Schweitzer Fachinformationen
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Prophezeiung und Propaganda
Einführung zur Ausgabe 2012 von Prof. Dr. med. Robert H. Lustig
Alles Alte ist wieder neu. Nehmen Sie zum Beispiel die Mode: Schlaghosen, Hosenröcke, Miniröcke, Keilabsätze, schmale Krawatten und ausgefallene Dessous sind zurück. Ein Stummfilm gewann den Oscar für den besten Film 2012. Die Bubblegum-Rockband ABBA und der Swing-Tanz sind wieder en vogue. Cocktailspezialitäten feiern ihr Comeback: Martinis sind der letzte Schrei, und es gibt jetzt 80 Variationen davon. Sogar Grammophone und Vinyl-Schallplatten haben eine neue Anhängerschaft.
Auch Vorstellungen kommen und gehen. Irgendjemand ist immer der Wegbereiter. Seine Argumente erscheinen zwingend. Die Sache gewinnt eine - manchmal ein wenig übereifrige - Anhängerschaft. Dann kommt sie aus der Mode - manchmal wegen des Weltbildes, manchmal aufgrund von Erfahrungswerten oder weil konkurrierende Ereignisse stattfinden. Und manchmal versuchen auch dunkle Mächte, aus eigennützigen Gründen den Status quo aufrechtzuerhalten.
Aber Wissenschaft sollte auf Fakten basieren, nicht auf Moden. Und Regeln sollten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen. Fakten sollten sich nicht ändern, und sie tun es auch nicht. Allerdings ändert sich ihre Interpretation. Denken Sie an die Vorstellung, dass ein Entzündungsgeschehen für die koronare Herzkrankheit verantwortlich ist. Nach der Entwicklung des Aspirins durch den Bayer-Konzern im späten 19. Jahrhundert zunächst unterstützt, wurde diese Theorie einige Zeit später verworfen, zugunsten der Cholesterinhypothese, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschte. Aber in den letzten zehn Jahren erlebte die »Entzündungstheorie« ein entschiedenes Comeback, und sie wird heute als der wichtigste Faktor für die Entstehung der atherosklerotischen Plaques und Gefäßverschlüsse angesehen.
Leider ist die Auslegung der medizinischen Wissenschaft häufig durch die dunklen Mächte der Industrie beeinflusst, die einen großen Reibach machen will. Und wenn Geld verdient werden kann, gibt es große Gewinner, aber auch große Verlierer. Erinnern Sie sich an das Tabak-Debakel. Die Gefahren des Rauchens waren seit den 1930er-Jahren bekannt; der »US Surgeon general report« aus dem Jahre 1964 wies die Tabakindustrie mit aller Deutlichkeit in ihre Schranken. Das versetzte die Tabak-Propaganda-Maschinerie auf Hochtouren, um die Wissenschaft und alle Wissenschaftler, die ihr im Weg standen, zum Schweigen zu bringen. Mein Kollege Dr. Stanton Glantz war und ist bis heute für die Tabakindustrie der Staatsfeind Nr. 1. 25 Jahre lang war er ein »Rufer in der Wüste«. Stan warnte vor den Strategien, die die großen Tabakfirmen auf allen Ebenen einsetzten: Bestechung von Politikern, Marketing, an Kinder gerichtete Werbung, Schleichwerbung durch Product Placement in Filmen. Er deckte sogar die krasse Fälschung von Datenmaterial durch die Industrie auf, die damit ihr Produkt entlasten wollte. Was hat es ihm gebracht? 25 Jahre des ständigen Kampfes, sowohl im Gerichtssaal als auch vor dem Richter der öffentlichen Meinung. Er wurde als »falscher Prophet« und als »Fanatiker« hingestellt. Aber Stan hatte Zivilcourage. Wichtiger noch - er hatte die Daten. Und vor allem traf er - und trifft immer noch - mitten ins Schwarze.
Und überhaupt: Wer bestimmt eigentlich den Unterschied zwischen einem Vordenker und einem Abweichler? Wer immer die Möglichkeit bekommt, Geschichte zu schreiben. Es ist allein unser Retrospektoskop, das uns Scharfsichtigkeit verleiht. Fragen Sie Galileo.
Und so ist es auch mit Dr. John Yudkin. Betrachten wir die Hintergründe. Im Jahr 1955 erlitt US-Präsident Eisenhower im Amt einen Herzinfarkt. Das Thema der Herzerkrankungen und ihrer Vorbeugung drängte sich ins öffentliche Bewusstsein. Welcher Nahrungsbestandteil war für die koronare Herzkrankheit verantwortlich? Dies war die zukunftsträchtige Frage für die öffentliche Gesundheit, über die in akademischen Kreisen, aber auch in den Medien der 1960er- und 1970er-Jahre gestritten wurde. Es entstanden zwei Lager. Dr. Yudkin war ein Physiologe an der Universität von London, Ernährungswissenschaftler und Arzt, und der führende Vertreter der Theorie, dass der Zucker als Ernährungsfaktor die koronare Herzkrankheit fördere und zahlreiche weitere Erkrankungen ebenfalls. Erstmals im Jahre 1972 veröffentlicht und 1986 mit neuen Forschungsergebnissen ergänzt, war, ist und bleibt »Pure, White and Deadly« eine Prophezeiung. Yudkin sah die Zuckerschwemme voraus, die sich endgültig mit der Einführung des Glukose-Fruktose-Sirups Bahn brach. Er war ein Prediger in der Wüste und niemand hörte auf ihn. In der anderen Ecke saß Ancel Keys, ein Epidemiologe an der Universität von Minnesota, der im Jahre 1953 als Erster die Behauptung formuliert hatte, dass gesättigtes Fett die wichtigste Ursache der koronaren Herzkrankheit sei und die in seinem Buch »Seven Countries: A Multivariate Analysis of Death and Coronary Heart Disease« [... der berühmten »Sieben-Länder-Studie«, d. Übers.] gipfelte. Die Debatte entwickelte sich auch außerhalb der akademischen Kreise, der Groll wurde innig und persönlich, und Keys verkündete im Jahr 1971: »Es ist eindeutig, dass Yudkin keine theoretische Basis oder experimentelle Belege besitzt, die seine Behauptung eines wesentlichen Einflusses des Nahrungszuckers auf die Entstehung [der koronaren Herzkrankheit] stützen; seine Behauptung, dass Menschen mit koronarer Herzkrankheit exzessive Zuckeresser seien, wird nirgendwo unterstützt, jedoch durch zahlreiche Studien widerlegt, die methodisch und/oder vom Umfang her den seinen überlegen sind; und seine 'Beweise' aus Bevölkerungsstatistiken und Zeitverläufen werden selbst der einfachsten kritischen Überprüfung nicht standhalten.« (Keys, A., Atherosclerosis, 14: 193-202, 1971).
Drei wissenschaftliche Erkenntnisse aus den 1970er-Jahren beendeten die Causa Yudkin und besiegelten dessen Schicksal. Erstens entdeckten Michael Brown und Joseph Goldstein bei Studien zu der vererblichen familiären Hypercholesterinämie (die Betroffenen erleiden Herzinfarkte bereits ab einem Alter von 18 Jahren) die »Low-density Lipoproteins« (LDL) und den LDL-Rezeptor (wofür sie den Nobelpreis erhielten), was zu der Hypothese führte, dass das LDL der Übeltäter bei der Entwicklung der koronaren Herzkrankheit sei. Zweitens zeigten Ernährungsstudien, dass Nahrungsfett die LDL-Spiegel erhöht. Und drittens zeigten große epidemiologische Studien, dass die LDL-Spiegel mit der koronaren Herzkrankheit in diesen Populationen korreliert waren. Eine todsichere Sache, nicht wahr? Es ist das Fett, Dummkopf!
Die Pharisäer dieses heiligen Ernährungskrieges erklärten Keys zum Sieger und Yudkin zum Ketzer und Fanatiker, ließen den nun Diskreditierten über die Klinge springen und verbannten sein zentrales Werk auf den Müllhaufen der Geschichte, als dieses Buch aus dem Druck genommen wurde und praktisch von der Bildfläche verschwand. Die Propaganda für »fettarme Ernährung« zur Behandlung der koronaren Herzkrankheit wurde für die folgenden 30 Jahre zementiert. Und die Ansammlung von Krankheiten (Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und koronare Herzkrankheit), die zusammen das »Metabolische Syndrom« bilden, schnellten unter dem Schutzschirm der Zuckerindustrie und ihrer Propagandamaschinerie parabolisch in die Höhe. Aber gute Ideen sterben langsam. Größere Studien begannen zu belegen, dass Serum-Triglyzeride mit der koronaren Herzkrankheit korreliert sind; mit dem Zuckerkonsum als deren Triebfeder. Und es gibt nicht nur eine Art von LDL, es gibt zwei: große, lockere LDL-Moleküle, die durch das Fett in der Nahrung ansteigen, sich aber nicht auf die koronare Herzkrankheit auswirken; und kleine, dichte LDL-Moleküle, die durch Kohlenhydrate in der Nahrung entstehen, schnell oxidieren und die Bildung atherosklerotischer Plaques (mit der Verhärtung der Arterien) vorantreiben. Die Atkins-Diät wurde nun ernst genommen, und die Kohlenhydrate gerieten als diejenige Stoffgruppe in den Mittelpunkt des Interesses, welche den Stoffwechselerkrankungen Vorschub leistet. Und dies schloss den Zuckerkonsum als berüchtigtster Kohlenhydratquelle mit ein.
Ich stieß im Jahr 2008 ganz zufällig auf Dr. Yudkin. Ich hatte in Adelaide, Australien, einen Vortrag vor der »Australasian Association of Clinical Biochemists« über meine Forschungen zu der Rolle des Zuckers bei der Entstehung des metabolischen Syndroms gehalten. Dr. Leslie Bennett sagte mir im Anschluss »Sie haben sicherlich Yudkin gelesen!?«, und ich musste einräumen, dass ich das nicht getan hatte. Als ich nach Hause zurückkehrte, suchte ich nach »Pure, White and Deadly« und konnte es weder in unserer Universitätsbibliothek finden, noch in irgendeinem Buchladen in San Francisco. Schließlich erhielt ich es über eine Fernleihe. Ich öffnete das Buch und das Buch öffnete mir die Augen. Ich wusste bereits aus meinen Forschungen, dass der Zucker in der von uns derzeit konsumierten Menge eine medizinische Katastrophe darstellt.
Aber zu erfahren, dass Yudkin schon 36 Jahre zuvor vorausgesehen hatte, welch ein Problem der Zucker darstellte - und das bereits bei erheblich geringeren Dosierungen (das heißt vor dem Aufkommen des...
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