd immer wieder an, dass die Bürger und Handwerker Laternen an den Außenwänden ihrer Häuser anbringen sollten, damit die Stadt nach Einbruch der Dunkelheit heller und damit sicherer sein würde. Aber das war mit so hohen Kosten verbunden, dass niemand sich daran hielt. So galt nach wie vor die strenge Regel, dass jeder, den die Stadtwache in der Nacht ohne Laterne antraf, eingesperrt wurde. Denn wer sich ohne Licht herumtrieb, konnte nur Böses im Sinn haben, so die einhellige Meinung.
Die Straße zog sich durch die ganze Stadt, vom Fuggerhaus im Westen bis zum Rathaus im Osten. Es war eine Reichsstraße, vom Tanzhaus in den Oberen und Unteren Markt getrennt. Letztere wurden von Gasthäusern, den Unterkünften der Zünfte und den großen Häusern der Kaufleute gesäumt, deren Fassaden aufwändig gestaltet waren. Geschnitzte Fachwerkbalken,...
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