Schweitzer Fachinformationen
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Was wissen wir wirklich über die Menschen, die uns am nächsten stehen?
Als Lea Ypi im Internet ein ihr unbekanntes Foto entdeckt, das ihre Großeltern 1941 beim Après-Ski in den italienischen Alpen zeigt, fragt sie sich, was sie wirklich über ihre Familie weiß. Warum hat ihre geliebte Großmutter Leman, genannt Nini, Französisch gesprochen, wenn sie doch in Saloniki aufgewachsen war, als Enkelin eines Würdenträgers? Was hatte sie bewogen, als junge Frau Griechenland zu verlassen und auf eigene Faust nach Tirana zu gehen? Wie war sie mit Asllan zusammengekommen, ihrem Mann, der bald für viele Jahre in einer »Universität« verschwand? Und warum lächelte sie im Schnee von Cortina und zu einer Zeit, in der es nichts zu lachen gab, weil in Europa ein grausamer Krieg tobte?
Lea reist an die Orte von Lemans Leben, um es Stück für Stück anhand von Archivalien, Akten und Anekdoten zu rekonstruieren. Gebannt folgt man ihr in die untergegangene Welt der osmanischen Aristokratie, an die Wiege der neuen Nationalstaaten auf dem Balkan und natürlich nach Albanien, erst unter faschistischer Besatzung, dann unter kommunistischer Herrschaft.
Fesselnd, empathisch und in ihrem unnachahmlichen Ton erzählt Lea Ypi in Aufrecht von den Wendepunkten eines Lebens in extremen Zeiten - von schicksalhaften Begegnungen, von Liebe und Verrat sowie von Entscheidungen gegen den Strom der Geschichte. Ihr neues Buch - der lang erwartete Prequel zum international gefeierten Bestseller Frei - ist atemberaubende Familiensaga und tiefgründige Reflexion über die Zerbrechlichkeit der Wahrheit. Mit der Kraft der Imagination setzt es Menschen ein Denkmal, die ihre Würde zu bewahren vermochten, als sie mit Stiefeln getreten wurde. Episch.
»Nicht der Magen . das ist unmöglich. Es kann auf keinen Fall sein Magen gewesen sein .!«, rief meine verzweifelte Urgroßmutter Mediha Hanim an einem Augustnachmittag des Jahres 1918 und wischte sich dabei die Tränen von den Wangen.
»Doktor Elias, bitte, schließen Sie seine Augen, je vous en prie, ich kann den Anblick nicht ertragen. Er sieht so wütend aus.«
Der Arzt nickte bedächtig, trat an den Leichnam heran und rückte ihm den Fez zurecht.
»Pourtant, ma chère Mediha Hanim«, sagte er, »aber so war es. Es gab keine andere Ursache.«
»Aber er hatte wochenlang nichts gegessen. Ich habe ihn angefleht, etwas zu sich zu nehmen. Dafne, du hast es doch auch gehört .« Hilfesuchend drehte sie sich zu ihrer Hausangestellten um.
»Selbst dem Großwesir war es aufgefallen, als die beiden sich vor zehn Tagen getroffen haben«, fuhr sie schluchzend fort. »>Lieber Ibrahim Pascha<, sagte er, >Sie sehen aus wie die hungernden albanischen Jungen, die wir damals als Janitscharen rekrutiert haben! Sie müssen besser auf sich achtgeben. Wie sollen wir dem kranken Mann Europas helfen, wenn wir selbst krank sind .<«
Der Arzt musste sich ein bitteres Lächeln verkneifen. Früher haben sie immer nur die Russen so genannt, dachte er bei sich, aber nun bezeichnet die Regierung, die Hohe Pforte, sich selbst so. Und alle sprechen darüber, als gäbe es ein Heilmittel. Bevor sie die Niederlage akzeptieren, müssen sie anscheinend gedemütigt werden.
»Er sieht immer noch wütend aus, selbst mit geschlossenen Augen«, unterbrach Mediha Hanim seine Gedanken mit schwacher, müder Stimme. »Dass Sie so etwas sagen, hätte er sicher nicht gewollt. Außerdem hatte er seit Wochen nichts gegessen .«
Der Arzt holte tief Luft, beugte sich abermals vor und zog ein Laken über Ibrahim Paschas Leichnam.
»Mais voilà, c'est bien ça, Madame. Tagelang nichts, und dann fünf große Baklavastücke auf einmal. Wie soll der Magen damit zurechtkommen .«
»Doktor Elias, sprechen Sie dieses furchtbare Wort nicht noch einmal aus, ich bitte Sie. Natürlich habe ich ihm gesagt, er soll vorsichtig sein, aber Ibrahim Pascha . Sie wissen doch, wie mein Mann ist . war.« Mediha Hanim verstummte und sah sich um. »Woher kommt dieser Geruch?«
»Dafne, bitte .« Der Arzt bedeutete der jungen Magd mit einer Geste, sie solle Waschwasser holen.
»Oh non, nicht doch, nicht das .« Mediha Hanim drückte sich ein seidenes Taschentuch an die Nase, dann faltete sie es auf und legte es sich übers Gesicht, wie um sich dahinter zu verstecken. »Mon cher Ibrahim Pascha, es wäre ihm ja so unangenehm . Eau de Cologne, Dafne, hol das Eau de Cologne!«, rief sie dem Mädchen nach, das losgelaufen war, um Wasser zu holen.
Sie wollte das Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, aber als sie die Tesvikiye-Moschee sah und die majestätische Kuppel ihr plötzlich erschien wie ein riesiger, abstoßender Bauch, brach sie abermals in Tränen aus.
»So hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt«, sagte sie sichtlich erschüttert, und dann verließ sie das Schlafzimmer. Doktor Elias folgte ihr. »Er wollte in Würde von uns gehen.«
Mediha Hanims Worte waren tief empfunden. Sie hatte Ibrahim Pascha seit ihrer Kindheit gekannt, seit dem Alter, in dem die ersten Erinnerungen sich einprägen, als die beiden in den Fluren ihres Zuhauses in Leskovik, damals Hauptstadt der Verwaltungseinheit Ioannina im Osmanischen Reich an der heutigen Grenze zwischen Albanien und Griechenland, Verstecken spielten. Sie waren Cousin und Cousine, ungefähr gleich alt, nur dass sie größer war als er, dazu dünn und mit dunklen Locken und lebhaften Augen, wie sie typisch sind für die für ihre Schönheit bekannten Tscherkessinnen. Als Kind war sie ihm ständig hinterhergelaufen und hatte sich über sein leichtes Hinken lustig gemacht, Folge eines Geburtsfehlers. Später würden die Leute es fälschlicherweise für eine Kriegsverletzung halten, und er tat nichts, um den Irrtum aufzuklären. Sie hatte ihn ihren cher mari genannt, als hätte sie damals schon gewusst, dass sie eines Tages heiraten, ihre Flitterwochen in Paris verbringen und zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, bekommen würden, Vorahnungen, deren Genauigkeit sie selbst überraschte, vor allem, nachdem der Pascha eine zweite Frau wählte. Mediha Hanim regte sich natürlich auf, gab aber niemals zu, dass sie der anderen den Tod im Kindbett wünschte, was fast genau neun Monate nach der Hochzeit dann auch geschah. Ab dem Moment gehörte Ibrahim Pascha zu ihr, wie das kostbare, während der Flitterwochen in Paris gebraucht gekaufte Porzellan zu den von ihr veranstalteten Soiréen gehörte: wertgeschätzt für die Aufmerksamkeit, die es ihr einbrachte, begehrt wegen bestimmter Eigenschaften, doch geliebt vor allem als Sinnbild der Mühen, die es sie gekostet hatte, es während der vielen Umzüge innerhalb des Reichs vor dem Zerbrechen zu bewahren.
Und doch konnte Mediha Hanim nicht behaupten, sie hätte ihren cher mari wirklich gekannt. Sie wusste so einiges über ihn: dass er gefüllte Auberginen ohne Tomaten bevorzugte und am Nachmittag, anders als am Morgen, Zucker in den Kaffee nahm. Sie wusste, wie sie nach dem Aufstehen die Vorhänge zu öffnen hatte, ohne dass er sie anschrie, wann sie ihm den Gehstock für den Abendspaziergang reichen musste, wann er nicht auf seine Migräne angesprochen werden wollte und welcher Moment günstig war, um ihm die neuesten Nachrichten aus Saloniki zu überbringen, wo ihr Sohn Avni Bey inzwischen lebte - beispielsweise, dass auf ihren Ländereien ein Bauer bei der Arbeit gestorben oder ein Kind zur Welt gekommen war. Sie sprach in einem dem Pascha genehmen Ton, weder hektisch noch überschwänglich. Doch so etwas konnte sich kaum Wissen nennen, wenn man unter Wissen nicht bloß jene Vertrautheit versteht, die beim täglichen Miteinander für einen reibungslosen Ablauf sorgt, sondern ein tieferes Verständnis für die Beweggründe und Ziele eines Menschen, etwas, das man benötigt, um ein Urteil über seine Würde auszusprechen.
Ob der Pascha selbst mit dem Begriff einverstanden gewesen wäre, ist unklar. Vielleicht hätte er ihn für eines dieser fremd klingenden Konzepte gehalten, die ihn argwöhnisch machten, ein Wort, das hier und da in hitzigen Diskussionen darüber auftauchte, wer Würde besaß und wer nicht oder wo sie in der Welt zu finden war, was wiederum nach einer ganzen Theorie darüber verlangte, was damit eigentlich gemeint sei, ohne dass sich die Sache jemals abschließend klären ließe.
Im Gegensatz zu den meisten anderen hochrangigen Beamten der Hohen Pforte, die derlei Wörter zunehmend gedankenlos und in falschem Kontext verwendeten, blieb Ibrahim Pascha sich bis zum Schluss der damit verbundenen Gefahren bewusst. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - das alles klang unschuldig, tendierte aber zur Vermehrung und machte immer nur Ärger, erst recht bei unachtsamem Gebrauch. Vor allem nach dem Versuch einer sogenannten »Modernisierung« des Reiches - nach dem Reformedikt von Gülhane aus dem Jahr 1839, das einen neuen »Gesellschaftsvertrag« zwischen dem Sultan und seinen Untertanen begründen sollte - geriet die Tendenz komplett außer Kontrolle.
»Gesellschaftsvertrag« - noch so ein Wort, von dem kaum jemand wusste, was es bedeutete. Die Würde der Untertanen, die Würde der Obrigkeit, die von Gott verliehene Würde . Ibrahim Pascha verabscheute vor allem die Verwirrung, die solche Begriffe bei den niederen Beamten stifteten, bei einfachen Männern, die ihre Rolle anstandslos erfüllt hätten, wäre da nicht diese neue Sitte, ihre Aufgaben mit solchen Wörtern zu erklären.
Aber der Pascha hatte es längst aufgegeben, seine Kollegen überzeugen zu wollen. Er redete ohnehin wenig und in den letzten Jahren seines Lebens fast nur noch, um Anweisungen zu geben. Und eine dieser Anweisungen - er wünschte sich Baklava zum Abendessen - ...
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