Schweitzer Fachinformationen
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Der Schatten eilt, winzig klein, über Felder, hüpft über Flüsse, berührt die Wipfel der Bäume, einem Käfer gleich, der unter der blassen Februarsonne spazieren geht. Dann wird der Schatten grösser, stürzt in den Verkehr der breiten Strassen, streift Busse und Autos, schlängelt sich an den Gebäuden vorbei oder geht durch sie hindurch. Ich habe Angst um diesen unvorsichtigen Schatten, dass er sogar die Mauer überqueren könnte, wenn es sie noch gäbe. Die Mauer existiert nicht mehr, dort stehen jetzt Gebäude, eines höher als das andere, mit Kaminen, an denen der Schatten zerbersten könnte. Er wird grösser, der Käfer gleicht jetzt einem Ochsen, wenige Sekunden später einem Elefanten ohne Rüssel. Er nähert sich uns oder eher wir uns ihm, der Zusammenstoss scheint unausweichlich. Den Kopf an das Flugzeugfenster gelehnt, erwarte ich den Schock, die Gewalt der Explosion.
Doch alles geht ruhig und mit Bedacht vor sich. In still-schweigender Übereinkunft oder nach alter Gewohnheit berühren sich Schatten und Flugzeug, sie vereinen sich, gehen ineinander über, die Räder streifen den Boden. Der Schatten verschwindet, das Flugzeug rollt über die Piste des Flughafens Tegel.
Zum fünften Mal innerhalb eines Dutzend Jahren lande ich in Berlin.
Ich bin mit einer ganz bestimmten Absicht hierhergekommen: mit Intellektuellen und Künstlern in beiden Teilen der Stadt Kontakt aufzunehmen und sie nach den Folgen der Wiedervereinigung für sie zu befragen. Ein einfaches Vorhaben, das ich bis in das kleinste Detail ausgearbeitet habe: Ich habe ein kleines Aufnahmegerät bei mir, meine Gesprächspartner werden meine Fragen beantworten, dann werde ich die Antworten abtippen, und später soll daraus ein Buch über dieses heikle Thema werden.
Aber bevor ich anfange, brauche ich noch ein wenig Zeit. Ich muss die Luft der Stadt atmen, mich ein wenig umsehen, die Menschen beobachten, in Warenhäuser und Restaurants gehen, die Veränderungen wahrnehmen, die sich seit meinem letzten Aufenthalt hier im Frühling 1994 ergeben haben.
Damals gab es überall da, wo die Mauer gestanden hatte, weite, düstere leere Flächen. Der Potsdamer Platz, einst einer der schönsten Plätze Europas, war nur noch ein ödes Areal, auf dem verrostete Autowracks, alte Tanks und notdürftig aufgestellte Zelte standen, in denen Obdachlose hausten. Hinter dem Reichstag, in der Nähe des Pariser Platzes, wurde von fliegenden Händlern allerlei Krempel schwarz verkauft: Mützen der Roten Armee, alte Uniformen, militärische Auszeichnungen.
Vier Jahre früher, im März 1990, schlängelte sich die teilweise zerstörte, nunmehr durchlässige Mauer noch zwischen den Gebäuden hindurch. Händler verkauften Mauerstücke, echte und falsche, und Menschen aus dem Osten erkundeten zögernd das Gebiet, das zu betreten ihnen so lange verboten gewesen war, und entdeckten endlich das Gelobte Land, von dem sie geträumt hatten.
In den Jahren 1983 und 1984 war die von Graffiti übersäte Mauer eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Berlins. Busladungen von Touristen kamen, um sie zu bestaunen. Man bestieg eine Aussichtsplattform, betrachtete das leere Gelände und die Polizisten mit ihren Schäferhunden und beglückwünschte sich heimlich, dass man auf der »guten Seite« gelandet war; nach dem Abstieg kaufte man Souvenirs in kleinen Buden, die allenthalben aufgestellt worden waren und hier gute Geschäfte machten. Die Berliner Mauer war ein must, wie die Chinesische Mauer, der Grand Canyon oder der Mont Saint-Michel, mit dem Schaudern als Zugabe, dass man sich bis an die Grenze einer unbekannten, furchteinflössenden Welt gewagt hatte.
Meine Recherchen können warten, ich bin nicht unter Druck. Von der Pension am Kurfürstendamm aus, wo ich abgestiegen bin, erkunde ich die Stadtquartiere im Osten. Ich sehe die Baustellen, die Hunderten von Kranen, die aufgerissenen Gräben, die Gerüste, die Rohre in der offenen Kanalisation, die Bagger; ich studiere die Plakate, die zeigen, wie Berlin im Jahr 2000 aussehen soll - Hochhäuser, oberirdische Schnellbahnen, Hängebrücken, Autobahnen, die übereinanderliegen -, eine Megalopolis, die imstande sein würde, New York Konkurrenz zu machen. In der Nähe des Oranienburger Tors, in den noch nicht vom Abriss- und Wiederaufbaufieber erfassten Stadtteilen, sehe ich unebene Trottoirs, graue Hausfassaden, kleine, verlassene Läden. In der Friedrichstrasse, wo man eben eine Zweigstelle der luxuriösen Galeries Lafayette eröffnet hat, sehe ich einen notdürftigen Unterschlupf, wo sich ein paar Jugendliche an einem Grill die Hände wärmen. Ich gehe traurige, beinahe menschenleere Strassen entlang: Liegt es nur an der Kälte, dass die Leute zu Hause bleiben? Selbst in der berühmten Allee Unter den Linden ist fast niemand zu sehen, nur wenige Passanten eilen die Strasse entlang, darauf bedacht, den um die Löcher in den Trottoirs aufgestellten Sperren auszuweichen. Ich komme mit einem Taxichauffeur ins Gespräch, der aus dem Osten stammt und vor der Wiedervereinigung als Elektroingenieur gearbeitet hat. »Die Mauer ist immer noch in den Köpfen der Menschen«, sagt er, »es wird lange dauern, bis sie aus ihnen verschwunden sein wird.«
Ich lese die Zeitungen. Ein Defizit von 31,8 Milliarden D-Mark allein in Berlin, Einsparungen im sozialen und kulturellen Bereich, die Abneigung des Landes Brandenburg gegen eine Fusion mit der »Kommune« Berlin (dieser Ausdruck des Finanzministers von Brandenburg hat die Berliner, die so stolz sind auf ihre Stadt, empfindlich getroffen), die Prozesse gegen Egon Krenz und Günter Schabowski, Krenz, der dagegen protestiert, dass er der »Siegerjustiz« unterworfen werde, Schabowski, der nach einigen spektakulären Auftritten seine Fehler eingesteht.1
Mir wird immer klarer, dass der Westen das ehemalige Ostberlin und zweifellos die ganze DDR schlicht und einfach »kolonisiert« hat, indem er alles, was dort während vierzig Jahren gedacht, erreicht und errichtet worden war, weggefegt hat. Weggefegt die wenigen Errungenschaften des Kommunismus, niedrige Mieten und billige öffentliche Verkehrsmittel, genügend vorhandene Krippenplätze, Theatereintritte, die sich jeder leisten konnte. Wie immer haben die Reichsten und Mächtigsten ihre gesellschaftlichen Vorstellungen durchgesetzt, mit der Folge, dass die Bürger des Ostens für die Freiheit, die sie so sehr herbeigesehnt und für die sie sich starkgemacht haben, einen hohen Preis bezahlen: den Verlust ihrer Identität. Als Bürger zweiter Klasse, in den Augen ihrer wiedergefundenen »Brüder«, fühlen sie sich gedemütigt und noch unfähig, sich mit Wettbewerbsgeist und Profitdenken anzufreunden, die das Ideal von Solidarität und Brüderlichkeit, in das sie ihre Hoffnungen gesetzt hatten, abgelöst haben, ein Ideal, das zwar von ihren Machthabern verraten wurde, aber was ist an seine Stelle getreten? Der Materialismus der Konsumgesellschaft, der struggle for life, die Maxime »jeder für sich«, unter der Ägide der Götter Dollar und D-Mark .
»Es ist alles zu schnell gegangen«, hat man mir immer wieder gesagt.
Berlin erscheint mir immer mehr wie ein Heizkessel, in dem gegensätzliche und im Moment unvereinbare Elemente brodeln.
Ich weiss wohl, dass dies nur ein erster, oberflächlicher Eindruck ist, den es zu vertiefen, zu vervollkommnen gilt. In meinem Kopf schwirren tausend Fragen, in meinem Notizbuch sind ein paar Adressen, nichts hindert mich, mit der Arbeit anzufangen.
Ausser dass ich keine Lust dazu habe.
Die Vorstellung, den Menschen ein Mikrofon hinzuhalten und sie zu nötigen, ihre Enttäuschungen und Frustrationen einzugestehen, ist mir plötzlich zuwider.
Im Übrigen bemerke ich zunehmend, dass mich die Gegenwart und vor allem die Zukunft Berlins weniger interessieren als seine Vergangenheit.
»Berlin besitzt kein städtisches, sondern ein historisches Gesicht«, schrieb der Journalist Klaus Hartung, und er fügte an: »Alle Mühe der Architekten hat nicht ausgereicht, das Walten der Geschichte zu bannen, das diese Stadt dominiert und dominierte.«2
In der Tat, Berlin erinnert an jeder Kreuzung, jeder Ecke, auf jedem Platz an sein Schicksal.
Bilder tauchen auf, gehen ineinander über.
Im achtzehnten Jahrhundert der Glanz Berlins, der neuen Hauptstadt Preussens; Friedrich II., ein zwiespältiger Herrscher, Freund der Künste und Despot; die Empfänge im Schloss Sanssouci, wo Voltaire sich aufhält. Im neunzehnten Jahrhundert Wilhelm I. von Hohenzollern, nach dem Sieg von 1871 zum Kaiser ausgerufen; Berlin von Bismarck zur Hauptstadt des geeinten Deutschland bestimmt. Ein fiebriger Ausbruch kreativer Kräfte setzt ein, es wimmelt von Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern; Hugenotten und Juden bereichern die Gesellschaft: Berlin, die Stadt der Toleranz, die grosszügig Emigranten aufnimmt, dehnt sich aus und träumt davon, Paris und London...
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